„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 10. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts.Vorlesung am Collége de France

Exkurs: stultitia und sapientia

In meinem Blogpost zur Diätetik der Kaiserzeit (06.07.2025) bin ich kurz auf den von Seneca behaupteten Zusammenhang von „stultus“ und Weltoffenheit zu sprechen gekommen. Seneca disqualifiziert Weltoffenheit, Offenheit gegenüber den Mit­men­schen, als dumm und töricht (stultus). Dabei geht es vor allem um die Mitmenschen, um die Gesellschaft, also um die Menschenwelt, die diejenigen, für die die Sorge um sich selbst vor allem in der Kontrolle über die eigenen Regungen und Begehrlichkeiten besteht, immer wieder in eine Unruhe versetzt, die ihr souveränes in-sich-selbst-Ruhen bedroht. Jemand also, der diesen Störfaktoren gegenüber ,offen‛ ist, ist Seneca zufolge ,stultus‛.

Ich platziere diesen Exkurs zwischen zwei Blogposts, in denen es zentral um diese inneren und äußeren Vorstellungen geht, die, wie ich im vorangegangenen Blogpost dargelegt habe, schon im Kaiserreich, noch mehr aber im frühen Christentum das zentrale Thema einer neuen Diätetik sind. Seneca wird so zum Vorläufer einer christlichen Seelenführung. In seinen Hermeneutikvorlesungen an der Collége de France geht Foucault nochmal kritisch auf die stultus-Problematik ein, und die diesbezügliche Vorlesung vom 27.01.1982 (Foucault 2004, S.164ff.) steht im Zentrum meines Exkurses.

Vorweg möchte ich kurz auf meine eigene Motivlage eingehen. Als ich Senecas stultus-Äußerungen las, war ich doch einigermaßen irritiert gewesen. Von meiner eigenen pädagogischen Denkrichtung als Bildungstheoretiker her war für mich das anthropologische Verhältnis von Mensch und Welt und von Mensch und Mitmensch immer grundlegend gewesen. Ich verweise hier insbesondere auf Wilhelm von Humboldt, für den es undenkbar gewesen war, daß es eine Chance auf Menschlichkeit und Humanität geben könne ohne Weltoffenheit und Weltzugewandtheit.

Von Jean-Jacques Rousseau („Émile“, 1760) lernte ich, zwischen der Welt und den Mitmenschen in der Hinsicht zu differenzieren, daß in einer bestimmten Phase der Entwicklung, als Kind, der Mensch vor allem von der nicht-menschlichen Welt, der Natur, lernt, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Rousseau mißtraute der Menschenwelt, insbesondere in den Städten, die dem jungen Menschen in der Kindheit Vorstellungen und Gedanken einflößen, die er noch nicht denken und infolgedessen auch noch nicht verstehen kann. Das hielt Rousseau in einer Phase, in der wir anfangen, selber denken zu lernen, für schädlich. Darin könnte man eine Parallele zu Senecas Weltfeindlichkeit sehen. Aber Senecas Empfehlung, sich von der Welt abzuwenden, bezog sich nicht auf Kinder, sondern richtete sich an Erwachsene.

Ganz spontan dachte ich auch, als ich die betreffende Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ las, an Bodhidharma (5./6.Jhdt.) und seinen Spruch „offene Weite, nichts von heilig“. Für das Gegenteil von Weltoffenheit und als Beispiel für Weltfeindlichkeit steht hingegen für mich seit vielen Jahren das Christentum. Aufgrund dieser Konstellation von Positionen weckte Senecas Diätetik in mir Mißtrauen.

Zunächst definiert Foucault in seiner Vorlesung Senecas stultus-Begriff: „,Stultus‛ ist derjenige, der sich allen äußeren Anreizen aussetzt, für die äußere Welt offen ist, d.h. derjenige, der alle Vorstellungen, die ihm die äußere Welt zu bieten hat, in seinen Geist einläßt. Er nimmt diese Vorstellungen an, ohne zu prüfen, was sie vorstellen.“ (Foucault 2004, S.171)

So weit also wie bereits bekannt. Foucault ergänzt dann aber noch, „daß der ‚stultus‛ nicht fähig ist, angemessen zu wollen“, und stellt gleich darauf die interessante Frage: „Was bedeutet das: angemessen zu wollen?“ (Foucault 2004, S.172)

Das ist auch die zentrale Frage des nächsten Blogposts, in dem es um das schwierige Problem geht, wie man zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür unterscheiden kann. Foucault verweist auf einen Brief Senecas an Lucilius, den Seneca in Fragen der Lebensführung beriet: „Der Wille des ,stultus‛ ist ein unfreier Wille, ein Wille, der nicht unbedingt ist und der nicht immer will.“ (Foucault 2004, S.173)

Wie Foucault weiter ausführt, besteht der freie Wille erstens darin, „frei zu wollen, ohne irgendeine Bedingtheit zu wollen“, und zweitens darin „angemessen zu wollen, unbedingt () zu wollen“. (Vgl. Foucault 2004, S.173)

In diesem Fall bedeutet ,unbedingt‛ nicht absolut unbedingt, sondern unbedingt insofern, als man immer nur eine Sache nach der anderen wollen soll und nicht mehreres gleichzeitig. Der stultus „will nicht nur eins und eins unbedingt“. (Vgl. Foucault 2004, S.173) Von allen Dingen, die man wollen kann, gibt es aber nur einen Gegenstand, „den wir frei wollen können, ohne von außen Bedingendes berücksichtigen zu müssen“, und das „ist selbstverständlich das Selbst“. (Vgl. ebenda)

In letzter Konsequenz ist also stultus derjenige, der nicht allererst sich selbst will. Und jetzt wird es nochmal besonders interessant, jedenfalls für mich: Seneca setzt der stultitia die sapientia entgegen, also die Weisheit. (Vgl. Foucault 2004, S.174) Der stultus kann sich nicht selbst retten. Es bedarf des „Eingreifens des anderen“ (vgl. ebenda), und zwar nicht irgendeines anderen, sondern desjenigen, der weise ist.

Von jetzt an wird Foucault im hohen Maße ironisch. Geradezu bissig ironisch. Er fragt seine Zuhörerinnen und Zuhörer, was für ein sapiens es wohl konkret sei, der dem stultus seine „ausgestreckte Hand“ entgegenreckt: dieser „Vermittler, der sich sofort anbietet, der Operator, der sich in dieser Beziehung, in dieser Herstellung der Beziehung des Subjekts zu sich selbst aufdrängt ... lärmend drängt er sich auf, und laut verkündet er, daß nur er fähig ist, diese Vermittlung zu vollziehen ...“ usw. (Vgl. Foucault 2004, S.175)

Foucaults Antwort ist überraschend, jedenfalls für mich, obwohl er selbst meint, daß sie allzu naheliegend sei: „Der derart Wirkende ist natürlich der Philosoph.“ (Foucault 2004, S.176)

In der Folge beschreibt Foucault, wie sich die gesellschaftliche Position der Philosophen seit der griechischen Antike, seit Platon und Aristoteles, verändert hat. Bei Platon waren die Philosophen immer auf der richtigen, guten Seite, nützlich für die Polis und die Menschen in der Polis, also für die wohlhabenden, männlichen Grundbesitzer. Die Rhetoriker hingegen galten als geldgierige Berufsberater, also als diejenigen, die das Beraten zu ihrem Beruf, zu ihrem Geschäft gemacht haben. In der römischen Kaiserzeit ist es genau umgekehrt. Jetzt wurden die Rhetoriker als nützliche und redliche Dienstleister in lebenspraktischen Dingen anerkannt, während die Philosophen als schädliche Scharlatane galten.

Das also ist die sapientia, die die Philosophen zu bieten haben: sie ,greifen‛ nach Foucaults Worten in das Leben des Menschen, den sie als stultus verhöhnen, ‚ein‛, um ihn gegen seinen Willen zu beglücken bzw. zu seinem Glück zu zwingen. Sie bringen ihn aus dem „Gleichgewicht“, stören ihn auf, „an ihm ziehend und (ihn) stoßend zu zwingen, eine andere Lebensweise anzunehmen“. (Vgl. Foucault 2004, S.199)

Ich habe den Eindruck, daß das Verhalten dieser ,Philosophen‛ schon vorausweist auf die christliche ,Pastoral‛, also auf eine Seelsorge, die sich das Recht herausnimmt, das Glück bzw. Heil ihrer Klientel nicht nur besser zu kennen als diese, sondern auch sie zu ihrem Glück zwingen zu dürfen, was immer es die Bedauernswerten kosten mag.

Irgendwo bei Hans Blumenberg habe ich gelesen, ich glaube in „Höhlenausgänge“ (1989), daß es immer ein ethisches Problem dabei gebe, die in ihrer Höhle gefangenen Menschen, die sich in ihrer Gefangenschaft eingerichtet haben und nicht mal wissen, daß sie gefangen sind, gegen ihren Willen aus dieser Gefangenschaft zu befreien und aus ihrer Höhle herauszuführen.

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