Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung
Gleich zu Beginn des vierten Kapitels setzt Simmel seinen Kontrapunkt zu Kants Moralphilosophie. Unfrei ist der Mensch nicht nur im Sinne einer Naturkausalität, in der jede Wirkung eine Ursache hat und im Sinne der dritten kosmologischen Idee eine unendliche Reihe in Richtung auf eine nie zu erreichende Erstursache eröffnet, sondern auch im Sinne einer moralischen Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen: „Jeder Verpflichtung, die nicht einer bloßen Idee gegenüber steht, entspricht das Forderungsrecht eines Anderen, weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert, die ein ideeller oder gesellschaftlicher Imperativ oder die das eigene Ich uns auferlegt.“ (Simmel 2009, S.429f.)
Das ist von Simmel bewußt vorsichtig formuliert. Niemand kann ihm vorwerfen, er lehne Kants kategorischen Imperativ ab, denn hier haben wir es ja nur mit einer „bloßen Idee“ zu tun. Er spricht bloß von der Abhängigkeit von anderen Menschen und kann deshalb alle Angriffe auf sich damit abwehren, daß er sich selbstbewußt auf Kants Seite stellt: Gerade Kant lehne ja, so kann er argumentieren, jede Abhängigkeit von anderen Menschen ab, da der kategorische Imperativ mit dem guten Willen des Handlungssubjekts übereinstimmt und ihm nicht von anderen Menschen und schon gar nicht von kirchlichen und staatlichen Autoritäten aufgezwungen werden könne.
Aber das ist Wortklauberei. Wenn Simmel von der individuellen Freiheit spricht, argumentiert er nicht mit einer Freiheit jenseits der Naturkausalität und jenseits von gesellschaftlichen Autoritäten, sondern mit einer sich von jeder Verantwortung der menschlichen Gemeinschaft gegenüber lossagenden persönlichen Freiheit. Simmels Vorgehen ist einer „Philosophie des Geldes“ geschuldet, wie er sie in seinem Buch vor allem als wirtschaftliche Abhängigkeit entwickelt, diese aber gleichzeitig in eine individuelle Unabhängigkeit umdeutet.
Wir haben es hier, Abhängigkeit als Unabhängigkeit, mit einer Antinomie zu tun, die von Simmel dadurch aufgelöst wird, daß er eine neue gesellschaftliche Kausalität postuliert, die nicht mehr durch die unmittelbare Abhängigkeit zwischen Mensch und Mensch bestimmt ist, sondern durch ein unpersönliches, sachliches Drittes: durch das Geld. Wo alle gesellschaftlichen Aktivitäten mit Hilfe des Geldes entsubjektiviert bzw. mit Simmel „entseelt“ werden (vgl. Simmel 2009, S.540), sind, so behauptet zumindest Simmel, die Individuen freigestellt, sich ihre eigenen Zwecke zu setzen: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises (z.B. einer Nation ‒ DZ) herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)
Die Formel, die Simmel hier aufstellt ist so schlicht, wie sie verblüffend ist: je mehr Menschen von der Geldwirtschaft erfaßt und von ihr abhängig gemacht werden, um so größer die individuelle Freiheit.
Die Evolution der individuellen Freiheit vollzieht sich in drei Stufen: auf der ersten befinden sich Sklavenhaltergesellschaften, in denen sich die Abhängigkeit des Sklaven vom Sklavenhalter auf die ganze Person erstreckt. (Vgl. Simmel 2009, S.430f.) Diese Abhängigkeit reduziert sich auf der zweiten Stufe in der Abhängigkeit der Hörigen gegenüber einem Gutsbesitzer. Der Hörige liefert dem Gutsherrn die Fron in Form von Naturalien. Diese Naturalien, welche und wie viel, sind zwar festgelegt, aber darin, wie der Hörige sie erwirtschaftet, ist er frei. Der Gutsherr interessiert sich nur für das Produkt. Die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherrn ist also im Vergleich zum Sklavenhalter gelockert. (Vgl. Simmel 2009, S.431f.)
Die dritte Stufe ist die Ablösung der Naturalien durch Geld: „Die dritte Stufe, bei der aus dem Produkt die Persönlichkeit wirklich ausgeschieden ist und der Anspruch sich gar nicht mehr in diese hineinerstreckt, wird mit der Ablösung der Naturabgabe durch die Geldabgabe erreicht.“ (Simmel 2009, S.433)
Auf dieser Stufe entsteht die Möglichkeit, dem Gutsherrn die Naturabgabenpflicht durch Geldzahlungen abzukaufen: „Höher kann die persönliche Freiheit vor dem Wegfall jedes bezüglichen Rechtes des Grundherrn nicht steigen, als wenn die Verpflichtung des Untertanen in eine Geldabgabe verwandelt ist, die der Grundherr annehmen muß.“ (Simmel 2009, S.438)
Nun wissen wir aber ‒ und Simmel weiß das ebenfalls ‒, daß auf die Abhängigkeit der Bauern und der Landbevölkerung von den Landbesitzern, eine weitere Stufe folgt: die Lohnarbeit; und diese führt zu ganz neuen Abhängigkeiten der Lohnarbeiter vom Unternehmer. Hier ist das Geld kein Mittel der Befreiung mehr, sondern ein Medium extremer Stratifizierungen. Die gesellschaftliche Kausalität, die hier die Form einer Naturgesetzlichkeit annimmt, wird also keineswegs durch die Verminderung von Abhängigkeiten durch die Gewährleistung neuer individueller Freiheiten außer Kraft gesetzt, sondern führt im Gegenteil zu Abhängigkeiten neuer Art, die diesmal gerade durch das Geld ermöglicht werden.
Die mit der Lohnarbeit einhergehende gesellschaftliche Kausalität wird in der institutionellen Form des unpersönlichen Dritten auf Dauer gestellt. Zu ,dritten‛ Personen werden Menschen überall dort, wo ihr persönlicher Umgang mit einander zunehmend dadurch bestimmt wird, daß sie aufgrund der fortgeschrittenen Arbeitsteilung für den Warentausch keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Simmel sieht darin eine die individuelle Freiheit ermöglichende Errungenschaft. (Vgl. Simmel 2009, S.447) Also: Freiheit = Verantwortungslosigkeit. Das ist genau das Gegenteil dessen, was Kant unter Freiheit versteht: „So ist also auf dem Gipfel der Geldwirtschaft ein Handelsmodus möglich geworden, der, durch die Überführung des subjektiven Fundaments des Geschäfts in ein objektives, beiden Parteien ihre Verantwortlichkeiten erleichtert und dem Vorteil der einen keinerlei Nachteil der anderen gegenüberstellt.“ (Simmel 2009, S.448)
Wenn das Geld den Besitzer gewechselt hat und die Ware verkauft ist, gehen beide, Käufer und Verkäufer, auseinander, ohne daß sich der Verkäufer weiter für die Ware interessiert und der Käufer noch irgendwelche Reklamationsansprüche geltend machen könnte. Er hat die Ware gesehen und geprüft und durch die Bezahlung deren Güte bestätigt: er hat bezahlt, was er bekommen hat. Das Geld macht persönliche Verantwortung überflüssig. Es befreit uns von dieser lästigen Verpflichtung. Bei Simmel geht also mit der Freiheit Verantwortungslosigkeit einher, während es bei Kant eine Freiheit ohne Verantwortung gar nicht geben kann.
Eben dies führt zu einer neuen, dem Geld geschuldeten Beziehungsform: die Beziehungsform der dritten Person: „Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muß, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören ‒ hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen.“ (Simmel 2009, S.449f.)
Im zweiten Kapitel deutet sich diese neue Beziehungsform in folgender Textstelle an, in der Simmel den Sinn des Gleichheitszeichens in Ich = Du in sein Gegenteil verkehrt. Ohne es zu wissen, deutet Simmel hier das vielleicht unvermeidbare Ende jeder freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen Ich und Du an: „(S)o unvergleichbar zwei Personen in ihren angebbaren Eigenschaften sein mögen, so stiften Beziehungen zu einem je dritten Menschen doch eine Gleichheit zwischen ihnen; sobald die erste die gleiche Liebe oder Haß, Herrschaft oder Unterworfenheit einer dritten gegenüber zeigt, wie die zweite einer vierten gegenüber, so haben diese Relationen hier der Fremdheit des Fürsichseins jener eine tiefe und wesentliche Gleichheit untergebaut.“ (Simmel 2009, S.184)
Nicht daß zwei Menschen verschiedene Eigenschaften haben können, ist hier für mich das Problem, da diese Verschiedenheit die Gleichheit und Freiheit zwischen ihnen nicht außer Kraft setzt; auch ist es kein Problem, daß zwei Menschen unabhängig von ihrer eigenen Wechselbeziehung gleichermaßen freie und gleiche Wechselbeziehungen auch zu anderen (dritten und vierten) Menschen haben können; sondern das Problem ist, daß Simmel die Gleichheit zwischen zwei Menschen erst mittels der Relativierung ihrer persönlichen Eigenschaften durch Ausweitung ihrer mitmenschlichen Kontakte auf dritte, vierte und mehr Personen gewährleistet sieht; eben im Sinne jenes weiter oben schon zitierten „großen Kreises“ (vgl. Simmel 2009, S.549f.). Wenn Simmel in diesem Zusammenhang von „substantieller Unmittelbarkeit“ spricht (vgl. Simmel 2009, S.184), bedeutet das, daß es ihm hier nicht um irgendwelche beliebigen Manifestationen wie „Liebe oder Haß“ geht, sondern um die Einzigartigkeit des Ich, die er gleichwohl ausgerechnet durch ihre Relativierung qua Ausweitung auf einen großen Kreis gewährleistet sieht.
Aber anstatt daß die individuelle Freiheit durch Verantwortungslosigkeit vergrößert wird, entstehen, wie schon erörtert, jetzt neue Abhängigkeiten gegenüber Dritten. Dabei soll es Simmel zufolge ein Vorteil sein, daß diese Abhängigkeit nur noch eine unpersönliche ist: „Während der Mensch der früheren Stufe die geringere Anzahl seiner Abhängigkeiten mit der Enge persönlicher Beziehung, oft persönlicher Unersetzbarkeit derselben bezahlen mußte, werden wir für die Vielheit unserer Abhängigkeiten durch die Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehenden Personen und durch die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt. ... Dies ist nun die günstigste Lage, um innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins, zustande zu bringen.“ (Simmel 2009, S.454f.)
Mit der „Freiheit des Wechsels“ ist gemeint, daß wir ,dritte Personen‛ jederzeit durch andere austauschen können, z.B. wenn ein Handwerker schlechte Arbeitsergebnisse liefert, suchen wir uns einen anderen. Oder wenn uns ein Arbeitgeber schlecht behandelt, suchen wir uns einen anderen. Das Problem besteht darin, daß wir die Befreiung aus persönlichen Abhängigkeiten mit neuen unpersönlichen Abhängigkeiten bezahlen müssen, z.B. daß wir durch die Arbeitsteilung auf die Dienste von fremden Menschen angewiesen sind, wo wir früher entweder das meiste selbst tun oder es kundigeren Angehörigen der eigenen kleinen Gemeinschaft überlassen konnten. Daß diese ihre Dienste sorgfältig erledigten, gewährte das beidseitige, in langen Jahren gewachsene Vertrauensverhältnis.
Simmel preist hingegen die dem fehlenden Vertrauensverhältnis entsprechende „Indifferenz“ (Gleichgültigkeit) der anderen Person gegenüber als Voraussetzung individueller Freiheit: „Die Indifferenz spaltet sich erst allmählich zum Gegensatz, aus der Produktion, dem Produkte, dem Umsatz tritt das personale Element mehr und mehr zurück. Dieser Prozeß aber entbindet die individuelle Freiheit.“ (Simmel 2009, S.463)
Gleichermaßen materieller wie ideeller Garant dieser individuellen Freiheit ist das Geld: „Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines eigenartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben, es ist genau das Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet, ist für das unterschiedsempfindliche Bewußtsein der Hintergrund, von dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre Freiheit erst deutlich abhebt.“ (Simmel 2009, S.464)
Was Simmel hier beschreibt, nannte man früher mal Entfremdung. Dazu mehr im nächsten Blogpost.