„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 13. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Wenn Nishitani im Titel seines Buchs fragt: „Was ist Religion?“ (1986), tritt er als vergleichender Religionsphilosoph auf. Die Vergleichsbasis bilden Christentum und Buddhismus, wobei Nishitani sich selbst dem Buddhismus zuordnet, aber gleichzeitig seine große Sympathie für das Christentum zum Ausdruck bringt. Zur Grundlage seiner Monographie macht er das „religiöse Bedürfnis“, denn das ist, so Nishitani, „der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Religion ist“. (Vgl. Nishitani (1986, S.40)

Nishitani befaßt sich mit diesem religiöse Bedürfnis allerdings nicht wissenschaftlich neutral. Anderen, nicht-religiösen Bestimmungen des Mensch-Weltverhältnisses macht er genau diese Abwendung von der Religion zum Vorwurf, indem er z.B. dem Atheismus und dem Humanismus, letzteren sieht er insbesondere in der Person von Jean-Paul Sartre verkörpert, Anmaßung vorwirft:
„Er (der Atheismus ‒ DZ) ist heute in den Rang des Substituts für die Religionen samt ihren Gottheiten erhoben. Er versucht, der menschlichen Existenz einen letzten Grund und dem menschlichen Leben einen Endzweck zu geben, er tritt mit dem Anspruch auf, er allein vertrete den Standpunkt, der dem Menschen wahrhaft adäquat sei. Wir finden dieses kennzeichnende Merkmal im Marxismus und im atheistischen Existenzialismus, für den Sartres Existentialismus als ein Humanismus ein Beispiel ist.“ (Nishitani 1986, S.78)
Nishitani vertauscht hier die geschichtlichen Rollen von Atheismus und Religion. Nicht der Atheismus betreibt Metaphysik. Der Atheismus mag durchaus dogmatische Standpunkte vertreten, die eine Metaphysik implizieren, aber es gibt viele verschiedene Ausprägungen des Atheismus, zu denen auch der Humanismus gehört. Und der Humanismus ist im Kern antimetaphysisch und undogmatisch, und er verzichtet explizit auf Letztbegründungen. Die einzigen Instanzen, deren wesentliche Kennzeichnung es ist, ein Monopol auf Letztbegründungsformeln in Anspruch zu nehmen, sind monotheistisch verfaßte Religionen.

Nishitani argumentiert also dem Atheismus und ineins damit auch dem Humanismus gegenüber unredlich. So wirft er z.B. Sartre vor, daß er den Menschen „durchweg in den Dimensionen des Bewußtseins“ versteht, schreibt dann aber: „Obwohl er meint, die ,Existenz‛ erwachse aus dem Nichts, hört er doch nicht auf, die Welt und die in ihr enthaltenen Dinge auf der Ebene des Bewußtseins auszulegen.“ (Nishitani 1986, S.113)

Was soll Sartre denn sonst tun, wenn er sich der „Welt und (den) in ihr enthaltenen Dinge(n)“ zuwendet? Die Welt ist für ihn ‒ und für mich übrigens auch ‒ nun mal ein Korrelatbegriff des Bewußtseins. Wer die Welt thematisiert, bewegt sich notwendigerweise und unvermeidbar „in den Dimensionen des Bewußtseins“. Hört der Buddhismus etwa auf, über die Welt zu reden, nur um zu vermeiden, damit auch über das Bewußtsein zu reden?

Tatsächlich verwendet auch Nishitani ausgiebig den Begriff der Welt, verortet ihn dann aber außerhalb des Bewußtseinsfeldes im „Feld der Leere“. Dazu hat Nishitani sein gutes Recht. Er kann die Begriffe so verwenden, wie es seinem Denken entspricht. Und genau dieses Recht hat auch Sartre. Aber in Sartres ‒ und meiner ‒ Perspektive ist es absurd, den Weltbegriff vom Bewußtseinsbegriff zu lösen und ihn so zu verorten wie Nishitani. Nishitani ist keineswegs verpflichtet, diesen Standpunkt zu teilen. Aber er ist als vergleichender Religionsphilosoph dazu verpflichtet, sich neutral und analytisch dazu zu verhalten.

Es ist dem Religionsphilosophen durchaus erlaubt, bestimmte Denkweisen zu fokussieren, wie etwa das Christentum und den Buddhismus. Aber hinsichtlich anderer Denkweisen hat er sich des Werturteils zu enthalten.

Um seinem Gegenstand, dem religiösen Bedürfnis im Christentum und im Buddhismus, gerecht zu werden, greift Nishitani zu ungewöhnlichen Mitteln. Wir haben es mit primär intuitiv begründeten Weltanschauungen zu tun, die mit einem diskursiv-analytischen Methodenrepertoire nur unzulänglich zu erfassen sind. Ein zentrales Moment christlicher und buddhistischer Praktiken besteht im Aufruf zur Umkehr und zur Erleuchtung, nicht auf dem argumentativen Umgang mit Dissens.

Um den Gehalt dieses Anliegens zu veranschaulichen und zu verinnerlichen, werden Geschichten erzählt, Lieder gesungen, Rituale praktiziert und, im Buddhismus, Koans geschrieben. Nishitani greift ausgiebig auf solche Sinn- und Lehrsprüche zurück. (Vgl. Nishitani 1986, S.105f.) Mit Koans bewegen wir uns im Bereich der Poesie, wiederum auf einer Ebene eines Bewußtseins, das anders funktioniert als die wissenschaftliche Rationalität der abendländischen Aufklärung. Aber der Zweck eines Koans bleibt immer noch die Mitteilung auf der Ebene des Bewußtseins. Sie ist eben eine Sprechweise, die sich insbesondere an der Grenze von Sagen und Meinen abarbeitet. Es mag zwar in einem Koan um Erleuchtung gehen, aber gerichtet ist er unter anderem auch an (noch) Unerleuchtete, und er bewegt sich damit im Bewußtseinsfeld. Deshalb sind hier wohl auch die vielen Paradoxa, mit denen Nishitani in seinem Buch arbeitet, eine angemessene Ausdrucksform, weil sie Kommunikation ermöglichen.

Aber eben keine rationale. Es macht keinen guten Sinn, wenn Nishitani immer wieder die religiöse Denkweise über die Rationalität atheistischen und humanistischen, letztlich wissenschaftlichen Denkens stellt und dazu auffordert, auf den Gebrauch des eigenen Verstandes zu verzichten. Es sollte bei einer Verhältnisbestimmung von Religion und Wissenschaft nicht um ein Ausschlußverhältnis gehen, sondern in erster Linie um eine Grenzbestimmung, die, wie ich finde, der Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften entspricht.

Unredlich finde ich auch den immer noch auf Sartre gerichteten Folgesatz (s.o.): „Daß die Konsequenzen seines Atheismus nicht den letzten Grund erreichen, wird an seiner Auffassung deutlich, der Existentialismus sei ein Humanismus.“ (Nishitani 1986, S.113)

In einer hier ebenfalls schon weiter oben zitierten Stelle hatte Nishitani dem Atheismus noch vorgeworfen, „der menschlichen Existenz einen letzten Grund und dem menschlichen Leben einen Endzweck zu geben“. (Vgl. Nishitani 1986, S.78) Jetzt wirft er Sartre vor, den letzten Grund des Atheismus nicht zu erreichen; also ihn nicht vollständig zuende zu denken.

Was soll jetzt gelten? Ist die Frage nach dem letzten Grund im Rahmen einer nicht religiösen Denkweise nun legitim oder ist sie Ausdruck einer intellektuellen Anmaßung? Zugegeben, einen ,letzten Grund‛ kann es in zwei Richtungen geben: in Richtung letzte Ursache und in Richtung auf einen Endzweck. Aber beide Richtungen sind erstmal legitime Denkziele, ob nun religiös oder nicht religiös motiviert, und letztlich kommt es vor allem darauf an, welche Konsequenzen man aus den jeweiligen Einsichten zieht. Nishitani verzichtet aber auf eine entsprechende Differenzierung seines Vorwurfs. Mal will er dem Humanismus solche Fragen verbieten, dann wieder wirft er ihm vor, daß er sie nicht stellt.

Bei Nietzsche macht Nishitani dann übrigens wieder eine Ausnahme. Nietzsche ist zwar kein Humanist, aber doch ein Atheist. Und ihm gesteht er zu, was er Sartre abspricht:
„Durch Nietzsche hingegen ist der Atheismus wahrhaft bis zum Grund ,subjektiviert‛ worden. Das Nichts, indem es zum Ort der ,Ekstasis‛ des eigentlichen Selbstseins wurde, erhielt Transzendenz-Charakter; der Mensch in seiner Freiheit und Selbständigkeit sah sich radikal mit seinem wesenhaften Abhängigsein von Gott konfrontiert.“ (Nishitani 1986, S.113).
Warum darf der Atheist Nietzsche, was der Atheismus sonst eigentlich nicht darf? ‒ Weil Nietzsche zwar Gott für tot erklärt hat, aber, so Nishitani, in seinem Denken weiterhin abhängig von der Frage nach Gott geblieben ist. Bei ihm ist noch ein religiöses Bedürfnis erkennbar.

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