Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
Die Erotik der griechischen Antike konzentriert sich auf die Knabenliebe bzw. auf das Interesse der erwachsenen Männer an jungen, noch nicht erwachsenen Männern, bevor das Wachstum von Bart- und Schamhaaren einsetzt. Bei der Beziehung des Mannes zur Ehefrau geht es hauptsächlich um die Hauswirtschaft und Fortpflanzung, und die Erotik kommt allenfalls als Randthema vor.
Im Geschlechtsakt sahen die Griechen den Machtanspruch der freien und wohlhabenden Männer in Haushalt und Polis widergespiegelt, und es stellte sich deshalb insbesondere die Frage, wie eine erotische Beziehung zwischen erwachsenen und noch nicht erwachsenen Männern auszusehen hatte, die nicht den künftigen Status des Knaben als freier Mann in der Polis bedrohte. Es drehte sich alles um die „zweifache Überlegenheit“ des erwachsenen Mannes „über sich und über (den) anderen“, der noch nicht erwachsen war (vgl. SuW 2, S.269): „In der Diätetik ging es vor allem um die Herrschaft über sich und über die Gewalt eines gefährlichen Aktes; in der Ökonomik ging es um die Macht, die man in der Macht über die Frau zugleich über sich selbst ausüben muß. Hier in der Erotik, die den Gesichtspunkt des Knaben einnimmt, ist das Problem, wie er seine Herrschaft sichern kann, ohne den anderen nachzugeben.“ (SuW 2, S.269f.)
Foucault spricht von einem „Isomorphismus zwischen sexueller Beziehung und gesellschaftlichem Verhältnis“: „Darunter ist zu verstehen, daß das sexuelle Verhältnis ‒ immer vom Modell des Penetrationsaktes und von der Polarität zwischen Aktivität und Passivität aus gedacht ‒ als etwas Gleichartiges wie das Verhältnis zwischen dem Oberen und dem Unteren, dem Herrschenden und dem Beherrschten, dem Unterwerfenden und dem Unterworfenen, dem Sieger und dem Besiegten wahrgenommen wird.“ (SuW 2, S.273)
Der Isomorphismus beginnt schon bei der mit dem sexuellen Akt verbundenen Lust, die mit einer Unbeherrschtheit auf Seiten des erwachsenen Mannes einhergeht. Die Griechen empfanden die konvulsivischen Zuckungen des Orgasmusses als peinlich. Das Problem verschärfte sich, wenn es um die Knabenliebe ging, denn hier ist der Knabe als künftiger Mann in zweifacher Weise betroffen: einmal aufgrund der Unbeherrschtheit der Lustempfindung (vgl. SuW 2, S.282f.), zum anderen aufgrund der Dominanz des älteren Mannes, dem er sich unterwirft. Er nimmt im Geschlechtsakt die passive Rolle ein, und diese ist eigentlich nur für die Frauen vorgesehen. Insofern verhält er sich widernatürlich.
Deshalb empfiehlt Sokrates (Xenophon): „Ein Knabe nimmt übrigens nicht wie eine Frau an der Liebeslust eines Mannes teil, sondern er bleibt der nüchterne Zuschauer seiner sinnlichen Glut.()“ (Zitiert nach: SuW 2, S.283) Und Foucault ergänzt: „Zwischen dem Mann und dem Knaben gibt es nicht ‒ kann es nicht und darf es nicht geben ‒ eine Gemeinschaft der Lust.“ (Ebenda)
Der sexuelle Verkehr zwischen einem Knaben und einem Mann ist moralisch also nur dann in Ordnung, wenn er den gesellschaftlichen Status des künftigen Mannes nicht beschädigt. Für den Knaben bedeutet das: „Der Knabe hat nicht physische Lust zu empfinden; er hat, wenn er nachgibt, wann er soll, das heißt weder zu voreilig noch zu mißmutig, eine Befriedigung darin zu finden, daß er dem anderen Vergnügen macht.“ (SuW 2, S.284)
Wo es in der Männergesellschaft kein Problem damit gab, Frauen zu penetrieren, weil Frauen von vornherein, von ihrer ‚Natur‛ her, als passiv definiert wurden, durfte dies dem Knaben, als noch nicht erwachsener Mann ebenfalls in einer abhängigen Position zum älteren Mann, mit Blick auf seine künftige gesellschaftliche Position, nicht ohne ethische Vorkehrungen zugemutet werden: „(E)s durfte nicht geschehen (vor allem durfte es nicht sichtbar werden), daß sich der Knabe ,passiv‛ verhält, daß er sich behandeln und beherrschen läßt, daß er kampflos nachgibt, daß er der willfährige Partner der Gelüste des andern wird, daß er seine Launen befriedigt und daß er seinen Körper jedem Beliebigen und nach Belieben darbietet ...“ (SuW 3, S.268)
Wenn also der zur Herrschaft bestimmte künftige Mann in die Unterwerfung im sexuellen Akt einwilligt, stellt das das ganze gesellschaftliche System in Frage. Das ist der Grund, warum die Griechen einen so hohen philosophischen Aufwand um die Knabenliebe betrieben haben. Deshalb mußten aufwendige Rituale dafür sorgen, daß der ‚Wert‛ des Knaben als künftiger freier Mann nicht durch die sexuellen Praktiken gemindert wurde. Diese Rituale bestanden vor allem in der Verpflichtung des älteren Mannes zu einem aufwendigen Werbeverhalten, verbunden mit teuren Geschenken und einem auf eine lebenslange Freundschaft angelegten pädagogischen Engagement.
Die thematische Verknüpfung von Sexualität und Wahrheit ist also vor allem bezogen auf die „Knabenliebe“ problematisch (vgl. SuW 2, S.290), so sehr, daß der Begriff des ‚Eros‛ ausschließlich die Knabenliebe meint. Das gilt insbesondere für die „sokratisch-platonische Erotik“, die nach dem ‚Wesen‛ der Liebe, also ihrer Wahrheit fragt. (Vgl. SuW 2, S.294) Und das ist nicht zuletzt darin begründet, daß wir es mit einer „Männermoral“ zu tun haben, die wiederum nur eine sehr kleine Gruppe von Männern umfaßt: die „freien Männer“ bzw. die Grundbesitzer. (Vgl. SuW 2, S.318)
Die Wahrheit, um die es in den erotischen Praktiken von freien, erwachsenen Männern mit Knaben geht, ist eine ontologische; sie betrifft das Sein des Mannes als Subjekt in einer Gesellschaftsordnung, in der nur erwachsene Grundbesitzer als Subjekte auftreten können und dürfen. (Vgl. SuW 2, S.318) Interessant ist in diesem Zusammenhang, angesichts der Peinlichkeit des Orgasmusses, daß in Platons „Phaidon“ der unkontrollierbaren „Woge des (männlichen) Begehrens“ die Aufgabe zugewiesen wird, der „Seele“ „Flügel und Federn wachsen“ zu lassen; und zwar beiden, dem Mann und dem Knaben. Hier wird eine Symmetrie eingefordert, die es in den anderen Liebesverhältnissen nicht gibt. (Vgl. SuW 2, S.303) Da scheint etwas auf, das über die Geltung einer Männermoral hinaus geht.
Einerseits geht es bloß um die Frage der Legitimität der Knabenliebe im eingeschränkten Rahmen einer Männermoral. Der ältere Mann, der im Besitz der Wahrheit ist, muß um der Symmetrie willen diese Wahrheit dem Knaben vermitteln, indem er die erotische Beziehung in eine pädagogische Beziehung verwandelt. (Vgl. SuW 2, S.304) Dieser Ansatz, als ‚pädagogischer Eros‛, wurde im 19. und 20. Jahrhundert ein zentrales Motiv der Reformpädagogik und hat zur Legitimierung einer pädagogisch verbrämten Praxis des Mißbrauchs beigetragen. Im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ bringt es Foucault auf den Punkt, indem er mit Bezug auf die Knabenliebe in der griechischen Antike vom „mehr oder weniger vergewaltigte(n) Knabe(n)“ spricht. (Vgl. SuW 3, S.281)
Das ist also die Wahrheit des freien Mannes, die ihn von allen anderen Männern, Frauen und Sklaven unterscheidet. Sein Begehren ist seine Wahrheit, insofern es ihm zeigt, was er ist, für sich selbst; und für den Knaben, was dieser sein wird als zukünftiger freier Mann: „in einem doppelten Bezug zur Wahrheit“ ‒ „Bezug zu ihrem (der Seele) eigenen in seinem Wesen befragten Begehren, Bezug zu dem als wahres Sein erkannten() Objekt ihres Begehrens“ (vgl. SuW 2, S.309).
Man kann aber, andererseits, noch etwas anderes aus diesem erotischen Desaster herauslesen. Etwas das „Flügel und Federn“ hat. Wir haben es hier mit der Einsicht zu tun, daß die zwei Liebespartnern gemeinsame Wahrheit ihre Symmetrie als Subjekte des Begehrens ist.
Nur daß es eben in einer Männergesellschaft wie in der griechischen Antike nicht funktioniert. Und das ‒ siehe die Reformpädagogik ‒ bis heute nicht.
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