„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 6. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit

Die kulturellen Veränderungen im Vergleich zum fünften und vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung sind in den letzten beiden vorchristlichen und in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten, in der „Kaiserzeit“, wie Foucault sie pauschal nennt, nur gering: „eine lebhaftere Aufmerksamkeit, erhöhte Unruhe gegenüber dem sexuellen Verhalten, gesteigerte Bedeutung der Ehe und ihrer Erfordernisse und geringeres Interesse an der Knabenliebe“. (SuW 3, S.51)

Foucault hebt vor allem die gewachsene Bedeutung der „Kultur seiner selber“ hervor, die für das Primat der individuellen Lebensführung gegenüber gesellschaftlichen Interessen steht, ohne allerdings auf einen eigensinnigen Individualismus hinauszulaufen: „Die Forderungen nach sexueller Strenge, die in der Kaiserzeit erhoben wurden, scheinen nicht Anzeichen eines zunehmenden Individualismus gewesen zu sein. Ihren Kontext bezeichnet vielmehr ein Phänomen von ziemlich langer historischer Tragweite, das aber zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt erreichte: die Entwicklung dessen, was man eine ,Kultur seiner selber‛ nennen könnte, in welcher die Beziehungen eines zu sich selber intensiviert und aufgewertet worden sind.“ (SuW 3, S.60)

Die Veränderungen in diesem Bereich betreffen eine gewachsene Bedeutung der Ehe für die Beziehung zwischen Zweien und eine entsprechend geringere Bedeutung der Knabenliebe. Die pädophile Erotik steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses und damit auch nicht die damit verbundene pädagogische Praxis, für die das Jugendalter vor dem Übergang zum jungen Erwachsenen als wichtige Vorbereitungszeit auf die künftige Regierung in Haushalt und Polis gegolten hatte. In seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) hebt Foucault das gestiegene Interesse der Kaiserzeit am „gesamten Leben“ des Individuums, einschließlich des Alters, hervor. (Vgl. Foucault 2004, S.117, 124, 146ff.) Außerdem waren es nicht mehr ausschließlich die wohlhabenden Großgrundbesitzer, die als exklusive Subjekte einer Lebensführung vorgesehen waren, in der sich um sich selbst gesorgt wird. Der Adressatenkreis für die Sorge um sich selbst dehnte sich auf alle Menschen aus und wurde so universalisiert. (Vgl. Foucault 2004, S.148ff.)

Interessant für mich ist hier, daß Foucault der Sorge um sich selbst, als deren Ziel Seneca vor allem den gesicherten „Besitz“ seiner selbst hervorhebt, „dauernd und frei von jedem Angstgefühl“ (vgl. SuW 3, S.90f.), die Freude an sich selbst zur Seite stellt: „Und die Selbsterfahrung, die sich in diesem Besitz bildet, ist nicht einfach die einer beherrschten Kraft oder einer Souveränität über eine aufrührerische Macht; es ist die Erfahrung einer Freude, die man an sich selber hat.“ (SuW 3, S.91)

Diese Differenzierung zwischen einer „beherrschten Kraft“, der „Souveränität über eine aufrührerische Macht“ einerseits und einer von solchen Ambitionen ungetrübten Freude an sich selber andererseits öffnet den Blick für eine Verhältnisbestimmung von Wille und Vernunft, wie sie in Joseph Jacotots anthropologischer Formel zum Ausdruck kommt: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Vgl. „Der unwissende Lehrmeister“ (2007) von Jacques Rancière, S.66) ‒ Hier sind unsere Gefühle keine fremde aufrührerische Macht mehr und unsere Intelligenz ist kein Souverän. Ich werde gleich noch weiter darauf eingehen.

Dieser aus uns selbst kommenden Freude konfrontiert Foucault eine Freude, die uns mit anderen Menschen verbindet, eine „in sich prekäre Freude, unterhöhlt durch die Furcht vor dem Entzug und erstrebt mit der Kraft des Begehrens, dem Befriedigung versagt bleiben kann“. (Vgl. SuW 3, S.91) ‒ Der andere Mensch ist kein sicherer Besitz. Er hat sein eigenes Begehren und seinen eigenen Willen.

Zwischenbemerkung: Wir haben es hier mit der Freude einer prekären Zweiheit zu tun, zu der nach meiner Auffassung der freie und gleiche Wechselbezug zwischen Ich und Du gehört, die keine Verschmelzung zuläßt um der Einzigartigkeit des Ich willen beiderseits des Gleichheitszeichens. Wer aber nicht bereit ist, das innere Gleichgewicht der Freude an sich selbst für die prekäre Gleichheit von Ich = Du zu öffnen, wird letztlich auch die Freude an sich verlieren.

Genau das ist es aber, was Seneca seinem Freund Lucilius rät. Lucilius soll sich der Welt gegenüber und seinen Mitmenschen gegenüber abschließen, denn der einzige Gegenstand, den er verläßlich und dauerhaft wollen kann, ist er selbst. (Vgl. Foucault 2004, S.173)

Weiter mit Foucault: Was die ,Wahrheit‛ betrifft, wird mit ihr, nicht anders als in der griechischen Antike, auch in der Kaiserzeit die Frage nach der individuellen Identität verbunden; ontologisch ausgedrückt: die „Seinsweise“ eines Menschen. Wie schon gesagt, ist diese Frage nicht mehr auf einige wenige wohlhabende Grundbesitzer beschränkt. Den Umbruch in der Auffassung von ,Wahrheit‛ von der vorchristlichen Antike zur Kaiserzeit nach Beginn der christlichen Zeitrechnung beschreibt Foucault mit folgenden Worten: „Während die alte Ethik eine sehr enge Verbindung der Macht über sich und der Macht über die anderen implizierte und sich mithin auf eine Ästhetik des Lebens in Einklang mit dem Stand richtete, erschweren die neuen Regeln des politischen Spiels die Definition der Beziehungen zwischen dem, was man tun kann, und dem, was man vollbringen soll; die Konstitution seiner selbst als ethischen Subjekts seiner eigenen Handlungen wird problematischer.“ (SuW 3, S.114f.)

Und nochmal an anderer Stelle: „Es ging darum, eine Ethik zu erarbeiten, die es erlaubte, sich selbst im Verhältnis zu diesen gesellschaftlichen, bürgerlichen und politischen Tätigkeiten, welche verschiedene Formen sie auch annahmen und in welchem Abstand man sich davon halten mochte, als Moralsubjekt zu konstituieren.“ (SuW 3, S.128)

Es gibt also im Übergang von der vorchristlichen Antike zu den ersten beiden Jahrhunderten nach Beginn unserer Zeitrechnung aufgrund der gelockerten Beziehung zwischen öffentlichen Macht- und privaten Lebensverhältnissen eine Krise der Wahrheit, im Sinne einer „Krise des Subjekts“ als „Schwierigkeit in der Art und Weise, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner Verhaltensweisen konstituieren kann“, und als Anstrengung, „in der Wendung auf sich das zu finden, was ihm erlaubt, sich Regeln zu unterwerfen und seiner Existenz Ziele zu geben.“ (SuW 3, S.129)

Wo sich die Menschen nicht mehr an den Zielbestimmungen einer vorgegebenen Gesellschaftsordnung orientieren können, müssen sie versuchen, in sich selbst Hinweise auf eine sinnvolle Lebensführung zu finden. Für eine Diätetik bedeutet das: „Die vernünftige Seele muß mithin eine doppelte Rolle spielen: sie muß dem Körper eine Diät zuweisen, die tatsächlich von seinem Zustand und seinen Lebensumständen ausgeht, doch wird sie sie nur dann richtig zuweisen, wenn sie an ihr selber eine umfassende Arbeit vorgenommen hat: wenn sie die Irrtümer ausgeschaltet, die Begierden gemeistert hat, die sie das nüchterne Gesetz des Körpers verkennen lassen.“ (SuW 3, S.175f.)

In einer solchen Diätetik rücken die Vorstellungen, die Phantasie, ins Zentrum einer Sorge um sich selbst. Wir haben es nicht mehr einfach nur mit der Problematik eines äußeren Umständen anzupassenden Verhaltens und der entsprechenden Sorge zu tun. Es ist die Seele in uns, die in Gefahr ist, „sich von Vorstellungen hinreißen (zu lassen), die ihr eigen sind und keinerlei Entsprechung im Organismus haben“. (Vgl. SuW 3, S.178) ‒ Losgelöst vom Körper sind es nur „(e)itle und leere () Vorstellungen“, wie Foucault schreibt.

Wenn Inneres und Äußeres auseinander treten, weil Gesellschaftsordnung und individuelle Lebensführung nicht mehr vereinbar sind, müssen Seele und Körper ein neues Verhältnis zueinander finden; und das ist jetzt nicht mehr agonistisch: „So wenig der Körper sich betören darf ohne das Gegenstück eines Begehrens in der Seele, darf diese über das hinausgehen, was der Körper verlangt, und seine Bedürfnisse diktieren.“ (SuW 3, S.177f.) ‒ Wo die körperlichen Regungen einer seelischen Entsprechung bedürfen und die ‚Seele‛ (Vernunft) wiederum ihr Maß in den körperlichen Bedürfnissen findet, liegt der Gedanke an einer herrschaftsfreien Körperleibbestimmung nahe.

Rufus von Ephesos, ein griechischer Arzt um 100 nach Beginn der christlichen Zeitrechnung, auf dessen Konzept einer neuen Diätetik sich Foucault bezieht, unterscheidet in diesem Sinne zwischen den ursprünglichen Begierden des Körpers und den Irrtümern und den eitlen Vorstellungen der Seele, die sich nicht an den Körper hält, sondern sich ‒ das scheint mir eine naheliegende Schlußfolgerung zu sein ‒ von Vorstellungen und Angeboten, Verlockungen der Gesellschaft, beeinflussen läßt. Ich denke, man kann ihn auch so verstehen, daß das zu einer wachsenden Zahl von künstlichen, sekundären Bedürfnissen führt, die an die Stelle unserer eigenen, dem eigenen Körper entspringenden Bedürfnisse treten.

Eine Textstelle aus der „Hermeneutik des Subjekts“ (2004), in der Foucault mit Bezug auf Seneca (1-65) den Begriff der Stultitia erläutert, unterstützt meine Schlußfolgerung: „,Stultus‛ ist derjenige, der sich allen äußeren Anreizen aussetzt, für die äußere Welt offen ist, d.h. derjenige, der alle Vorstellungen, die ihm die äußere Welt zu bieten hat, in seinen Geist einläßt. Er nimmt diese Vorstellungen an, ohne zu prüfen, was sie vorstellen.“ (Foucault 2004, S.171) ‒ Auf die Ambivalenz dieser Weltfeindlichkeit, die einerseits der Weltfeindlichkeit des frühen Christentums ähnelt, mich aber auch an Rousseaus Konzept von den drei Lehrmeistern im „Émile“ (1760) erinnert, werde ich in einem Exkurs, „stultitia und sapientia“, eingehen, als Hinführung zum Blogpost über „Unwillkürlichkeit und Willkür“.

Folgt man Seneca, bedarf es jedenfalls einer Diätetik, mit deren Hilfe wir zwischen künstlichen und echten Bedürfnissen unterscheiden lernen und alle unsere Bedürfnisse ihrem Rang und ihren Gelegenheiten entsprechend ordnen können.

An dieser Stelle kommt es sogar zu einer Umkehrung des ursprünglichen Primats der Seele (Vernunft): „Die Formel dazu liefert Rufus: ,die Seele unterwerfen und sie dem Körper gehorchen lassen‛.() Ein paradoxes Wort, denkt man an das traditionelle Thema, wonach die Seele sich nicht von den Lockungen des Körpers soll betören lassen.“ (SuW 3, S.178)

Foucault glaubt aber, daß diese Formel ihre eigene Metaphysik hat: „Die freiwillige Unterwerfung unter den Körper muß verstanden werden als das Horchen auf eine Vernunft, die der natürlichen Ordnung vorausging und die zu ihren Zwecken die Mechanik des Körpers eingerichtet hat.“ (SuW 3, S.178)

Letztlich also dienen Seele und Körper dann doch wieder einer ontologisch verfaßten Vernunft. Wir horchen nicht etwa auf unser Begehren, sondern auf eine ursprüngliche, wenn nicht gar göttliche Vernunft hinter dem Begehren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen