„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 9. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Der große Unterschied der noch weitgehend ,heidnischen‛ griechisch-römischen Diätetik der Kaiserzeit, wie Foucault die zwei Jahrhunderte vor und die zwei Jahrhunderte nach Beginn unserer Zeitrechnung zusammenfassend nennt, zur frühchristlichen Diätetik des dritten, vierten und fünften Jahrhunderts besteht in der Zielsetzung einer Selbstsorge, die zwar, wie in der Kaiserzeit, zunächst der Führung durch einen erfahrenen Lehrer bzw. Meister bedarf, aber auf die Autonomie des Schülers ausgerichtet ist. Irgendwann endet die Phase der Einübung und geht in eine selbstverantwortete tägliche Übung über, einer Askese, die nicht mehr der Anleitung durch andere bedarf, wenn auch der frühere Schüler jederzeit wieder, falls nötig, auf die Unterstützung einer Person, der er vertraut, zurückgreifen kann. Das gilt dann aber auch umgekehrt: der ehemalige Schüler kann selbst andere, unter Umständen sogar den ehemaligen Lehrer, anleiten, wenn dieser ihn darum bittet.

Diese auf Autonomie und Wechselseitigkeit angelegte Selbstsorge kennt das frühe Christentum nicht. Obwohl die frühen Christen auf die Übungen und Praktiken der griechischen Antike und der Kaiserzeit zurückgreifen, geht es bei ihnen, insbesondere in den Klöstern, aber auch bei der Taufe, um die vollkommene Unterwerfung des Katechumenen bzw. des Novizen unter einen Katecheten oder älteren Ordensbruder. Diese Unterwerfung steht auch für die Bereitschaft, sich Gottes Willen zu beugen, was den Verzicht auf jeden eigenen Willensakt beinhaltet. Es geht um die Vernichtung des Willens und um dessen vollkommene Ersetzung durch Gottes Willen. Und das gilt für den Rest des Lebens. Autonomie ist Sünde und folglich keine Option.

Das Kapitel über „Die Kunst der Künste“ (vgl. SuW 4, S.149ff.: 162), wie Gregor von Nazianz (329-390), Bischof von Sasima, die christliche Form der Sorge um sich nennt, bestätigt mein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber den Praktiken der Kirche. Foucault beginnt mit einem Rückgriff auf SuW 3, „Die Sorge um sich“, und vergleicht den Führungsstil der antiken Philosophenschulen mit dem Führungsstil der christlichen Klostergemeinschaften. (Vgl. SuW 4, S.161f.) Beide Einrichtungen, so Foucault, stellen die Sorge um das Individuum, die Sorge des Individuums um sich selbst und die Sorge des Lehrers um seinen Schüler, ins Zentrum. Dennoch läuft in den Klostergemeinschaften alles auf das Gegenteil dessen hinaus, was Kant auf die Formel „sapere aude!“ brachte. Der Abt und Schriftsteller Cassian (360-435) bestimmt die Hauptaufgabe der Klostergemeinschaften als „Abrichtung zum Gehorsam“, und als wichtigste Entscheidung des Mönchs bezeichnet er den „Verzicht auf den Willen“ und die „Unterwerfung unter den Willen eines andern“. (Vgl. SuW 4, S.168)

Schon die mit der Taufe verbundenen Bußrituale laufen auf eine Vernichtung (Annihilation) des individuellen Willens hinaus, sind aber doch so allgemein gehalten und unterliegen nach der Taufe auch keiner dazu notwendigen umfassenden Kontrolle mehr, daß von einer speziell auf das Individuum gerichteten lebenslangen Disziplin noch keine Rede sein kann. Darin unterscheiden sich die christlichen Taufrituale und das Leben in der Gemeinde von dem individuell angepaßten Führungsstil in den Ordensgemeinschaften. (Vgl. SuW 4, S.161)

Die Ordensgemeinschaften hingegen nehmen sich des individuellen Lebens als einer besonderen, lebenslang andauernden Praxis der Unterwerfung an. In diesem eingeschränkten Sinne, schreibt Foucault, können „die Klöster () als Philosophenschulen definiert werden“. (Vgl. SuW 4, S.162)

Und gerade, was die Klostergemeinschaft betrifft, wird der Annihilismus der christlichen Kirche besonders krass deutlich. Wo die philosophischen Lehrer der Antike von ihren Schülern nur einen auf die Zeit der Übungen begrenzten Gehorsam abverlangten (vgl. SuW 4, S.169), das Ziel der Übungen aber da­rin bestand, den Schülern zu einem Gehorsam sich selbst gegenüber zu verhelfen, ist der Gehorsam des Mönchs als „eine allgemeine und ständige Struktur“ seiner „Existenz“ zu verstehen: „Anstatt eine geschlossene Struktur zu sein, wie bei jemandem, der durch das Gehorchen gelernt hat, sein eigener Herr zu sein, ist die ,humilitas‛ eine ,offene Figur‛: Sie sorgt dafür, dass das Subjekt andere auf es zugreifen lässt.“ (SuW 4, S.173)

Das ganze Ordensleben ist eine Abrichtung des Mönchs auf einen Zustand, der ihn völlig willenlos macht gegenüber den Erwartungen seiner Umwelt und gegenüber den Autoritäten. Die Vokabel ,abrichten‛ verwendet Foucault mehrmals. (Vgl. SuW 4, S. 166, 168, 173) Zur Verdeutlichung, was das im Alltag des Mönchs bedeutete, gehe ich hier noch mal auf einige Details der ,Übungen‛ und klösterlichen Praktiken ein.

Dabei geht es nicht einfach nur um eine Anpassung des individuellen Verhaltens an die Klosterregeln. Die Kontrolle erstreckt sich ganz gezielt auf die inneren Regungen des Mönchs, ob es sich nun um Gefühle, Vorstellungen oder Gedanken handelt. Deshalb müssen Novizen vor allem daran gewöhnt werden, nichts, was in ihnen vor sich geht, vor den anderen zu verbergen. Sie müssen stets und jederzeit Auskunft über sich geben, um es der Beurteilung der Klostergemeinschaft zu überlassen, was sündhaft ist und was nicht. Foucault zitiert Cassian: „Das Urtheil über einen () Gedanken aber sollen sie nicht dem eigenen Ermessen anheimstellen, sondern das für gut und bös halten, was der Obere nach sorgfältiger Prüfung als solches erkannt und erklärt hat.“ (Cassian in: SuW 4, S.169) Dabei geht es für den Novizen nicht darum, zu lernen, wie man richtig urteilt, sondern ausschließlich darum, daß er lernt, daß es auf sein Urteil nicht ankommt.

Letztlich geht es noch nicht mal darum, zu lernen, auf die richtige Weise zu wollen. Wer nicht urteilen lernen darf, wird auch nie lernen, gutes und böses Wollen auseinanderzuhalten. Es geht ausschließlich darum, zu lernen, andere für sich wollen zu lassen, geleitet „von der Regel, geleitet von den Befehlen des Abts, von den Anordnungen seines Führers, eventuell sogar vom Willen seiner Brüder,() denn auch wenn dieser nicht von einem oberen oder Älteren ausgehen sollte, genießt er doch das Vorrecht, der Wille eines anderen zu sein“. (Vgl. SuW 4, S.170)

Der Vorrang des Willens anderer geht so weit, daß selbst offensichtliches Unrecht den Novizen nicht davon abhalten darf, zu tun, was von ihm verlangt wird: „Ungerechtigkeit eines Befehls, dass er zur Wahrheit oder zur Natur in Widerspruch stehen kann, darf niemals verhindern, dass er ausgeführt wird.“ (SuW 4, S.172)

Der Lohn für diese Selbstverleugnung liegt nicht in irgendeiner künftigen Freiheit der Lebensführung oder auch bloß in der Anerkennung als Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft durch die Gemeinschaft: „Der Gehorsam, den man den Mönchen auferlegt, verspricht ihnen nicht die Herrschaft über sich selbst, sondern eine Demut, die nichts anderes ist als der verstetigte Zustand des Gehorsams, als ständige Verfügbarkeit für alle anderen und fortwährendes Verhältnis zu sich selbst.“ (SuW 4, S.174)

Das Ergebnis ist, daß an die Stelle des eigenen Willens ein Wille tritt, in Gestalt der Klostergemeinschaft und in Gestalt des Willens Gottes, der sich gegen den Willen richtet. Der Wille gegen sich selbst: „Der Gehorsam (stellt) somit eine Ausübung des Willens über sich selbst und gegen sich selbst dar.“ (Vgl. SuW 4, S.174)

Foucault versucht sich in Formulierungen, die die absurde Struktur dieses Willens zum Ausdruck bringen: „Zu wollen, nicht zu wollen ... Nicht zu wollen, zu wollen, auf den geringsten eigenen Willen verzichten ... schließlich ist er (der Gehorsam ‒ DZ) das Ergebnis, das den Geführten in die Lage versetzt, anstatt und anstelle seines eigenen Willens für immer einen anderen Willen zu akzeptieren.“ (Vgl. SuW 4, S.174f.)

Noch mal zurück zu den Gefühlen, Vorstellungen und Gedanken. Letztlich sind sie nichts anderes als Erscheinungsformen des Willens, und zwar eben nicht des Willens irgendeines Gottes, sondern des je individuellen Gefühlshaushalts mit seinen unterschiedlichen Motiven und Befindlichkeiten. Die frühen Christen hatten also nicht nur ein Problem mit dem ,Willen‛, sondern auch mit Gedanken, Vorstellungen und Befindlichkeiten. Zusammenfassend kann man sie auch ,Cogitationes‛ nennen. Für Descartes waren diese Cogitationes unsere einzige Gewißheit, zu sein, ein Selbst zu sein, Ich zu sein.

Für die frühen Christen hingegen waren sie, wie wir gesehen haben, ein Problem: „Die ,cogitatio‛ des Cassian ist nicht bloß ein Gedanke unter anderen, sie ist das, was die auf die Kontemplation ausgerichtete Seele jeden Moment in Unruhe versetzen kann. So verstanden ist sie weniger der Akt einer Seele, die denkt, als die Störung einer Seele, die versucht, Gott zu erfassen. Sie ist eine innere Gefahr. Man muss ihr mit einem ständigen Misstrauen begegnen, das sie unter Verdacht stellt und prüft.“ (SuW 4, S.187f.)

Die „innere Gefahr“ besteht für Cassian vor allem darin, daß die jederzeitige Mannigfaltigkeit unserer Gefühle und Motive, mit denen wir uns gedanklich auseinandersetzen, uns von der Aufmerksamkeit auf Gott ablenkt. Das Grundübel ist also die „Beweglichkeit des Denkens“ (SuW 4, S.189): „Die Gedanken fliegen im Geist umher wie eine vom Wind aufgewirbelte kleine Feder“ (ebenda), was mich an die im Wind flatternden Fetzen von Montaigne erinnert, eine Metapher für das, was wir sind. Diese Metapher erinnerte mich wiederum beim erstenmal Lesen an die Gebetsfahnen der Tibeter, die offensichtlich kein Problem damit haben, den Wind und die flatternden Fetzen als eine Form der Andacht zu verstehen.

Witzigerweise verwendet Cassian für das Begehren die Metapher von einer vom Wasser angetriebenen Mühle, also einer weiteren denkbaren Form des tibetischen Gebets, man denke an Gebetsmühlen, allerdings hier negativ konnotiert; negativ für „die Seele“, die „von der Brandung der Gedanken () umgetrieben“ wird. (Vgl. SuW 4, S.189f.) Die frühen Christen waren jedenfalls mit Sicherheit keine Tibeter.

Plessner zufolge ist die Seele ein „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut und das nicht berührt bzw. angefaßt werden will („noli me tangere“). Damit wendet er sich implizit zwar, aber wie ich finde deutlich genug gegen die Übergriffigkeit einer christlichen ‚Seelsorge‛, die Foucault auch als „Pastoral“ bezeichnet. Aus Plessners Sicht wäre die inquisitorische Beichte, die der Seele ihre Geheimnisse entreißen soll, für eben diese Seele tödlich. Die Seele bedarf einer Sprache, die die Differenz zwischen Meinen und Sagen ernst nimmt und die Seele vor der Entblößung schützt.

Cassian zufolge ist nicht die Seele ein Geschöpf der Nacht, sondern der „Feind“, der Teufel also, der das Tageslicht haßt: „Wenn man Mühe hat, einen Gedanken zu bekennen, wenn er sich dagegen sperrt, ausgesprochen zu werden, wenn er versucht, geheim zu bleiben, ist das ein Zeichen dafür, dass er schlecht ist.“ (SuW 4, S.194f.)

Es erinnert an Freuds Psychoanalyse, wenn Cassian meint, daß sich ein Gedanke um so mehr entzieht und damit verdächtig macht, „je mehr er den Worten, die ihn zu erfassen suchen, zu entkommen trachtet“: „(D)esto mehr Mühe muss man sich folglich geben, ihm nachzugehen und von ihm ein genaues Geständnis abzulegen.“ (SuW 4, S.195)

Das expressive Schwanken der Seele zwischen Meinen und Sagen, wie Plessner es beschreibt, wird als ein Werk des Teufels gedeutet, dem mit einem Exorzismus begegnet werden muß: „Das Geständnis, das ihn ans Licht zerrt, entreißt ihn seines Reichs und entmachtet ihn.“ (SuW 4, S.195)

Es geht nicht mehr um Expressivität, sondern um Exorzismus. („Austreibung“: vgl. SuW 4, S.197) Ein Mönch, der Abt Sarapion, beschreibt diesen Vorgang überaus anschaulich am Beispiel eines Erlebnisses aus der Zeit, als er noch ein junger Mönch gewesen war. Die Mahnungen seines damaligen Abtes hatten ihn in eine solche Drangsal versetzt, daß er seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte: „Und sogleich ,kam eine brennende Fackel aus meinem Busen hervor und erfüllte die Zelle so mit Schwefelgeruch, dass die Heftigkeit des Gestanks uns kaum in ihr bleiben ließ‛.“ (SuW 4, S.196)

Es waren wohl eher die durch das Klosterleben und die Ermahnungen seines Abtes aufgeregten Eingeweide des jungen Mönchs, die ihm einen Furz haben entfahren lassen, der dann auch nicht der Brust, sondern dem After entwich. Ein verzeihlicher Irrtum des verängstigten jungen Mönchs, der oben und unten nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Wie auch, da er ja nie zu urteilen gelernt hatte. Wahrscheinlich hatte gerade ein Klosterbruder mit einer brennenden Kerze in der Hand hinter ihm gestanden, die sich prompt in einer brennende Fackel verwandelte.

Ist die Wahrheit der Seele bei Plessner also die Differenz zwischen Meinen und Sagen, so besteht deren Wahrheit nach christlicher Auffassung im Geständnis, das zur Austreibung des Teufels führt. Zurück bleibt eine gereinigte, dem Terror des Lichts und der umfassenden Aufmerksamkeit der kirchlichen und klösterlichen Autoritäten ausgesetzte Seele.

Foucaults Hinweis darauf, daß es sich bei dem Feind um einen „fremden Willen“ handelt (vgl. SuW 4, S.310), macht auf das dem geistigen Kampf innewohnende Paradox aufmerksam. Eines der wichtigsten Prinzipien des Klosterlebens besteht darin, daß der Wille des anderen immer Vorrang hat vor dem eigenen Willen. (Vgl. SuW, S.168, 170, 194) Wenn aber nun dieser Andere jederzeit auch der Feind sein könnte, sind dessen Einflüsterungen letztlich ununterscheidbar von jenem anderen Willen, dem sich die Mönche willenlos unterwerfen sollen. Anhand welcher Kriterien also soll jemand, der sich lebenslang darin übt, das Urteilen anderen zu überlassen, und der für sich selbst nichts wollen darf, entscheiden, daß er es in diesem Fall mit einem Willen zu tun hat, dem er sich nicht beugen darf? Und ist er überhaupt noch dazu fähig, zu widerstehen und sich nicht zu unterwerfen?

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