„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe

Foucault weist mehrfach ausdrücklich darauf hin, daß wir es bei der Moral der griechischen Antike mit einer Männermoral zu tun haben. Vgl. SuW 2, S.63, 88ff., 110) Das betrifft natürlich ganz besonders die Sexualmoral. Eine solche Moral schließt Frauen, Sklaven und darüberhinaus alle, die keine wohlhabenden Grundbesitzer sind, aus, und gilt nur für die kleine Gruppe der freien Männer, die es sich leisten können, sich um sich selbst zu kümmern.

Allerdings kümmert sich die Männermoral nicht nur um diese Männer, sondern sie richtet sich auch gegen jedes einzelne männliche Individuum in dieser Gruppe, das zu sich selbst in ein „agonistisches Verhältnis“ treten muß (vgl. SuW 2, S.87): „In dieser Männermoral, die für Männer gemacht ist, besteht die Erarbeitung seiner selbst als Moralsubjekt darin, von sich selber eine Struktur von Männlichkeit zu errichten: indem man im Verhältnis zu sich Mann ist, wird man die Mannestätigkeit kontrollieren und meistern können, die man in der sexuellen Praxis anderen gegenüber ausübt.“ (SuW 2, S.110)

Wer andere kontrollieren und über sie herrschen will, muß zunächst sich selbst kontrollieren und über sich herrschen. Die Griechen verwendeten in diesem Zusammenhang gerne eine Kriegsrhetorik. Eine scheinbar harmlose Kennzeichnung der „Haltung sich selber gegenüber“ als „polemisch“ (vgl. SuW 2, S.88) entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Bekenntnis zur Gewalt, da ,Polemik‛ auf griechisch der Krieg ist. Es ist ganz offen von der „Schlacht“ gegen die „wilden Kräfte des Begehrens“ die Rede. (Vgl. SuW 2, S.89) Und wenn Platon das Paradox, daß man gleichzeitig „stärker“ und „schwä­cher“ „als man selbst“ sein könne, dahingehend auflöst, daß man es hier eben mit „zwei Teilen der Seele“ zu tun habe, mit „einem besseren und einem weniger guten“ (vgl. SuW 2, S.91), dann wird klar, daß in dieser psychischen Dynamik der Wille des Menschen sich gegen sich selber richtet, und zwar der Tendenz nach bis „zur vollständigen Ausrottung oder Austreibung der Begierden“ (vgl. SuW 2, S.92).

In der griechischen Männermoral wird also immer Krieg geführt; nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen einen besonderen inneren Feind: sich selbst.

Zwar gibt es auch im Plessnerschen „Körperleib“ einen „Streit“ zwischen dem Menschen und seinem Körper. Aber der Grund für diesen Streit liegt nicht in der Natur der Bedürfnisse und Begehrungen selbst, sondern in den anachronistischen Dynamiken verschiedener Entwicklungsebenen, der Biologie, der Gesellschaft und des Individuums, die sich gegenseitig zu dominieren versuchen.

Im griechischen Denken hat der gegen sich selbst gerichtete Wille eine andere Struktur als im Christentum. Der christliche Wille nimmt einen Umweg über Gott und verkehrt sich so in einen Willen, der das eigene Wollen verneint. Der griechische Wille macht keine Umwege. Er wendet sich vielmehr vom begehrten Objekt ab und bleibt bei sich selbst, um so das eigene Wollen zum Objekt zu machen (Platons zweigeteilte Seele; vgl. SuW 2, S.91). Der griechische Wille begehrt nicht das begehrte Objekt (den anderen Menschen), das seinen eigenen Willen und sein eigenes Begehren hat, sondern das eigene Begehren, als etwas, das er so beherrschen können muß, wie er das begehrte Objekt beherrscht. Diese Selbstbeherrschung hat die Form der Selbstverneinung. Dasselbe Ergebnis also wie im Christentum.

So warnt z.B. Aristoteles: „Das Begehren nach Lust ist unersättlich, und beim vernunftlosen Wesen wird es von allem gereizt“ (vgl. Zitat in: SuW 2, S.115), weshalb er eine „praktische Vernunft“ fordert, die „bestimmen kann, was man tun soll, wie man es tun soll, wann man es tun soll“ (vgl. Zitat ebenda). Unmäßigkeit besteht deshalb zwar einerseits darin, das Maß der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung zu überschreiten, was eine Anerkennung ihrer Legitimität impliziert. Zugleich läuft es aber auch auf eine Unterwerfung der Bedürfnisse unter die Kontrolle der Vernunft hinaus: „Während beim Unmäßigen die begehrende Macht die Vorherrschaft an sich reißt und die Tyrannei ausübt, ist es beim (Weisen) die Vernunft, die befiehlt und vorschreibt, entsprechend der Struktur des Menschenwesens ...“ (Vgl. SuW 2, S.115)

Mit anderen Worten: unser Begehren gehorcht unserer Vernunft. Ob man das Begehren nun für etwas grundsätzlich Gutes, weil Natürliches hält, wie die Griechen, oder für etwas zutiefst Verdorbenes und Schlechtes, wie die Christen, ist angesichts des Primats der Vernunft nur ein gradueller Unterschied. Die frühen Christen jedenfalls hatten keine Probleme, die Diätetik der antiken Philosophen eins zu eins zu übernehmen und zugleich eine zweitausendjährige Geschichte der Unterdrückung des ‚Fleisches‛ zu begründen. Wenn dann jemand wie Joseph Jacotot (1770-1840) postuliert, daß der Mensch ein Wille sei, dem die Intelligenz dient, wird angesichts dieser Geschichte deutlich, was für einen die moralischen Fundamente erschütternden Umsturz das bedeutet.

Dennoch bleibt es weiterhin die Aufgabe einer praktischen Vernunft, die „geeigneten Umstände“ zu bestimmen, unter denen sich unsere Begehrungen erfüllen können, und die Diätetik als ein Wissen darüber zu verstehen, wie wir „Gebrauch von den Lüsten machen“ können (vgl. SuW 2, S.116), ohne uns selbst oder anderen zu schaden. So ist es z.B. der falsche „logos“, die ,Vernunft‛ einer Männermoral, unsere Lüste so auszuleben, daß wir uns nur um uns selbst sorgen, ohne Rücksicht auf andere: „in der Form der ontologischen Anerkennung seiner durch sich“, wie Foucault schreibt. (Vgl. SuW 2, S.116)

Wo immer wir uns auf eine gemeinsame Praktik unserer Geschlechtslust einlassen, geht es nicht mehr um uns selbst, sondern um des anderen willen um uns selbst. Ohne Selbsterkenntnis und ohne Vernunft muß das mißlingen. Aber ohne unser Begehren gäbe es diese gemeinsame Praktik nicht.

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