„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 17. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Wie ich schon in meinem letzten Blogpost zur „Bürde“ ausführte, schreibt Nishitani in seinem Buch „Was ist Religion?“ (1986) von einem „Nicht-Tun“ (Nishitani 1986, S.379f., 386ff.), das er als ein freies Spiel beschreibt, also als ein als-ob-Tun. Das ähnelt dem, was Plessner mit Nietzsche als zweite Naivität bezeichnet. Nishitani ordnet das als-ob-Tun dem Feld der Leere zu: „Und in diesem Feld ist ständiges Tun (samskrta) ständiges Nicht-Tun (asamskrta).“ (Nishitani 1986, S.380)

Bei der Gleichsetzung von Tun mit dem Nicht-Tun im Feld der Lehre, in dem nicht mehr zwischen Ernst bzw. Arbeit und Spiel unterschieden wird, haben wir es mit einer besonderen ,Argumentationsweise‛ zu tun: mit der Verwendung von Paradoxa, die an sich keine Argumente sind, sondern nur als rhetorische Marker innerhalb einer argumentativen Auseinandersetzung Sinn machen. An dieser Stelle signalisiert ein Gesprächspartner, daß er jetzt bewußt von der logischen bzw. diskursiven Struktur einer regelkonformen Argumentation abweicht, um jemandem etwas zu denken zu geben.

Das Paradox markiert gewissermaßen eine Denkpause im Diskurs, ein Atemholen, in dem die Gesprächsteilnehmer sich frei für eine Intuition machen, die dem Gespräch eine andere Richtung geben könnte.

Bei Nishitani ist das anders. Bei ihm wird das Paradox selbst zum Argument. Seine Behauptungen haben durchgehend eine paradoxe Struktur, in der eine Aussage mit ihrer Gegenaussage, ein Begriff mit seinem Gegenbegriff konfrontiert wird, aber dann nicht wie in einem dialektischen Verfahren als These und Antithese auf einer neuen logischen Ebene in eine Synthese überführt werden. Vielmehr werden sie gleich als dieser Gegensatz, ohne dialektische Auflösung, als dasselbe identifiziert. Tun ist dann Nicht-Tun, Selbst ist Nicht-Selbst, Leben ist Tod und Tod ist Leben, schon als geborenes Leben und als sterbendes Leben in ein und demselben Moment einer Erleuchtung.

Das ist so auf dem Feld der Leere. Nicht so auf dem Feld des Bewußtseins, das der Dualität verfallen ist und wo Leben nicht Tod ist und Tod nicht Leben und wo alles Handeln etwas bewirkt und sogar Nicht-Handeln nicht ohne Wirkung bleibt. Das Bewußtsein kennt nur Dualität, das Feld der Leere hingegen hebt alle Unterschiede auf und Alles ist Eins.

Weil den Paradoxa jeder logische Impuls fehlt, wie er vor allem im Satz vom Widerspruch zum Ausdruck kommt, als etwas, das in der klassischen Logik nichts zu suchen hat, aber in der Dialektik zum Motor des Denkens wird, erschöpft sich Nishitanis ,Argumentation‛ in bloßen Benennungen und in bildhaften Veranschaulichungen, die er regelmäßig wiederholt, als könnten sie irgendetwas erklären. So ist z.B. bezüglich des Buddha-Feldes vom „Abfallen von Leib/Seele“, vom „ursprüngliche(n) Antlitz“, vom „sanfte(n) Geist“ und vom „samadhi des Selbstgenügens“ die Rede. (Vgl. Nishitani 1986, S.290) Diese unterschiedlichen Benennungen desselben Sachverhalts enthalten schon als Benennungen Bilder, die selbst oft wieder paradox sind, oder sie werden von ,erläuternden‛ Bildern begleitet. die eigentlich selbst noch einmal der Erläuterung bedürften, aber einfach so in den Gedankenraum gestellt werden, als wären sie, qua Anschauung, selbsterklärend. (Vgl. Nishitani, S.290f.) Wem dann aber die Anschauung nicht genügt, dem fehlt auch die Erleuchtung.

Das mag der Natur des Gegenstands geschuldet sein, der sich Nishitani zufolge der diskursiven Vernunft entzieht. Was mich aber mißtrauisch macht, ist die obsessive Berufung auf Autoritäten, etwa gegen Ende des Buchs die sich häufende Verwendung der Autoritätsformel „Buddha und die Patriarchen“ (vgl. Nishitani 1986, S.289f.u.ö.), die anscheinend den diskursiven Mangel wettmachen soll. Alle Benennungen und Bilder werden immer wieder bestimmten Autoritäten zugeordnet und in eine Tradition gestellt, die für die Legitimität der aufgestellten Behauptungen bürgen soll. Das erinnert mich sehr an die katholische Kirche. Nicht umsonst lautet der Buchtitel: „Was ist Religion?“

Paradoxe Formulierungen, die exzessive Bildsprache und die ständige Beschwörung von christlichen und buddhistischen Autoritäten können aber, anstatt sich darauf zu beschränken, gelegentlich eine produktive Denkpause in den Diskurs einzubauen, den Verstand auch ausschalten und uns dem manipulativen Einfluß vermeintlicher Autoritäten ausliefern. Dann haben wir es nur noch mit einer Pseudoargumentation zu tun, die sich darauf konzentriert, Behauptungen als Begriffe zu verkaufen, die weder logisch noch analytisch hergeleitet werden.

Selbst dort, wo ich in Nishitanis bildhaften und paradoxen Lehrformeln Anklänge zu meinem eigenen Denken finde, wird in der letzten Konsequenz nicht an die individuelle Urteilskompetenz von Leserinnen und Lesern appelliert, sondern jede Tendenz, in freier Verantwortung mitzudenken, durch autoritäre Schlußfolgerungen untergraben. Auf den letzten dreißig Seiten finde ich Formulierungen, die ich mit meinen Vorstellungen von Ich=Du und mit dem, was ich unter dem Willen verstehe, vereinbaren kann. Auf Ich=Du läuft folgendes Zitat hinaus:
„Im Feld der Leere gibt es keinen Unterschied zwischen der Selbstzentriertheit bzw. dem auf sich selbst gerichteten Dasein und dem Auf-Anderes-Gerichtetsein. In unserem Dasein selbst sind beide eine Aufgabe, eine Berufung.“ (Nishitani 1986, S.393)
Diesem Zitat kann ich ohne weiteres zustimmen und mit meiner Vorstellung von Ich=Du vereinbaren. Denn dieses Zitat sagt eine fundamentale Gleichheit zwischen mir und der bzw. dem Anderen aus, die sich im wechselseitigen Du als Ich bestätigen.

Dennoch beruht die Aussage dieses Zitats nicht auf einer Verhältnisbestimmung von Ich und Du, sondern auf der Behauptung einer „Nicht-Zweiheit von Selbst und Anderem“ (vgl. Nishitani 1986, S.393), weil Nishitani anders als ich alles Seiende in diese Beziehungsform mit einbezieht; also nicht nur Menschen, sondern auch alle lebenden Organismen und anorganische Materie. Diese Einbeziehung ist bei mir nur vermittelt über die menschliche Zweierbeziehung mitgedacht.

So weit so gut. Hier kommt eine legitime Differenz der Standpunkte zum Ausdruck. Beide Standpunkte haben ihre Berechtigung. Sie sind diskursfähig. Dann folgt aber auf derselben Seite diese Textstelle:
„Wenn dir ein Buddha begegnet, so töte ihn; wenn dir ein arhat (Heiliger ‒ DZ) begegnet, töte ihn; wenn dir Vater und Mutter begegnen, töte sie; wenn dir deine Verwandten begegnen, töte sie; erst dann wirst du Befreiung erlangen und in vollkommen unabhängigem Selbstsein leben, ohne in alle anderen Wesen verstrickt zu sein.“ (Nishitani 1986, S.393)
Das ist eine Unmenschlichkeitsformel, die dem Mißbrauch im Umgang zwischen den Menschen Tür und Tor öffnet. Ich denke z.B. an psychoanalytisch geschulte Therapeuten ‒ bei denen es dann übrigens tatsächlich angebracht wäre, sie zu töten ‒, die ihrer Klientel qua Gedächtnismanipulation (Gehirnwäsche) einreden, sie wäre von ihren Eltern manipuliert und mißbraucht worden und um sich selbst zu finden, müßte sie sie ,töten‛, sie also mit diesem Mißbrauchsvorwurf konfrontieren und für immer verlassen. Daß sich die Betroffenen oft gar nicht an den Mißbrauch erinnern können, gilt dann als Beleg dafür, daß der Mißbrauch stattgefunden hat, weil er verdrängt worden ist.

Auf diese Weise wird der Verstand der Menschen außer Kraft gesetzt. Einen ähnlichen Argumentationsmechanismus verwendet auch Nishitani mit seinen Paradoxa: das Paradox, daß etwas nicht etwas ist und gerade deshalb etwas ist, gilt dann als Beleg für die Tiefe, für die Authentizität, für die Wahrheit der Aussage. Je weniger wir eine Aussage mit unserem Verstand nachvollziehen können, um so wahrer und um so wichtiger ist sie für unser Leben.

Dieser Form der Selbstaufwertung einer Aussage durch eine gegenteilige Aussage, die für beide Teile der Aussage, für ihre Affirmation und für ihre Negation, gleiche Gültigkeit behauptet, bedient sich auch das folgende Zitat:
„Wahre Selbstzentriertheit bedeutet, daß durch die absolute Negation des Selbst, die in der Umkehrung vom Feld des nihilum zum Feld der Leere und vom Feld des karma zu dem des Nicht-Selbst entsteht, das Selbst absolutes Zentrum wird.“ (Nishitani 1986, S.394)
Das Paradox besteht also in der zusammengefaßten Formel: Selbst = Nicht-Selbst. Darin könnte man vielleicht auch wieder eine Entsprechung zu meiner Formel Ich = Du sehen. Tatsächlich aber zieht Nishitani aus seiner Formel den Schluß: „Da muß ein absolutes Töten des Selbst sein. Dieses Töten heißt auch das Töten der Buddhas und Patriarchen und alles Anderen.“ (Nishitani 1986, S.394)

Ich habe kein Problem mit dem ,Töten‛ von Autoritäten, jedenfalls nicht im übertragenen Sinne, sei es nun Buddha oder seien es die Patriarchen oder die katholischen Päpste. Aber gegen das Töten des Selbst und von allen und allem Anderen habe ich schon ein paar Einwände. Auch die Dialektik läßt Widersprüche gelten und arbeitet mit ihnen, aber anders als das Paradox. Das Paradox läßt den Widerspruch nicht einfach nur gelten, sondern läßt es unaufgelöst im Denkraum stehen. Er ist als solcher schon wahr. Vielleicht ist das der Grund, daß alles getötet werden muß? Bei Nishitani jedenfalls bedeutet das Paradox, daß wir die Widersprüche nicht nur einfach aushalten sollen, sondern daß wir töten sollen. Das ist Futter für Demagogen und Autokraten.

Auch Plessner will die Hiatus-Erfahrung nicht auflösen, sondern sie festhalten. Seine Antwort auf die Hiatus-Erfahrung, daß wir mit unserem Handeln, mit unseren Planungen, mit unserer Kontrolle in der Welt immer wieder scheitern, besteht darin, diese Erfahrung nicht einfach zu leugnen oder sie aufzulösen, sondern als Erfahrung festzuhalten. Diese Antwort auf die Hiatus-Erfahrung läuft aber nicht auf ein „absolute(s) Töten des Selbst“ hinaus, sondern meint seine exzentrische Positionierung, die eine neue Perspektive der Neutralität eröffnet. Also kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch. Innen und Außen, Selbst und Anderes sind Sichtweisen auf denselben Sachverhalt, wie er sich in unserem Körperleib manifestiert. Der Verstand wird nicht außer Kraft gesetzt. Er wird lediglich perspektiviert. Das ist Phänomenologie.

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