„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 15. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Mit diesem Blogpost gehe ich ein ziemliches Wagnis ein. Ich nehme hier zu einem Thema Stellung, das für mich absolut rätselhaft ist und das ich, so Nishitani, sowieso nicht verstehen kann, weil ich mich immer nur im Bewußtseinsfeld befinde und nicht erleuchtet bin. Um doch etwas dazu schreiben zu können, zumindest innerhalb meiner beschränkten Perspektive, habe ich mir deshalb unter den vielen Bildern und paradoxen Lehrsprüchen, die Nishitani verwendet, um sein buddhistisches Wissen und buddhistische Praktiken zu veranschaulichen, die Kreismetapher ausgewählt, weil ich mit ihr auf einer intuitiven Ebene etwas anfangen kann. Dennoch bin ich mir sehr wohl bewußt, daß ich mich dabei nur im Bereich meiner europäisch-abendländischen Lebenswelt bewege und deshalb mit meinen ganz anderen Erfahrungshintergründen wie ein Blinder von der Farbe reden kann. Und natürlich weiß ich auch nicht, was ein Blinder wirklich sehen kann, und ich will hier niemanden diskriminieren.

Die Kreismetapher taucht erstmals in einem Zusammenhang auf, wo Nishitani zwischen verschiedenen Jenseits-Vorstellungen unterschiedet. (Vgl. Nishitani 1986, s.180ff.) In seinem Buch dreht sich eigentlich immer alles um drei Stufen des Wissens mit ihren unterschiedlichen Horizonten. Bei diesen drei Stufen handelt es sich um das Feld des Bewußtseins, das Feld des nihilum und das Feld der Leere. Das Feld des Bewußtseins ist durch eine in allen Bereichen des Lebens und Denkens gehende Spaltung, eine „Dualität“, gekennzeichnet, auf die ich in einem späteren Blogpost noch einmal gesondert eingehen werde. Was jetzt die Kreismetapher betrifft, besteht diese Dualität in der Gegenüberstellung von Diesseits und Jenseits.

Der ,Kreis‛ besteht nun in der Horizontlinie, zunächst wie sie sich für ein Lebewesen im zweidimensionalen Raum präsentiert, wenn es sich um 360° um sich selbst dreht. Diese waagerechte Kreisfläche ist das Diesseits, also die Lebenswelt eines zweidimensionalen Lebewesens; so eins wie ich. Die vertikale Linie, die mitten durch meinen Standort und meine Person hindurch die waagerechte Fläche um 90° durchbricht, eröffnet ein Jenseits, das, wenn ich ‒ bleiben wir bei meiner Person ‒ nach oben schaue, der Himmel über mir ist, in dessen leeren Raum hinein ich meine Götter bzw. meinen Gott projiziere. Das ist das Feld des Bewußtseins.

Aber dabei bleibt es nicht, denn unter mir habe ich die Erde, also wieder die waagerechte Kreisfläche. Und wenn ich nach unten sehe, kann ich auch die vertikale Linie nach unten hin fortsetzen. Und wieder tut sich mir ein Jenseits auf: der Abgrund oder die Hölle mit ihren Dämonen und ihren Verdammten. Auch dieser Abgrund ist eine andere Dimension, und indem ich mich ihm zuwende, durchbreche ich nicht einfach nur den Boden unter meinen Füßen, ich durchbreche auch mein flächenhaftes Bewußtsein nach unten hin oder wie Nishitani es lieber ausdrückt: der Tod durchbricht mein Bewußtsein von unten her und mir wird bewußt, daß alles nichtig ist. Das ist das Feld des nihilum.

Die vertikalen Linien nach oben und unten bilden zusammen den Durchmesser eines neuen Kreises. Mit der Erkenntnis, daß Geburt und Tod, Leben und Sterben eins sind, erreichen wir im Feld des nihilum eine neue Seinsform, einen neuen Umkreis vertikal zur flachen Horizontlinie. Allerdings befinden wir uns mit den zwei zu 180° sich summierenden 90°-Wendungen nach oben und nach unten, trotz des Durchbruchs ‒ nicht wir durchbrechen das Bewußtseinsfeld nach draußen, sondern von außen bricht das nihilum ins Bewußtseinsfeld herein ‒ immer noch im Feld des Bewußtseins und damit innerhalb der Dualität von Diesseits und Jenseits, von Innen und Außen.

Es bedarf einer dritten Wendung bzw. Drehung, in der die 180° zu 360° hin überstiegen und der Kreis zur Null wird; also zu 0°. Wie jede Kreislinie kehrt auch diese zu sich selbst zurück und erst jetzt wird die perspektivische Weltsicht des flächenhaften Lebewesens erst wirklich überwunden, so daß es ‒ das ich sein könnte, wenn ich erleuchtet wäre ‒ jetzt alles so sehen kann, wie es wirklich ist.

Allerdings haben wir es bei dieser 360°-Wendung nicht mehr mit einem flächenhaften Kreis zu tun. Vielleicht stellen wir uns jetzt besser ein kreisrundes weißes Pappschild vor, dessen zentrale Achse aus einem dünnen Stab besteht, der oben und unten ein Stückweit aus dem Pappschild herausschaut. Wenn wir nun diese beiden Stabenden in die Hand nehmen, können wir das Pappschild um sich selbst drehen, wie ein Windspiel, vor und zurück, mal ist die eine Seite vorn, mal die andere. Wir lassen also das Pappschild 360° um sich selbst drehen.

Nishitani schreibt: „Dies ist vergleichbar mit dem Umdrehen einer Leinwand, auf der unterschiedliche himmlische und irdische Schauplätze abgebildet sind, von der Vorder- auf die Rückseite.“ (Nishitani 1986, S.182) Damit drückt dieses Beispiel anschaulich aus, wie die beschränkte Perspektive des zweidimensionalen Wesens überwunden wird. Es sieht jetzt alle Seiten, Vorder- und Rückseiten, Diesseits und Jenseits, in einer dritten Dimension gleichzeitig. Es sieht jetzt alles, so wie es ist.

Es ist mit diesem Bild wie mit allen Bildern, die Nishitani verwendet. Es erklärt nichts. Es macht nur anschaulich. Das ist leider schon alles. Um wirklich zu verstehen, was Nishitani schreibt, und um beurteilen zu können, ob das richtig ist, was er schreibt, muß man erleuchtet sein. Auch darauf werde ich noch mal zurückkommen: in einem der folgenden Blogposts.

An anderer Stelle dient die Kreismetapher zur Veranschaulichung von Nishitanis Behauptung, daß im Feld der Leere alle Dinge zugleich Zentrum sind und ein einziges identisches Ding. (Vgl. Nishitani 1986, S.236) Der Kreis, an den Nishitani hier denkt, hat keinen festgelegten Umfang. Wir können uns immer noch einen größeren Umfang denken und die Kreislinie immer weiter nach außen verschieben, bis sich die Kreislinie im Unendlichen wölbt. (Vgl. Nishitani 1986, S.232-236) Auf diese Weise, wo sich alles im Zentrum dieses imaginären Kreises befindet und nirgendwo eine bestimmte Kreislinie festgelegt ist, ist dann alles Zentrum und alle Standorte sind Eins.

Plessner hat für diesen Standort eine Formel gefunden, die Nishitanis „Feld der Leere“ ähnelt und der ich zustimmen kann. Ausgehend davon, daß der Mensch keine Mitte hat, also im Gegensatz zu Nishitani, für den im Zustand der Erleuchtung Mitte und Authentizität „leibhafte Erfahrungen“ sind (vgl. Nishitani 1986, S.215f.), verortet Plessner den Menschen exzentrisch im „Nirgendwo“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975), S.229) Dieser Standort ermöglicht dem Menschen eine umfassende, perspektivische Neutralität zwischen Innen und Außen. Neutralität ist etwas anderes als Identität. Es geht Plessner vielmehr darum, den Menschen in der Schwebe zwischen innen und außen zu verorten. Es ist nicht das Zentrum eines Kreises, das seinen Standpunkt kennzeichnet, sondern die Peripherie, die im Falle des Kreises eine Kreislinie ist; und die zwar eine Grenzlinie bildet, die aber, wie alle Linien, unendlich dünn ist. Sie bildet also eine unendlich dünne Grenzlinie zwischen Innen und Außen, zwischen uns und den Dingen.

In diesem Sinne befindet sich der Standpunkt des Menschen im Nirgendwo. Das Zentrum bildet eine Projektion des sich auf der Grenzlinie zwischen Innen und Außen bewegenden menschlichen Bewußtseins; denn als Wesen ohne Mitte projizieren wir uns von unserem peripheren Standpunkt aus in eine gedachte Mitte in einen gedachten Kreis hinein. Es handelt sich um eine Als-ob-Mitte in einem Als-ob-Kreis; um eine zweite Naivität.

Ein persönliches Erlebnis


Noch einmal zurück zu Nishitani und seinen unendlich vielen Zentren in einem unendlich großen Kreis, dem Feld der Leere. Bevor Nishitani zu diesem unendlichen Kreis kommt, beschreibt er einen einzelnen Kreis mit einem einzelnen Zentrum, einem Ding oder Menschen, dessen Radius vom Kreiszentrum aus auf einen bestimmten Punkt auf der Kreislinie zielt. Stellen wir uns vor, welche Power dieser Radius hat. Von dem einzelnen Zentrum können unendlich viele Radien in alle Richtung ausgehen und überall auf die Kreislinie treffen. Die unendlich vielen Radien, die von einem einzelnen Zentrum, Mensch oder Ding, ausgehen, haben eine explosive (zentrifugale) Strahlkraft, die die Peripherie immer weiter vom Zentrum wegtreibt, hin zu wiederum unendlich vielen weiteren, umfassenderen Kreislinien: „... jeder Punkt auf dem Kreis (enthält) eine Richtung(), in die er unendlich weit streben kann(.)“ (Nishitani 1986, S.232)

Alle Radien zusammen bilden das gewaltige Ego des Dings im Zentrum, das sich immer weiter aufbläht, und die Richtung ihrer Strahlkraft geht nach außen. Wir haben es hier wieder mit einem Bewußtseinsfeld zu tun.

Im Feld der Leere, also des unendlich großen, alle kleineren Kreis in sich enthaltenden Kreises, ist die Richtung eine andere. Dort ist die Mitte des Kreises ein Magnet, das alle Dinge von der Peripherie an sich zieht, sie veranlaßt, sich in ihm, in ihrem Zentrum, zu versammeln und Eins zu werden. Nishitani nennt das „Reduzieren“: aus Allem wird Eins, und die Subjekt-Objekt-Spaltung wird aufgehoben. Die unendliche Vielheit der Punkte auf der Kreislinie wird auf einen einzigen zentralen Punkt reduziert. Heidegger nennt das „nichten“: aus Seiendem wird Sein. Reduktion ist Nishitanis Wort für Heideggers Nichtung.

Der mit der Kreismetapher verbundene Begriff der Reduktion ruft in mir eine Wahrnehmungserinnerung, eine poetische Erfahrung wach, auf die ich jetzt am Schluß dieses Blogposts noch einmal zu sprechen kommen möchte. Über das „Feld der Leere“ heißt es nämlich: „... das Feld der Leere ist, wenn wir zu unserem Vergleich (mit dem Kreis ‒ DZ) zurückkehren, ein unendlicher Raum bzw. Leerraum, in dem Kreis und Tangenten entstehen. Deshalb hat es selbst keinerlei Begrenzungen oder Richtungen. Die Dinge sind hier in ihrem An-sich-Sein, wie tief sie auch in den Mittelpunkt, in dem ,alles eins ist‛, verwurzelt sind, nicht auf das Eine reduziert, in dem alle Vielheit und Unterschiedenheit eliminiert ist.“ (Nishitani 1986, S.235)

Als ich diese Textstelle las fiel mir ein oft gemachtes Erlebnis ein, über das ich oft nachgedacht habe. Wenn ich eine Lichtspur auf dem Wasser einer Meeresküste oder auf einem See vom Horizont her auf mich zukommen sehe, morgens oder abends von der Sonne, nachts vom Mond, dann ist der Rest der Wasseroberfläche, wenn es Nacht ist, dunkel. Es ist als gäbe es diesen Lichtstrahl nur für mich.

Dennoch sieht jeder andere an dieser Meeresküste, an diesem Seeufer denselben Lichtstrahl auch auf sich zustreben, als beträfe er nur ihn oder sie und niemand sonst.

Wenn ich mich von der Stelle fortbewege, an der Küste, am Ufer entlang, wandert der Lichtstrahl mit mir mit. Und es wandert immer nur dieser eine Lichtstrahl mit, während der ganze gewaltige Rest der unermeßlichen Wasseroberfläche dunkel bleibt. ‒ Woran liegt das? Es liegt daran, daß in Wahrheit die ganze Wasseroberfläche erleuchtet ist, ich aber aufgrund meiner Perspektive nur diesen einzelnen Lichtstrahl sehen kann. Und wenn ich mich von der Stelle wegbegebe, verändert sich auch meine Perspektive, so daß der Lichtstrahl mit meiner sich verändernden Perspektive ,mitwandert‛.

So in etwa stelle ich mir jetzt den unendlichen Leerraum vor, von dem Nishitani mit Bezug auf das Feld der Leere spricht. Der Mittelpunkt der Dinge ist auf dieselbe Weise im Feld der Leere ,versammelt‛, wie das Licht des Mondes oder der Sonne auf der Wasseroberfläche ,zerstreut‛ ist. Damit aber wären wir wieder bei Plessner. Die Sammlung des Lichtstrahls ist der bündelnden Kraft einer Linse geschuldet, die sich im Auge eines Betrachters befindet, dessen Standort im Nirgendwo liegt. Die Phänomenologie hat eine Optik und bleibt eine Optik. Nur die Ontologen fliehen das Licht und graben in die Tiefe.

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