„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 12. Dezember 2025

Schaler Sinn


Da ist keine Wahrheit, die ich bin,
und kein Sein, als das ich mich entberge.
Zwiebelgleich als Schale, schaler Sinn,
leb ich auf der Kruste dieser Erde.

Mittwoch, 3. Dezember 2025

Bildung und Entfremdung

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


1. halb voll, halb leer?
2. ,objektive‛ Kultur

Simmel setzt sich bewußt vom Bildungsbegriff der neuhumanistischen Epoche um die Wende des 18. zum 19. Jhdt. ab: „Gewisser­maßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19 Jahrhundert durch den Begriff der ‚Bildung‛ im Sinne einer Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltensweisen verdrängt wurde.“ (Simmel 2009, S.721)

Allerdings geht Simmel noch einen wesentlichen Schritt weiter als das auf objektive Bildung setzende 19. Jhdt., denn er setzt nicht nur auf die objektive Seite der Bildung, die ja immer noch, als ‚Kultur‛, die Vorstellung einer Menschen-Welt impliziert, sondern er reduziert den Kulturbegriff noch einmal auf die Geldwirtschaft. Seine ‚objektive‛ Kultur ist eine subjektlose Kultur; eine Kultur ohne Menschen. Die von Wilhelm von Humboldt einmal als Alchemie gedachte Verwandlung des Objekts ins Subjektive und des Subjekts ins Objektive, die Wechselseitigkeit von Mensch und Welt, kommt in dieser objektiven Kultur bzw. Bildung nicht mehr vor.

Simmel stellt die sehr berechtigte Frage nach den Konsequenzen, die sich für den Menschen daraus ergeben, daß die „Kultur der Dinge“ zu einer Kultur für sich geworden ist, die mit der Bildung des Menschen nichts mehr zu tun hat: „Wenn alle Kultur der Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschheit ist, so daß nur wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden ‒ was bedeutet jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich wie aus deren Kräften und Normen heraus vollzieht und ohne daß sich einzelne Seelen daran entsprechend entfalteten?“ (Simmel 2009, S.722)

Die Kultur der Dinge ist zu einer Kultur geworden, die sich aus ihren eigenen „Kräften und Normen heraus vollzieht“, und die menschlichen „Seelen“ haben keine Berührung mehr mit ihr. Simmels Antwort auf seine Frage nach den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, besteht darin, daß sich aufgrund der Geldwirtschaft das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Individuen radikal verändert hat und noch verändern wird. Die objektive Kultur umfaßt alles, was sich von den Anfängen der Menschheit bis zum gegenwärtigen Stand von Geldwirtschaft, Technik und Wissenschaft „als gegenwärtig gewordener Geist“ angesammelt hat. Diesem ungeheuren Überschuß auf der Habenseite der Gesellschaft gegenüber stehen die „fragmentarischen Daseinsinhalte() der Individuen“. (Vgl. Simmel 2009, S.722)

Während die klassische Bildungsphilosophie des Neuhumanismus noch auf das Individuum fokussierte, bewertet Simmel dieses jetzt weit nüchterner: „Unsere praktische Existenz, unzulänglich und fragmentarisch, wie sie ist, erhält eine gewisse Bedeutsamkeit und Zusammenhang dadurch, daß sie sozusagen die Teilverwirklichung einer Ganzheit ist.“ (Simmel 2009, S.725)

Mit Ganzheit meint Simmel die „objektive Kultur“ bzw. den „objektiven Geist“, Techniken, Wissen, Kunst, Ethik, Religion, auf die das „individuelle Subjekt“ nur zurückzugreifen braucht, um seinen eigenen Beitrag produktiv daran anzuschließen und darauf aufzubauen: „Wie wir unsere Lebensinhalte, erkenntnistheoretisch betrachtet, einem Reiche des sachlich geltenden entnehmen, so beziehen wir, historisch angesehen, ihren überwiegenden Teil aus jenem Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit der Gattung(.)“ (Simmel 2009, S.727)

Kultur gibt es bei Simmel in gewisser Weise nur als Hochkultur, als Krönung der menschlichen Evolution. Aus ihr wurde, gerade auch dank der Geldwirtschaft, die gesamte Erblast trüber Sedimente unserer animalischen und barbarischen Vergangenheit, bis heute immer noch virulent und unabgegolten, fein säuberlich herausfiltriert und entsorgt. Was mit Simmels Kulturbegriff also auf keinen Fall gemeint ist, ist die Lebenswelt, die ohne diese Sedimente nicht denkbar ist.

Dennoch erinnert Simmels Beschreibung der objektiven, die gesamte gesellschaftliche Evolution umfassenden Kultur an ein vampirartiges Kollektivwesen, das die individuellen Einzellei­stungen aufsaugt und nun „jenseits aller Subjekte“ sein eigenes untotes Leben lebt: „Je vollständiger ein Ganzes aus subjektiven Beiträgen den Teil in sich einsaugt, je mehr es der Charakter jedes Teiles ist, wirklich nur als Teil dieses Ganzen zu wirken, desto objektiver ist das Ganze, desto mehr lebt es ein Leben jenseits aller Subjekte, die es produzierten.“ (Simmel 2009, S.732)

Aber weit entfernt davon, das zu beklagen, sieht Simmel darin die Lösung all unserer Probleme. Zunächst hält er fest, daß die objektive Kultur durch Arbeitsteilung und Warenproduktion gekennzeichnet ist, und natürlich durch Konsum. In dieser Form bildet sie ein dem Individuum gegenüberstehendes Kollektivsubjekt: „Was die Kultur der Dinge zu einer so überlegenen Macht gegenüber der Einzelpersönlichkeit werden läßt, das ist die Einheit und autonome Geschlossenheit, zu der jene in der Neuzeit aufgewachsen ist. Die Produktion mit ihrer Technik und ihren Ergebnissen, erscheint wie ein Kosmos mit festen, sozusagen logischen Bestimmtheiten und Entwicklungen, der dem Individuum gegenübersteht, wie das Schicksal es der Unstätheit und Unregelmäßigkeit unseres Willens tut.“ (Simmel 2009, S.757)

Simmels Darstellung erinnert an Horkheimer und Adornos „Kulturindustrie“. Um so vielsagender ist es, daß Simmel dieser Kulturindustrie zutraut, die Bildung des Menschen zu fördern. Denn, so Simmel, die sich verselbständigende Kultur der Dinge (heute spricht man ganz ähnlich vom Internet der Dinge) setzt den Menschen „von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und von unmittelbarer Beziehung zu ihnen“ frei und ermöglicht so „gewisse() Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit“, die es ohne diese Freisetzung nicht gegeben hätte (vgl. Simmel 2009, S. 757): „Und deshalb mögen diese Gegenrichtungen“, gemeint ist das Auseinanderdriften objektiver Kultur und subjektiver Existenz, „da sie nun einmal eingeschlagen sind, auch einem Ideal absolut reinlicher Scheidung zustreben; indem aller Sachgehalt des Lebens immer sachlicher und unpersönlicher wird, damit der nicht zu verdinglichende Rest desselben um so persönlicher, ein um so unbestreitbareres Eigen des Ich werde.“ (Simmel 2009, S.758; Hervorhebung ‒ DZ)

Simmel befürwortet also allen Ernstes eine Restbildung, die in der von der Welt abgelösten Innerlichkeit des Bildungssubjekts besteht, also das absolute Gegenteil der Humboldtschen Bildung, in der der Mensch so viel Welt als möglich in sich aufnehmen soll. Simmels von der objektiven Kultur abgespaltene Restbildung behält aber letztlich nicht einmal irgendeinen kläglichen Rest für sich, denn aufgrund der „absolut reinlichen Scheidung“ der Dinge vom Menschen ist dessen Bildung absolut leer.

* * *

In diesem Blogpost stand das sechste Kapitel von „Philosophie des Geldes“ im Zentrum. (Vgl. Simmel 2009, S.686ff.) Dieses sechste Kapitel ist zugleich das letzte Kapitel des Buches, so wie auch dieser Blogpost der letzte dieser Reihe meiner Kommentare seit Anfang Oktober ist.

Dienstag, 2. Dezember 2025

Bildung und Entfremdung

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


1. halb voll, halb leer?
2. ,objektive‛ Kultur

In den letzten zwei Blogposts setze ich das Thema, um das es in meinem Blogpost vom 3. November geht, fort und beende damit zugleich die Anfang Oktober begonnene Postreihe zu Simmels „Philosophie des Geldes“.

Im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels geht Simmel auf die mit der Geldwirtschaft aufkommenden Entfremdungsphänomene ein; allerdings ohne auch hier ein einziges Mal den Begriff der Entfremdung zu erwähnen. (Vgl. Simmel 2009, S.628ff.) Simmel beschränkt sich darauf, diese Entfremdungsphänomene nüchtern als etwas zu beschreiben, das notwendigerweise zu einer Geldwirtschaft gehört, wie die eine Seite einer Medaille, die auch eine andere Seite hat, und es komme eben nur auf den Standpunkt an, den man einnimmt, ob man also den positiven Aspekt der durch das Geld ermöglichten Befreiung fokussiert oder den negativen Aspekt der mit dieser Befreiung einhergehenden Entwertung der Person, ihre „Unterwerfung“ unter ein rationales Kalkül.

Simmel steht jedenfalls eindeutig auf der Seite derer, die das Glas für halb voll halten und nicht für halb leer, auch wenn er diese Ambivalenzen der Geldwirtschaft detailliert und zutreffend beschreibt: „Die historischen Konstellationen, die innerlich von diesem Sinne“, nämlich als Ambivalenzen, „getragen werden, lassen sich in einer aufsteigenden Reihe ordnen, in der jedes Glied, je nach den sonstigen Verhältnissen der Elemente, ebenso deren Freiheit wie deren Unterdrückung Raum gibt.“ (Simmel 2009, S.630)

Es kommt Simmel an keiner Stelle in den Sinn, diese Geldwirtschaft, auch nicht in ihrer kapitalistischen Form, in Frage zu stellen. Die wirklichen Nöte des Proletariats kommen gar nicht in den Blick. Dafür interessiert er sich ausführlich für die „Langeweile“ eines ehemaligen Bauern, eines Rentners und eines pensionierten Beamten, die mit ihrem Leben nichts mehr anzufangen wissen. (Vgl. Simmel 2009, S.640f.) Eingeleitet werden die entsprechenden Betrachtungen mit einer Textstelle, die den Rahmen beschreibt, in dem Simmel die Entfremdung thematisiert. Diese Textstelle beginnt mit dem bedauernswerten Bauern, den man nicht etwa seines Landes enteignet, sondern es ihm abgekauft hat:

„So ordnet sich die ungeheure Gefahr, die die Zugeldesetzung für den Bauern bedeutete, einem allgemeinen System der menschlichen Freiheit ein. Allerdings war es Freiheit, was er gewann; aber nur Freiheit von etwas, nicht Freiheit zu etwas; allerdings Freiheit zu allem ‒ weil sie eben bloß negativ war ‒, tatsächlich aber eben deshalb ohne jede Direktive, ohne jeden bestimmten und bestimmenden Inhalt und deshalb zu jener Leerheit und Haltlosigkeit disponierend, die jedem zufälligen, launenhaften, verführerischen Impuls Ausbreitung ohne Widerstand gestattete ‒ entsprechend dem Schicksal des ungefestigten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene ,Freiheit‛ nur den Raum gibt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen.“ (Simmel 2009, S.640)

Das ist also die Geschichte, die Simmel über einen Bauern zu erzählen weiß, der sein Land verloren hat und dessen „ungeheure Gefahr“ darin gipfelt, mit sich und seiner Freiheit nichts anzufangen zu wissen. Kein Wort von den abertausenden Bauern, denen ihr Land schlicht und einfach geraubt worden war, ohne geldliche Entschädigung („Zugeldesetzung“), von Marx ironisch als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet, und die dafür der ,Freiheit‛ ausgeliefert gewesen waren, als Bettler und Tagelöhner obdachlos übers Land zu ziehen und ihre Arbeitskraft für einen Hungerlohn zu verkaufen, oft nicht mal das ‚freiwillig‛, sondern die aufgrund eigens für sie geschaffener Gesetze gegen Herumlungerei in Arbeitshäusern landeten.

Halb voll, eigentlich sogar mehr als halb voll, ist für Simmel das Glas, weil die andere Seite der Medaille bzw. der Geldmünze trotz der „Gleichgültigkeit“ des Geldes „gegen die Grundfragen des Innenlebens“, dessen größte Gefahr in der „Langeweile“ besteht, auch eine „Tendenz zur Versöhnlichkeit“ innewohnt, und zwar bis hin zur „Idee des Weltfriedens, die besonders in den liberalen Kreisen, den historischen Trägern des Intellektualismus und des Geldverkehrs gepflegt wird“: „(A)lles dies entspringt als positive Folge jenem negativen Zuge der Charakterlosigkeit.“ (Vgl. Simmel 2009, S.692)

Denn aufgrund dieser Charakterlosigkeit, so Simmel, verbinde das Geld die unterschiedlichsten Interessen und Weltanschauungen, die eben um dieses Geldes willen miteinander in Austausch treten und gemeinsame Projekte verfolgen, deren einziger Zweck es ist, Profit zu machen. Wenn also der Charakter eines Menschen etwas gleichermaßen Subjektives wie Individuelles ist, das die Menschen voneinander unterscheidet und trennt, so entspringt der scheinbar negativen Charakterlosigkeit des Geldes eine quantifizierende ,Objektivität‛, die alles und alle einander gleich macht und so miteinander verbindet. Und das ist etwas Positives.

Dazu mehr im folgenden Blogpost.

Montag, 1. Dezember 2025

Geld und Prostitution

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)

Christina von Braun, Der Preis des Geldes (2/2012)

Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht (1949)

Judith Butler, Wer hat Angst vor Gender? (2024/25)


In „Der Preis des Geldes“ (2/2012) schreibt Christina von Braun: „Die geschlechtliche Dimension des Geldes ist ‒ neben der Theologie und dem Alphabet ‒ das dritte Gebiet, das in der Betrachtung des Geldes eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielte: Die Unterschätzung der geschlechtlichen Perspektive ist umso erstaunlicher, als die Sexualphantasien, die das Geld umgeben, überall präsent sind: ob im Vergleich von Geld und Prostitution bei Georg Simmel, dem Askese-Ideal als Voraussetzung für das kapitalistische Gewinnstreben bei Max Weber oder der Gleichsetzung von Markt und Hysterie in den zahlreichen ,Ratgebern für den Börsenprofi‛.“ (v.Braun 2/2012, S.15)

Simmel unterschätzt im fünften Kapitel seiner „Philosophie des Geldes“ (1900) nicht einfach nur die geschlechtliche Perspektive, sondern seine diesbezüglichen Darstellungen sind als ein Beleg für die toxische Qualität der männlichen Phantasie zu nehmen, die Simmel selbst, auf fast schon komische Weise sich dafür entschuldigend, als „psychologische Konstruktion“ bezeichnet. (Vgl. Simmel 2009, S.604)

Ausgehend von der „Kaufehe“, in der in früheren Zeiten mal der Mann für seine künftige Ehefrau deren Sippe finanziell zu entschädigen hatte oder mal der Vater der Frau dem künftigen Schwiegersohn, für was eigentlich?, einen „Brautpreis“ zu entrichten hatte (vgl. Simmel 2009, S.583ff.), kommt Simmel in logischer Konsequenz auf die Prostitution zu sprechen, wo die Prostituierte sich für ihre sexuellen Dienste von einem ‚Freier‛ bezahlen läßt und dafür, obwohl sie nichts anderes tut, als die Tradition der Kaufehe fortzusetzen, geächtet wird.

Jedenfalls findet Simmel, daß die Prostitution „den persönlichsten und auf die größte Reserve angewiesenen Besitz der Frau“ ‒ meint er ihren Körper? ‒ in besonderer Weise „herabsetzt“. (Vgl. Simmel 2009, S.596) ‒ Simmel läßt offen, was genau er mit ‚Besitz‛ meint, aber angesichts der von ihm behaupteten heiklen Umstände muß es sich bei dem, was er sich dabei denkt, um mehr handeln als bloß um triviale Biologie. Es scheinen hier auch dem Geld sich entziehende Aspekte wie ‚Unversehrtheit‛ und ‚Heiligkeit‛ mit im Spiel zu sein.

Was aber bedeutet das nun für den „Besitz der Frau“? Es ist ganz und gar nicht harmlos, wenn Simmel diesem ‚Besitz‛ scheinbar harmlose Attribute wie „persönlichster“ und „größte Reserve“ zuordnet. Er ‚konstruiert‛ vielmehr eine Tabuzone um ‚die‛ Frau herum, deren Wächter nicht etwa die Frau selbst ist, sondern der Mann, der es also ist, der sie tatsächlich ‚besitzt‛ und über ihren Körper verfügt.

Letztlich läßt Simmel hier nicht nur seiner Phantasie die Zügel schießen, mit der Entschuldigung, aufgrund fehlender „hinreichend“ empirischer Daten ‚psychologisch konstruieren‛ zu müssen, sondern er nimmt auch die Phantasie seiner Leserschaft in Anspruch, sich bei dem, was er nicht sagt, selbst etwas zu denken. Angesichts der heteronormativen Qualität dieser Phantasien ist jedenfalls eine gesunde Dosis Dekonstruktivismus, dem ich als Phänomenologe sonst reserviert gegenüberstehe, sehr angebracht.

Und es geht nicht nur um Prostitution. Überhaupt gehört es, so Simmel, zur Natur bzw. zum Gattungscharakter der Frauen, die „noch tiefer in den Gattungstypus eingesenkt sind als die Männer“ (vgl. Simmel 2009, S.597), daß sie sich dem Mann in der Regel vollständiger hingeben als Männer im umgekehrten Fall:

„Indem die Frau sich verheiratet, gibt sie allermeistens in dieses Verhältnis die Gesamtheit ihrer Interessen und Energien hin, sie setzt ihre Persönlichkeit, Zentrum und Peripherie, restlos ein; während nicht nur die Sitte auch dem verheirateten Manne eine viel größere Bewegungsfreiheit einräumt, sondern er den wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit, den der Beruf okkupiert, nicht in die eheliche Beziehung hineingibt.“ (Simmel 2009, S.604)

Wie weit dieses toxische Gedankengut sogar mutige Vordenkerinnen der Frauenemanzipation wie Simone de Beauvoir infiziert hatte, zeigt sich daran, daß die Autorin von „Das andere Geschlecht“ (1949) aus dem damaligen Stand der Fortpflanzungsbiologie glaubte schlußfolgern zu müssen, daß den Frauen von Natur aus eine ‚empfangende‛ und deshalb passive Funktion zugewiesen sei. Das sei aber kein Schicksal, wie Beauvoir betonte, denn Frauen seien genauso frei, ihr Leben zu führen, wie Männer, und die Biologie bzw. der Körper liefert nur das Material, etwas daraus zu machen. Bis heute wird der pseudo-wissenschaftliche Mythos vom in die Eizelle ‚eindringenden‛ Samen und vom 50%-Anteil des Mannes verbreitet, wozu die irreführende Bezeichnung ‚Samen‛ beiträgt. Das männliche Ejakulat enthält keine einzige vollwertige Keimzelle, sondern nur auf den Transport des männlichen Erbguts reduzierte mobile Zellen.

Gerade las ich in Judith Butlers neuem Buch „Wer hat Angst vor Gender?“ (2024/25) als erstes das Kapitel „Was ist denn nun mit dem biologischen Geschlecht?“, in dem sie sich mit der Anti-Gender-Fraktion der Feministinnen auseinandersetzt, die der „Gendertheorie“ vorwerfen, das biologische Geschlecht zu leugnen. (Vgl. Butler 2025, S.240ff.) Ich selbst habe in diesem Blog in meiner Rezension zu „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1990/91) diesen Vorwurf gemacht, und es freut mich, daß sie jetzt die Berechtigung dieses Vorwurfs, wenn auch etwas umwegig formuliert, zugibt:

„Die transausschließenden Feministinnen wiederholen unbeirrt ihre Forderung, dass die Infragestellung des biologischen Determinismus nicht zu einer Infragestellung der Biologie an sich führen dürfe. Einverstanden. Was wir als Gender-Theorie bezeichnen, hat eine Weile lang tatsächlich in diese Richtung argumentiert.“ (Butler 2025, S.248; Auslassung des Gender-Gaps durch die Autorin; Hervorhebung ‒ DZ)

Ihrer Feststellung, daß die Biologie selbst, also als Moment der menschlichen Ontogenese, nicht einfach so als ideologisch abgetan werden dürfe, kann ich jedenfalls uneingeschränkt zustimmen: „Es wäre falsch und kontraproduktiv, die Existenz unterdrückerischer Systeme der Biologie zuzuschreiben, wo wir doch stattdessen fragen sollten, wie diese unterdrückerischen Systeme biologische Gegebenheiten verzerren, um ihre eigenen ungerechten Ziele zu erreichen.“ (Butler 2025, S.244; Hervorhebung ‒ JB)

Um so wichtiger ist es also, all diese pseudo-wissenschaftlichen Fortpflanzungsmythen über den ,Samen‛ des Mannes und seinen 50%-Anteil endlich aus der Welt zu schaffen. Die Behauptung dieses 50-Prozentanteils hat keinen anderen Sinn, als eine größtmögliche Verfügungsgewalt des Mannes über die Frau sicherzustellen.

Montag, 24. November 2025

Die unvollständige Zwölf

Salman Rushdie, Die elfte Stunde. Fünf Erzählungen (2025)


Was ist eine ‚elfte Stunde‛? Rein rechnerisch handelt es sich um den Zeitraum zwischen der vergangenen zehnten und der beginnenden zwölften Stunde, also die vorletzte Stunde. Rushdie zählt bzw. er-zählt sie anders. So heißt es auf der bezeichnenderweise elften Seite seines Buchs in der Erzählung „Im Süden“ (S.9ff.) über die beiden alten Männer: „Sie waren einundachtzig Jahre alt. Hielt man das Alter für einen Abend, der in der Mitternacht des Vergessens endete, war die elfte Stunde für sie längst angebrochen.“ (Rushdie 2025, S.11)

Rushdie orientiert sich also nicht an der Arithmetik, sondern an der Uhranzeige, an der die Minuten als 11:01 bis 11:59 abgelesen werden. Seine ‚elfte Stunde‛ ist also nicht die vorletzte, sondern die letzte Stunde vor Mitternacht.

Es heißt ja auch immer, daß die zwölfte Stunde die Geisterstunde sei, was nicht stimmen kann, wenn, wie es ebenfalls heißt, die Geisterstunde mit dem zwölften Glockenschlag beginnt. Denn dann wäre die eigentliche Geisterstunde nicht die zwölfte, sondern die dreizehnte Stunde, also zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. Insofern hält sich Rushdie mit seiner elften Stunde an den allgemeinen Sprachgebrauch.

Zur Elf paßt der Monat November, in dem ich diesen Blogpost schreibe. Ich werde mich deshalb der Elf als Brücke bedienen, um drei der fünf Erzählungen zu überspringen und nur kurz darauf einzugehen, was sie mit Rushdies Elf zu tun haben. Auf zwei der fünf Erzählungen werde ich detaillierter eingehen, allerdings auch hier nur, um die in ihnen verborgenen, mit der Elf verbundenen Gedanken zu bergen.

Kommen wir also zur zweiten Erzählung, „Die Musikerin von Kahani“ (S.29ff.). In dieser Erzählung gibt Rushdie der Elf eine weitere Bedeutung, die auch für die folgenden Erzählungen wichtig ist. Zwei Finanzimperien, das eine in Gestalt eines Sektenführers, das andere in Gestalt einer Familiendynastie, werden wegen Steuerhinterziehung aufgelöst und die Verantwortlichen zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Chef der Steuerfahndung erläutert: „‚Alphonse Capone.‛ ‒ ‚Steuerhinterziehung, elf Jahre Haft, größere Strafzahlungen, starb verarmt‛, erklärte einer seiner Untergebenen, was allerdings nicht nötig gewesen wäre, da Mommy als Amerikanerin die Drohung auch ohne diese zusätzliche Ausführung bereits verstanden hatte.“ (Vgl. Rushdie 2025, S.95f.)

Was für die Familiendynastie gilt, gilt auch für den Sektenführer, der abwinkt, als die Steuerfahnder ihn auf elf Jahre Gefängnis vorbereiten: „‚Bitte‛, sagte er, ‚ersparen sie mir die Erklärung.‛“ (Rushdie 2025, S.114)

Diese ‚elf Jahre‛ stehen also für den plötzlichen Abbruch von etwas, das bisher ungeheuer erfolgreich gewesen war; für etwas Unvollendetes; für etwas, das endet, bevor es zuende ist. Auf den November folgt kein Dezember. Auf dem Ziffernblatt finden Stunden- und Minutenzeiger nicht mehr zueinander.

In der dritten Erzählung, „Saumselig“ (S.118ff.), taucht die Elf nur in einem Hinweis auf den Film „Elf Uhr nachts“ auf. (Vgl. Rushdie 2025, S.168) Aber die eigentliche Bedeutung der Elf liegt wohl darin, daß wir es bei dieser Erzählung mit einer ‚Gespenster‛-Geschichte zu tun haben: der Ehrenfellow eines englischen Colleges erwacht aus einem Schlaf, der sich, als er sich aus dem Bett erhebt, als sein Tod herausstellt; denn sein Körper bleibt im Bett liegen.

Auf diese Erzählung möchte ich genauer eingehen. In einer Auseinandersetzung zwischen dem Profos des Colleges und dem verstorbenen Ehrenfellow hatte es dreißig Jahre zuvor einen dramatischen Zusammenstoß gegeben. Dieser Zusammenstoß ist der Grund, warum der Ehrenfellow über den Tod hinaus als Geist weiterlebt. Der Profos mit dem aus lauter Initialen bestehenden Namen L.L. Emmemm hatte nach dem Vorfall ein Buch geschrieben, dessen Thema: „Freiheit wider Gutsein“ (vgl. Rushdie 2025, S.175) eng mit diesem Vorfall verknüpft ist. Dieses Buch ist es, das mich hier besonders interessiert, weil es meinem philosophischen Anliegen, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nahesteht. (Vgl. Rushdie 2025, S.176)

In dem Buch geht es darum, daß Freiheit vor allem ein individuelles Anliegen ist, weil kein Individuum einem anderen gleicht, während ‚Güte‛ bzw. ‚Gutsein‛ immer etwas ist, auf das sich eine Gruppe geeinigt hat und das dann unterschiedslos für alle gilt, die zu dieser Gruppe gehören: „Laut seiner Argumentation war Gutsein ein kollektiver Wert, erreicht dank Übereinstimmung, dank gemeinsamer Auffassungen. Für sich allein konnte man nicht gut sein.“ (Rushdie 2025, S.176f.)

Wenn man also gut sein wollte, mußte man seine Freiheit einschränken. Wenn man hingegen frei sein wollte, konnte man nicht gut sein. Das ist der Grundkonflikt, mit dem sich der Profos in seinem Buch auseinandersetzt, wobei er sich auf die Seite der Gruppe bzw. der Gesellschaft stellt.

Was mich beim Lesen zunächst für den Profos einnahm, war seine zur Schau getragene Ehrenhaftigkeit. Er vertritt seinen Standpunkt in aller Nüchternheit und Sachlichkeit und ereifert sich nicht. Die Kritik, auf die sein Buch von allen Seiten stößt und die hauptsächlich darin besteht, das Dilemma zwischen Freiheit und Gutsein zu skandalisieren, weil es nahelegt, die Moral könnte amoralische Implikationen beinhalten, läßt der Autor gelassen von sich abperlen: „Der Sinn ernsthaften Denkens war es, die Gesellschaft zu ermutigen, sich infrage zu stellen. Das war bekannt. Er hatte dem nur einen weiteren Vorschlag hinzugefügt: dass der Sinn ernsthaften Denkens der war, den Einzelnen anzuregen, sich selbst infrage zu stellen, und alle aufzufordern, Gute wie Freie, sich gegenseitig zu hinterfragen.“ (Rushdie 2025, S.177)

In diesem Selbstverständnis, wie es der Profos für sich beansprucht, könnte ich mich als Blogger ohne weiteres wiederfinden.

Dann gibt es aber noch die Perspektive des Ehrenfellows, der seit dreißig Jahren in dem College wohnt und dessen Homosexualität zu einer Zeit, wo das in England noch ein Verbrechen gewesen ist, durch Denunziation aufgedeckt wird. Um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, stellt ihn der Profos im Interesse des Colleges vor die Wahl, Medikamente gegen seine Homosexualität einzunehmen oder mit Schimpf und Schande ins Gefängnis zu gehen. Die Medikamente beschränken künftig das kreative Potenzial des hochbegabten, intelligenten Ehrenfellows. Bis zu seinem Tod gelingt ihm keine Veröffentlichung mehr.

In einer letzten Auseinandersetzung, in der der Ehrenfellow den Profos nun seinerseits mit den Mitteln eines Geistes/Gespenstes zwingt, sein damaliges Verhalten öffentlich einzugestehen und von seinen Funktionen als angesehener Wissenschaftler und Collegeleiter zurückzutreten, wirft er ihm mit Anspielung auf dessen Buch vor, daß er, also der Profos, ihm, dem Ehrenfellow, „einen erheblichen Teil (seiner) Freiheit genommen“ habe, und „daran (sei) nichts gut gewesen“: „Er“, der Profos, „selbst sei der lebende Gegenbeweis seiner eigenen absurden Theorie.“ (Rushdie 2025, S.192)

In der vierten Erzählung, „Oklahoma“ (S.199ff.), taucht nirgendwo ein expliziter Hinweis auf die Elf bzw. auf die elfte Stunde auf. Ein impliziter Hinweis könnte folgende Textstelle sein: „So war das Leben, bis es vom Tod beendet wurde. Und niemand von uns konnte die eigene Geschichte vervollständigen, denn wir würden dann nicht länger da sein. Wir alle blieben erstarrt in unserem Waggon und warteten darauf, dass jemand anderes unsere Geschichte zu Ende erzählte, uns vervollständigte, falls denn jemandem daran gelegen war.“ (Rushdie 2025, S.256)

Der ‚Waggon‛, von dem in diesem Zitat die Rede ist, ist eine Anspielung auf den Amerikaroman von Franz Kafka, dessen Protagonist seinen Zielort nie erreicht, weil der Autor die Erzählung kurz vor der Ankunft des Zuges abbricht.

Um den verschiedenen Ebenen und komplexen Verweisen dieser Geschichte gerecht zu werden, würde ich eine Reihe von Blogposts schreiben müssen, bezweifle aber, daß es mir gelingen würde. Deshalb hier nur der Hinweis, daß es sich bei „Oklahoma“ wohl um eine Autofiktion handelt, in der Salman Rushdie selbst in verschiedenen Verkörperungen auftritt.

Auch in der fünften Erzählung, „Der alte Mann auf der Piazza“ (S.266ff.), wird die Elf nirgendwo explizit erwähnt. Sie steckt aber thematisch in dem Versuch, die Sprache, die selbst, verkörpert als weibliche Figur, in der Erzählung auftritt, zu vereindeutigen und auf bestimmte Inhalte festzulegen. Die Szenerie, vor der alles geschieht, ist eine Piazza in einer imaginären kleinen Stadt, auf der die Menschen nach einer langen Zeit des Ja-sagen-müssens die Freiheit zurückerobern, Nein! zu sagen.

Während einer fünf Jahre andauernden Diktatur, die an die jetzigen Zustände in den USA erinnert und in der die Menschen nicht mehr sagen durften, was sie meinten und dachten, waren die Menschen per Gesetz dazu gezwungen, alles gut zu finden, und es war ihnen verboten irgendetwas abzulehnen. In dieser Zeit besuchte der alte Mann jeden Nachmittag sein Café und genoß mit seiner Tasse Kaffee am Rande der Piazza die rundherum herrschende Ruhe und den Frieden. Dann aber taucht eine unbekannte Frau auf und setzt sich in einer gegenüberliegenden Ecke der Piazza an einen Tisch und plötzlich merken der alte Mann und die anderen Menschen, daß sich in ihnen die Wörter angestaut haben und heraus wollen aus ihren Kehlen und Mündern. Sie wollen herausgeschrieen werden. Die Menschen wollen Nein! brüllen, schreien, laut sein.

Und plötzlich ist die Diktatur zu Ende. Die Piazza füllt sich mit Menschen, die diskutieren und streiten und überall ist es laut und lebendig und alle sagen Nein!. Keiner ist mit irgendeinem anderen einverstanden. Jeder hat seine eigene Meinung.

Interessant ist, daß der Erzähler im Hintergrund mehrmals darauf hinweist, daß die einstmals schöne Sprache, bevor die Diktatur des Ja-sagens begann, eine Sprache sei, „in der es solch wundervolle Gedichte gibt!“, und die es jetzt offensichtlich nicht mehr gibt. (Vgl. Rushdie 2025, S.269) Und daß die Frau am anderen Ende der Piazza deswegen „schmollte“. ‒ Das gilt jetzt auch für das neue Nein-Sagen, dessen Eifer und Gnadenlosigkeit die „zu Recht gefeierten Gedichte unserer Sprache“ wieder nicht zulassen: „Die Oden und Sonette, die lyrischen und epischen Poeme wurden ignoriert, warfen sich in Posen und gestikulierten machtlos.“ (Rushdie 2025, S.272)

Dann kommt die Stunde des alten Mannes, der bislang dem Treiben auf der Piazza kopschüttelnd und leicht belustigt zugeschaut hatte. Die Streitenden brauchen einen Schiedsrichter, einen der ihnen sagt, wer recht hat, und küren den alten Mann zu ihrem Schiedsrichter; vielleicht weil er so friedlich dasitzt und sich raushält. Und er macht mit: „Er bittet die Bittsuchenden, sich ordentlich in einer Reihe aufzustellen, und seither verkündet er jeden Nachmittag zwischen vier und sechs, wenn die Hitze des Tages nachlässt, seine Urteile, erklärt in einem Ton wachsender Autorität, nein, die Erde ist nicht flach, und nein, die meisten Einwanderer sind so wenig Sexmonster wie Sie oder ich, und ja, hundertprozentig, Gott existiert, ebenso Himmel und Hölle.“ (Rushdie 2025, S.279)

Dann aber nimmt der alte Mann doch Partei. Er ergreift Partei für die ‚Richtigen‛, die ihm sympathisch sind, gegen die ‚Falschen‛, die ihm unsympathisch sind, und er fängt an, zwischen guten Wörtern, die man sagen darf, und schlechten Wörtern, die man nicht sagen darf, zu unterscheiden: „Und jetzt ist er es der nuancenfreie Gewissheiten verteilt, der mit jedem vergehenden Tag eitler wird.“ (Rushdie 2025, S.281)

Der alte Mann hat Gefallen an einer neuen Form der Herrschaft gefunden, die aus dem binären Schema von Ja und Nein herausfällt: die Herrschaft über korrekte Worte, die Herrschaft über das, was man sagen darf und was nicht. Eine sehr diffizile und komplizierte Form der Herrschaft. Man könnte sie vielleicht als Wokeness bezeichnen. Jedenfalls: der Frau am anderen Ende der Piazza gefällt auch diese Herrschaft nicht. Auch unter dieser Herrschaft werden keine Gedichte mehr geschrieben.

Sie warnt die Menschen auf der Piazza. Sie, die Frau, die die Sprache ist, macht sich Sorgen um die Sprache: „Seit wir sie kennen, ist sie die beste aller Sprachen, quirlig, energisch, lebhaft, doch muss sie gestehen, sich in letzter Zeit unwohl gefühlt zu haben. Fiebrig an manchen Tagen, an anderen voller Schmerz und Pein. ... Sie fürchte zu verkommen. Es wäre sogar möglich ‒ es fällt ihr schwer, dies zuzugeben, sogar vor sich selbst ‒, dass sie stirbt.“ (Rushdie 2025, S.283)

Und sie stirbt. Am Ende gehen der Geschichte die Worte aus. (Vgl. Rushdie 2025, S.285)

Das ist die elfte Stunde dieser Erzählung. Weil die Sprache dreimal vereindeutigt, auf jeweils eine einzige Bedeutung festgelegt werden sollte, auf die Diktatur des Ja, auf die Anarchie des Nein, auf die richtigen, politisch korrekten Wörter, verliert sie die ihr wesentliche Unfertigkeit. Die unfertige elfte Stunde ist ihr wesentlich. Sie ist das, was sie quirlig, energisch und lebhaft macht. Wo sie sich zur Zwölf rundet, stirbt die Sprache.

Montag, 3. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)

Wilhelm von Humboldt:

Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792/1980)

Theorie der Bildung des Menschen (undatiert/1980)

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (3/1985, 2 Bde.)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Der Begriff der Entfremdung, wie ich ihn aus der Bildungsphilosophie kenne, reicht mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen von Simmels „Philosophie des Geldes“ (1900) zurück ins 18. und 19. Jhdt. und ist mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau, Wilhelm von Humboldt, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx verknüpft. Wilhelm von Humboldt sah den Kern der Bildung in einem bestimmten Verhältnis von Mensch und Welt, und Entfremdung bestand für ihn in einer massiven Störung dieses Mensch-Welt-Verhältnisses. Die Menschenwelt drohte in Humboldts Augen schon damals, die Naturwelt so vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, daß von ihr keine bildende Wirkung mehr ausging. (Vgl. „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1792/1980) und „Theorie der Bildung des Menschen“ (undatiert/1980))

Humboldt ging davon aus, daß sich die Menschen, ohne die Gelegenheit, Widerstände zu überwinden, wie sie ihnen die nichtmenschliche Natur entgegensetzte, nicht mehr als Handlungssubjekte erleben können. Wo alles in der Menschenwelt aufgeht, gibt es keine Welt mehr, an derem Widerstand sie sich zum Menschen formen können. Wo ihnen nichts mehr fremd ist, werden sie sich selbst entfremdet.

Auch Simmel hatte im ersten Kapitel von „Philosophie des Geldes“ den ,Wert‛ der Welt auf den Widerstand zurückgeführt, den die Objekte unserem Begehren leisten. Im vierten Kapitel nimmt er das überraschenderweise wieder zurück: an einer Stelle, in der es darum geht, daß kein Besitz von Dauer ist, weil alles in der Welt veränderlich ist. Um aus diesen ständigen Veränderungsprozessen einzelne Objekte herauszufiltern und ihrem quasi-flüssigen Zustand eine bestimmte Gestalt zuzuordnen, muß man sie identifizieren. Die „ewigen Naturgesetze“, von denen wir keineswegs wissen können, ob sie wirklich ewig sind, sollen uns dabei helfen. (Vgl. Simmel 2009, S.467f.)

Was die objektiven Gegenstände betrifft, führen Simmels Überlegungen zu einem überraschenden Geständnis: „Gewiß ist der objektive Gegenstand im gleichen Sinn (wie ein Erkenntnisgegenstand ‒ DZ) zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen, in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu bestimmen(.)“ (Vgl. Simmel 2009, S.468)

Simmel interessiert sich hier also nur noch für die Identifizierbarkeit von Objekten, und nicht mehr für ihre Widerständigkeit, und das so wenig, daß er sich einen anderen Zweck als den der Identifizierung gar nicht mehr vorstellen kann oder will. Das paßt zur Funktionsweise des Geldes, das alles quantifiziert. Quantifizieren bedeutet identifizieren. Um eine Menge zu bilden, müssen die ,Quanten‛ durch Zahlen repräsentiert werden können. Ein Etwas ist Eins, zwei Etwas sind zwei Eins, drei Etwas sind drei Eins usw. Wo ,etwas‛ zählbar wird, verliert es seine Widerständigkeit. Wo nur noch das Quantifizieren ‚zählt‛, und das ist in der Geldwirtschaft der Fall, verlieren wir die Welt. Es gibt kein Mensch-Weltverhältnis mehr.

Simmels Freiheitsbegriff beruht auf der Beschaffenheit der Objekte, die wir begehren. Anders als bei der Wertbestimmung dieser Objekte, ist der Mensch am freiesten dort, wo die Objekte ihm keinen Widerstand leisten. Das gilt auch für die Mitmenschen, an die wir uns gebunden (verpflichtet) fühlen. Am freiesten sind wir dort, wo wir ihnen gegenüber nicht verantwortlich (rechenschaftspflichtig) sind. Simmel schlägt vor, sich eine Skala vorzustellen, auf der wir die Objekte in unseren Besitz nach dem Grad ihrer Widerständigkeit bestimmen:

„Die Freiheit findet nun ihre Grenze an der Beschaffenheit des besessenen Objektes selbst. Das wird schon demjenigen Objekt gegenüber sehr fühlbar, das wir doch am unbeschränktesten zu besitzen glauben, unserem Körper. Auch er gibt den psychischen Impulsen nur innerhalb der eigenen Gesetze seiner Konstitution nach, und gewisse Bewegungen und Leistungen kann unser Wille nicht mit irgendwelchem Erfolge von ihm verlangen. ... Im Großen und Ganzen ist der Wille unseren Lebensbedingungen so angepaßt, daß er von den Dingen nicht verlangt, was sie nicht leisten können, daß die Beschränkung unserer Freiheit durch die eigenen Gesetze des Besitzes ihnen gegenüber nicht zu positiver Empfindung gelangt; dennoch ließe sich eine Skala der Objekte aufstellen, von der Frage aus, wie weit das Wollen sich im allgemeinen ihrer bemächtigen kann und von wo an sie diesem nicht mehr durchdringbar sind, wie weit sie also wirklich ,besessen‛ werden können.“ (Simmel 2009, S.501f.)

Mit Simmel können wir eine Linie ziehen, die mit der Genese des Wertes beginnt, als einem Effekt des Widerstands der Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen, bis hin zum Geld als dem Wertobjekt, das sich am schmiegsamsten unserem Willen anpaßt, williger noch als unser eigener Körper. Paradoxerweise erweist sich die durchs Geld ermöglichte Omnipotenz schlußendlich als Ruin unserer Freiheit:

„(N)ur indem ein Objekt etwas für sich ist, kann es etwas für uns sein; nur also, indem es unserer Freiheit eine Grenze setzt, gibt es ihr Raum. Diese logische Entgegengesetztheit, in deren Spannung sich demnach die Einheit unseres Verhaltens zu den Dingen realisiert, erreicht am Gelde ihr Maximum: es ist mehr für uns, als irgendein Besitzstück, weil es uns ohne Reserve gehorcht ‒ und es ist weniger für uns, als irgendeines, weil ihm jeglicher Inhalt fehlt, der über die bloße Form des Besitzes hinaus aneigenbar wäre. Wir haben es mehr als alles andere, aber wir haben haben weniger an ihm, als an allem anderen.“ (Simmel 2009, S.503)

Simmel beschreibt hier den Zustand der vollkommenen Entfremdung, ohne diesen Begriff zu verwenden. Ohne es so deutlich auf den Punkt zu bringen, preist Simmel die neue individuelle Freiheit, die der Mensch dem Geld verdankt, als eine gleichermaßen weltlose wie selbstbezügliche Existenzform: „Indem das Geld gleichsam einen Keil zwischen die Person und die Sache treibt, zerreißt es zunächst wohltätige und stützende Verbindungen, leitet aber doch jene Verselbständigung beider gegeneinander ein, in der jedes von beiden seine volle, befriedigende, von dem andern ungestörte Entwicklung finden kann.“ (Simmel 2009, S.525)

Auffällig ist, daß Simmel hier die Weltseite, nämlich die glücklicherweise überwundenen Bindungen an Menschen und Sachen, mit ‚der‛ Sache gleichsetzt, denn mit dieser Sache ist nicht etwa ein objektiver Sachverhalt gemeint, der mit dem umfassenden Anspruch einer Welt einherginge, sondern sich den gleichermaßen reduzierten wie abstrakten Kriterien der Geldwirtschaft unterwirft. Indem also das Geld einen „Keil“ zwischen der Person und der Geldwirtschaft ‒ auf nichts anderes läuft diese ‚Sache‛ hinaus ‒ treibt, wird alles, was die Welt einmal sonst noch gewesen ist, der Person übertragen und ihr als Freiheit, nach dem Motto: nun verwirkliche dich mal schön, gutgeschrieben. Aber dieses subjektive Konto ist bloße Einbildung. Es gibt keine sich für sich verwirklichenden ,Personen‛, weil ihre Welt keine Welt mehr ist.

Einer der hauptsächlichen Effekte der Geldwirtschaft, die Arbeitsteilung, die bzw. der bis dahin, bis Simmel, als Entfremdung beklagt wurde und dem man einmal mit Bildung zu begegnen versucht hatte, soll nun plötzlich für Freiheit stehen und nicht mehr für Unfreiheit. Wenn Simmel damit argumentiert, daß bislang „das Äußerliche und bloß Zweckmäßige ... noch mit dem Persönlich-Subjektiven des Individuums allzu eng assoziiert“ gewesen sei (vgl. Simmel 2009, S.524f.), übersieht er geflissentlich, daß gerade die Individualität ihren Ausdruck in eben der Verbindung mit der Welt findet, die Simmel als ‚Bindung‛ mit Unfreiheit gleichsetzt, und nicht in der arbeitsteiligen Distanz zu ihr; eine Distanz, die diese Welt dem „rein technischen Betriebe“ überläßt, so daß jetzt „jedes“, nämlich der Mensch für sich und der Betrieb für sich, „seinen eigenen Gesetzen ganz anders folgen kann“ (vgl. Simmel 2009, S.517).

Die Frage, die sich hier stellt, ist eben nicht, wie der Umgang mit der Welt durch ihre wirtschaftliche Vernutzung noch mehr und noch gründlicher vom „Persönlich-Subjektiven des Individuums“ (Simmel 2009, S.525) getrennt werden kann, sondern die Frage, wenn denn eine Versöhnung als undenkbar erscheint, wie wenigsten die Folgen dieser Trennung gemildert und erträglicher gemacht werden können.

Die Konsequenz des Simmelschen Freiheitsbegriffs hat Jürgen Habermas mit dem Begriff der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985, 2 Bde.)) auf den Punkt gebracht. Simmel selbst beschreibt diese Kolonialisierungsprozesse, ohne diesen Begriff zu seiner Zeit schon zur Verfügung zu haben: „Wenn unter mehreren Interessen, die die Vereinigung eines Kreises (Lebenskreises: Familie, Verein etc. ‒ DZ) ausmachen, das eine auf alle anderen zerstörend wirkt, so wird natürlich dieses selbst die anderen überleben und schließlich noch die einzige Verbindung zwischen den Ebenen darstellen, deren sonstige Zusammenhänge es zernagt hat. Nicht nur aufgrund seines immanenten Charakters, sondern gerade weil es auf so viele andere Verbindungsarten der Menschen destruktiv wirkt, sehen wir das Geld den Zusammenhang zwischen sonst ganz zusammenhanglosen Elementen herstellen. Und es gibt heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr, die nicht, als Ganzes, irgendein Geldinteresse einschlösse, und sei es nur die Saalmiete einer religiösen Korporation. Durch den Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungsleben deshalb mehr und mehr annimmt, wird es mehr und mehr entseelt; die ganze Herzlosigkeit des Geldes spiegelt sich so in der sozialen Kultur, die von ihm bestimmt wird.“ (Simmel 2009, S.540; Hervorhebungen ‒ DZ)

Wir haben es hier mit einer geradezu klassischen Beschreibung der fortschreitenden Entfremdung, eben der ,Entseelung‛ der Lebenswelt (Einungsleben) zu tun, als deren Symptom Simmel den Sozialismus nennt, der zwischen der „Rationalisierung des Lebens“ und den „dumpfen kommunistischen Instinkten“ ‚primitiverer‛ Stufen der Kulturentwicklung zu vermitteln versucht. Simmel stellt den höheren Kulturstufen der Geldwirtschaft gerne ,primitive‛ Epochen gegenüber. (Vgl. Simmel 2009, S.93, 161, 125f., 178-183, 185,189, 418, 441, 453f., 464, 497f. u.ö.). Jedenfalls, so Simmel, tauchen diese uralten Instinkte in der gegenwärtigen Geldwirtschaft wieder auf, und zwar als Reaktion auf die entseelenden Rationalisierungsprozesse:

„In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte einander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äußerste Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andererseits als die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner (des Sozialismus ‒ DZ) Anziehungskraft: er ist Rationalismus und Reaktion auf den Rationalismus.“ (Simmel 2009, S.541)

Dieser sozialistischen Reaktion auf den Rationalismus steht Simmel offensichtlich sehr reserviert gegenüber, wenn er sie als „Verlängerung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens“ disqualifiziert. Statt die Notwendigkeit einer humanen Antwort auf die von der Geldwirtschaft verursachten Entfremdungsprozesse anzuerkennen und zu diskutieren, verbreitert Simmel die Kluft zwischen entfremdender Rationalisierung und atavistischen Pathologien noch mit der nüchternen Feststellung, daß „das Geldwesen das Individuum auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Beziehungen, wie Familie und Freundschaft, andererseits nur den weitesten Kreis, etwa des Vaterlands oder der Menschheit überhaupt übrig gelassen hat“. (Simmel 2009, S.541)

Die Heilung der durch die Geldwirtschaft geschlagenen Wunden (Entseelung) sieht Simmel weder in gesellschaftlichen Reformen oder Revolutionen noch in individuellen Bildungsprozessen, sondern in der Geldwirtschaft selbst: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Bildung im humboldtschen Sinne, die nichts anderes zum Gegenstand hat als die ganze Welt, ist überflüssig. Die Geldwirtschaft wird schon alles richten.

* * *

Anfang Dezember poste ich die letzten drei Blogposts zu Simmels „Philosophie des Geldes“.

Sonntag, 2. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Gleich zu Beginn des vierten Kapitels setzt Simmel seinen Kontrapunkt zu Kants Moralphilosophie. Unfrei ist der Mensch nicht nur im Sinne einer Naturkausalität, in der jede Wirkung eine Ursache hat und im Sinne der dritten kosmologischen Idee eine unendliche Reihe in Richtung auf eine nie zu erreichende Erstursache eröffnet, sondern auch im Sinne einer moralischen Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen: „Jeder Verpflichtung, die nicht einer bloßen Idee gegenüber steht, entspricht das Forderungsrecht eines Anderen, weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert, die ein ideeller oder gesellschaftlicher Imperativ oder die das eigene Ich uns auferlegt.“ (Simmel 2009, S.429f.)

Das ist von Simmel bewußt vorsichtig formuliert. Niemand kann ihm vorwerfen, er lehne Kants kategorischen Imperativ ab, denn hier haben wir es ja nur mit einer „bloßen Idee“ zu tun. Er spricht bloß von der Abhängigkeit von anderen Menschen und kann deshalb alle Angriffe auf sich damit abwehren, daß er sich selbstbewußt auf Kants Seite stellt: Gerade Kant lehne ja, so kann er argumentieren, jede Abhängigkeit von anderen Menschen ab, da der kategorische Imperativ mit dem guten Willen des Handlungssubjekts übereinstimmt und ihm nicht von anderen Menschen und schon gar nicht von kirchlichen und staatlichen Autoritäten aufgezwungen werden könne.

Aber das ist Wortklauberei. Wenn Simmel von der individuellen Freiheit spricht, argumentiert er nicht mit einer Freiheit jenseits der Naturkausalität und jenseits von gesellschaftlichen Autoritäten, sondern mit einer sich von jeder Verantwortung der menschlichen Gemeinschaft gegenüber lossagenden persönlichen Freiheit. Simmels Vorgehen ist einer „Philosophie des Geldes“ geschuldet, wie er sie in seinem Buch vor allem als wirtschaftliche Abhängigkeit entwickelt, diese aber gleichzeitig in eine individuelle Unabhängigkeit umdeutet.

Wir haben es hier, Abhängigkeit als Unabhängigkeit, mit einer Antinomie zu tun, die von Simmel dadurch aufgelöst wird, daß er eine neue gesellschaftliche Kausalität postuliert, die nicht mehr durch die unmittelbare Abhängigkeit zwischen Mensch und Mensch bestimmt ist, sondern durch ein unpersönliches, sachliches Drittes: durch das Geld. Wo alle gesellschaftlichen Aktivitäten mit Hilfe des Geldes entsubjektiviert bzw. mit Simmel „entseelt“ werden (vgl. Simmel 2009, S.540), sind, so behauptet zumindest Simmel, die Individuen freigestellt, sich ihre eigenen Zwecke zu setzen: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises (z.B. einer Nation ‒ DZ) herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Die Formel, die Simmel hier aufstellt ist so schlicht, wie sie verblüffend ist: je mehr Menschen von der Geldwirtschaft erfaßt und von ihr abhängig gemacht werden, um so größer die individuelle Freiheit.

Die Evolution der individuellen Freiheit vollzieht sich in drei Stufen: auf der er­sten befinden sich Sklavenhaltergesellschaften, in denen sich die Abhängigkeit des Sklaven vom Sklavenhalter auf die ganze Person erstreckt. (Vgl. Simmel 2009, S.430f.) Diese Abhängigkeit reduziert sich auf der zweiten Stufe in der Abhängigkeit der Hörigen gegenüber einem Gutsbesitzer. Der Hörige liefert dem Gutsherrn die Fron in Form von Naturalien. Diese Naturalien, welche und wie viel, sind zwar festgelegt, aber darin, wie der Hörige sie erwirtschaftet, ist er frei. Der Gutsherr interessiert sich nur für das Produkt. Die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherrn ist also im Vergleich zum Sklavenhalter gelockert. (Vgl. Simmel 2009, S.431f.)

Die dritte Stufe ist die Ablösung der Naturalien durch Geld: „Die dritte Stufe, bei der aus dem Produkt die Persönlichkeit wirklich ausgeschieden ist und der Anspruch sich gar nicht mehr in diese hineinerstreckt, wird mit der Ablösung der Naturabgabe durch die Geldabgabe erreicht.“ (Simmel 2009, S.433)

Auf dieser Stufe entsteht die Möglichkeit, dem Gutsherrn die Naturabgabenpflicht durch Geldzahlungen abzukaufen: „Höher kann die persönliche Freiheit vor dem Wegfall jedes bezüglichen Rechtes des Grundherrn nicht steigen, als wenn die Verpflichtung des Untertanen in eine Geldabgabe verwandelt ist, die der Grundherr annehmen muß.“ (Simmel 2009, S.438)

Nun wissen wir aber ‒ und Simmel weiß das ebenfalls ‒, daß auf die Abhängigkeit der Bauern und der Landbevölkerung von den Landbesitzern, eine weitere Stufe folgt: die Lohnarbeit; und diese führt zu ganz neuen Abhängigkeiten der Lohnarbeiter vom Unternehmer. Hier ist das Geld kein Mittel der Befreiung mehr, sondern ein Medium extremer Stratifizierungen. Die gesellschaftliche Kausalität, die hier die Form einer Naturgesetzlichkeit annimmt, wird also keineswegs durch die Verminderung von Abhängigkeiten durch die Gewährleistung neuer individueller Freiheiten außer Kraft gesetzt, sondern führt im Gegenteil zu Abhängigkeiten neuer Art, die diesmal gerade durch das Geld ermöglicht werden.

Die mit der Lohnarbeit einhergehende gesellschaftliche Kausalität wird in der institutionellen Form des unpersönlichen Dritten auf Dauer gestellt. Zu ,dritten‛ Personen werden Menschen überall dort, wo ihr persönlicher Umgang mit einander zunehmend dadurch bestimmt wird, daß sie aufgrund der fortgeschrittenen Arbeitsteilung für den Warentausch keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Simmel sieht darin eine die individuelle Freiheit ermöglichende Errungenschaft. (Vgl. Simmel 2009, S.447) Also: Freiheit = Verantwortungslosigkeit. Das ist genau das Gegenteil dessen, was Kant unter Freiheit versteht: „So ist also auf dem Gipfel der Geldwirtschaft ein Handelsmodus möglich geworden, der, durch die Überführung des subjektiven Fundaments des Geschäfts in ein objektives, beiden Parteien ihre Verantwortlichkeiten erleichtert und dem Vorteil der einen keinerlei Nachteil der anderen gegenüberstellt.“ (Simmel 2009, S.448)

Wenn das Geld den Besitzer gewechselt hat und die Ware verkauft ist, gehen beide, Käufer und Verkäufer, auseinander, ohne daß sich der Verkäufer weiter für die Ware interessiert und der Käufer noch irgendwelche Reklamationsansprüche geltend machen könnte. Er hat die Ware gesehen und geprüft und durch die Bezahlung deren Güte bestätigt: er hat bezahlt, was er bekommen hat. Das Geld macht persönliche Verantwortung überflüssig. Es befreit uns von dieser lästigen Verpflichtung. Bei Simmel geht also mit der Freiheit Verantwortungslosigkeit einher, während es bei Kant eine Freiheit ohne Verantwortung gar nicht geben kann.

Eben dies führt zu einer neuen, dem Geld geschuldeten Beziehungsform: die Beziehungsform der dritten Person: „Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muß, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören ‒ hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen.“ (Simmel 2009, S.449f.)

Im zweiten Kapitel deutet sich diese neue Beziehungsform in folgender Textstelle an, in der Simmel den Sinn des Gleichheitszeichens in Ich = Du in sein Gegenteil verkehrt. Ohne es zu wissen, deutet Simmel hier das vielleicht unvermeidbare Ende jeder freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen Ich und Du an: „(S)o unvergleichbar zwei Personen in ihren angebbaren Eigenschaften sein mögen, so stiften Beziehungen zu einem je dritten Menschen doch eine Gleichheit zwischen ihnen; sobald die erste die gleiche Liebe oder Haß, Herrschaft oder Unterworfenheit einer dritten gegenüber zeigt, wie die zweite einer vierten gegenüber, so haben diese Relationen hier der Fremdheit des Fürsichseins jener eine tiefe und wesentliche Gleichheit untergebaut.“ (Simmel 2009, S.184)

Nicht daß zwei Menschen verschiedene Eigenschaften haben können, ist hier für mich das Problem, da diese Verschiedenheit die Gleichheit und Freiheit zwischen ihnen nicht außer Kraft setzt; auch ist es kein Problem, daß zwei Menschen unabhängig von ihrer eigenen Wechselbeziehung gleichermaßen freie und gleiche Wechselbeziehungen auch zu anderen (dritten und vierten) Menschen haben können; sondern das Problem ist, daß Simmel die Gleichheit zwischen zwei Menschen erst mittels der Relativierung ihrer persönlichen Eigenschaften durch Ausweitung ihrer mitmenschlichen Kontakte auf dritte, vierte und mehr Personen gewährleistet sieht; eben im Sinne jenes weiter oben schon zitierten „großen Kreises“ (vgl. Simmel 2009, S.549f.). Wenn Simmel in diesem Zusammenhang von „substantieller Unmittelbarkeit“ spricht (vgl. Simmel 2009, S.184), bedeutet das, daß es ihm hier nicht um irgendwelche beliebigen Manifestationen wie „Liebe oder Haß“ geht, sondern um die Einzigartigkeit des Ich, die er gleichwohl ausgerechnet durch ihre Relativierung qua Ausweitung auf einen großen Kreis gewährleistet sieht.

Aber anstatt daß die individuelle Freiheit durch Verantwortungslosigkeit vergrößert wird, entstehen, wie schon erörtert, jetzt neue Abhängigkeiten gegenüber Dritten. Dabei soll es Simmel zufolge ein Vorteil sein, daß diese Abhängigkeit nur noch eine unpersönliche ist: „Während der Mensch der früheren Stufe die geringere Anzahl seiner Abhängigkeiten mit der Enge persönlicher Beziehung, oft persönlicher Unersetzbarkeit derselben bezahlen mußte, werden wir für die Vielheit unserer Abhängigkeiten durch die Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehenden Personen und durch die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt. ... Dies ist nun die günstigste Lage, um innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins, zustande zu bringen.“ (Simmel 2009, S.454f.)

Mit der „Freiheit des Wechsels“ ist gemeint, daß wir ,dritte Personen‛ jederzeit durch andere austauschen können, z.B. wenn ein Handwerker schlechte Arbeitsergebnisse liefert, suchen wir uns einen anderen. Oder wenn uns ein Arbeitgeber schlecht behandelt, suchen wir uns einen anderen. Das Problem besteht darin, daß wir die Befreiung aus persönlichen Abhängigkeiten mit neuen unpersönlichen Abhängigkeiten bezahlen müssen, z.B. daß wir durch die Arbeitsteilung auf die Dienste von fremden Menschen angewiesen sind, wo wir früher entweder das meiste selbst tun oder es kundigeren Angehörigen der eigenen kleinen Gemeinschaft überlassen konnten. Daß diese ihre Dienste sorgfältig erledigten, gewährte das beidseitige, in langen Jahren gewachsene Vertrauensverhältnis.

Simmel preist hingegen die dem fehlenden Vertrauensverhältnis entsprechende „Indifferenz“ (Gleichgültigkeit) der anderen Person gegenüber als Voraussetzung individueller Freiheit: „Die Indifferenz spaltet sich erst allmählich zum Gegensatz, aus der Produktion, dem Produkte, dem Umsatz tritt das personale Element mehr und mehr zurück. Dieser Prozeß aber entbindet die individuelle Freiheit.“ (Simmel 2009, S.463)

Gleichermaßen materieller wie ideeller Garant dieser individuellen Freiheit ist das Geld: „Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines eigenartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben, es ist genau das Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet, ist für das unterschiedsempfindliche Bewußtsein der Hintergrund, von dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre Freiheit erst deutlich abhebt.“ (Simmel 2009, S.464)

Was Simmel hier beschreibt, nannte man früher mal Entfremdung. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

Samstag, 1. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

In den folgenden Blogposts befasse ich mich mit dem vierten Kapitel aus Simmels „Philosophie des Geldes“, in dem es um die individuelle Freiheit geht, die nach Simmels Auffassung erst durch das Geld möglich und in der heutigen Form der Geldwirtschaft, dem Kapitalismus, zur Vollendung gebracht wird. Freiheit ist ein zentraler Begriff der Moralphilosophie von Immanuel Kant, und Simmels Freiheitsbegriff setzt sich ganz spezifisch von ihr ab. Mit Geld hat Kants Moralbegriff nicht das geringste zu tun, und die Freiheit der Moralsubjekte besteht in der Befolgung von Pflichten. Grundlage des Kantischen Moralbegriffs ist der subjektive Wille des einzelnen Menschen, und dieser wiederum ist im moralischen Sinne nur dann gut bzw. ‚frei‛, wenn er der obersten Pflicht genügt, wie sie Kant im kategorischen Imperativ ausformuliert hat.

In der dritten von insgesamt vier kosmologischen Ideen setzt Kant die Freiheit der Naturkausalität entgegen. Simmel diskutiert zwar erst im vierten Kapitel das Problem der Freiheit, aber trotzdem haben seine Überlegungen im ersten Kapitel zur Wertbestimmung von einerseits begehrten Objekten und andererseits menschlichem Handeln moralphilosophische Implikationen. Hinzu kommt, daß Simmel diese Wertbestimmungen, aus denen er die heutige Geldwirtschaft als ihre höchste Entwicklungsstufe ableitet, am Muster der kosmologischen Ideen orientiert, wie sie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ausformuliert. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.) Die dritte kosmologische Idee enthält schon den Kern der Moralphilosophie, die Kant in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. (In: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd.4, Darmstadt 1983, S.11ff. und S.107ff.)

Die moralphilosophischen Implikationen betreffen neben dem interindividuellen Verhältnis zwischen den Menschen, aber auch zwischen den Menschen und den Objekten, vor allem das intraindividuelle Verhältnis des Menschen zu sich selbst, also zwischen verschiedenen inneren Zuständen im einzelnen Menschen: „(A)lles sittliche Verdienst bedeutet, daß um der sittlich wünschenswerten Tat willen erst entgegengerichtete Triebe und Wünsche niedergekämpft und geopfert werden müßten. Wenn sie ohne jede Überwindung geschieht, als der selbstverständliche Erfolg ungehemmter Impulse, so wird ihr, so objektiv erwünscht ihr Inhalt sei, dennoch nicht in demselben Sinn ein subjektiv sittlicher Wert zugesprochen.“ (Simmel 2009, S.75)

Das entspricht dem Ansatz von Immanuel Kant, der stets betonte, wie sehr die Qualität des moralischen Handelns im Maß der Selbstüberwindung begründet ist, mit der wir uns selbst zur Einhaltung des kategorischen Imperativs nötigen müssen. Kant überhöht diese Nötigung zu einem moralischen Prinzip. Wenn wir nur aus Neigung so handeln, wie es dem kategorischen Imperativ entspricht, dann handeln wir nicht aus freiem Willen, sondern bleiben abhängig von unseren Launen und zufälligen Impulsen.

Simmel übernimmt scheinbar diese Position, denn sie paßt an dieser Stelle in sein Konzept. Er vermengt eine seiner zentralen Wertbestimmungen, nämlich die Widerständigkeit der äußeren Welt, die allererst den begehrten Objekten ihren Wert verleiht, mit der Widerständigkeit der inneren Bewußtseinswelt, in der sich unsere Gefühle in Form von ,Trieben‛ und ,Wünschen‛ den moralischen Anforderungen an unser Handeln widersetzen. Indem wir also unseren inneren Widerstand überwinden müssen, verleihen wir unserem moralischen Handeln einen ‚Wert‛. Ein Handeln, das auf keine inneren Widerstände stößt, hat also auch keinen moralischen Wert. Das Ergebnis ist wiedereinmal, daß der Wille sich gegen sich selbst richten muß, um einen Wert zu haben. Und damit befindet sich Simmel nicht nur in schlechter christlicher, sondern auch in ebenso schlechter Kantischer Tradition.

Für Kant wäre es widersinnig gewesen, dem einzelnen Menschen für den „selbstverständlichen Erfolg“ seiner „ungehemmten“, aber als solchen schon gutartigen „Impulse“ zu gratulieren. Seine Moralphilosophie führt die christliche Tradition fort, in der nur ein Wille zählt: der Wille Gottes. Denn auch bei ihm zählt nur ein Wille, dem wir unsere Neigungen und Gefühle unterwerfen, als hätten wir es bei ihnen nicht ebenfalls mit einem Willen zu tun, aber eben mit einem, dessen Charakter keineswegs mit moralischer Zwangsläufigkeit auf gut oder böse hin bestimmt werden muß.

Eine gute Tat, die eigene Begehrungen überwindet, hat durchaus ihren sittlichen Wert. Aber hat deshalb die gute Tat, die den eigenen Neigungen entspricht, keinen Wert? Ist es nicht vielmehr so, daß das Gute, das wir geben, erst dann als ‚Gabe‛ bezeichnet werden kann, wenn wir sie gerne geben und nicht widerwillig? Ist es nicht so, daß unser Widerwille, den wir mühsam überwinden, den Wert der Gabe, zu der wir uns zwingen müssen, mindert und sogar vernichtet?

Unser moralisches Handeln ist immer auch eine Gabe. Unsere Mitmenschen, als Einzelne schon gar nicht und je nach Kontext nicht mal immer als Gesellschaft, stehen in keinem ab­strakten Werteverhältnis zu unserem Handeln. Das bringt der Begriff der Gabe zum Ausdruck. Die Gabe konstituiert eine Beziehung, die in ihrer Unmittelbarkeit keines regulierenden Dritten bedarf. Deshalb hat der Tausch auch nicht die Form von Ich = Du. Es hat seinen guten Grund, wenn Simmel den Tausch als ein Drittes bezeichnet, um ein Gleichgewicht zu gewährleisten: „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen im absoluten Zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist.“ (Simmel 2009, S.80)

So funktioniert die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen Ich und Du nicht. Beide sind nicht Ursache und Wirkung des jeweils anderen, sondern beide sind Ich. Ein Drittes bildet sich zwischen ihnen, wenn sie sich gemeinsam darauf beziehen, als Referenz und nicht als Regulativ metaphysischer oder moralischer Art. Diese Dimension fehlt bei Simmel wie auch bei Kant.

Was ich der Zweiheit von Ich = Du zuordne: sich in der Begegnung einem anderen Menschen zu öffnen, beschreibt Simmel als eine Eigenschaft „primitiver Kulturen“. (Vgl. Simmel 2009, S.93) Sich auf einen Tausch einzulassen, so Simmel, bedeute für diese Menschen, sich eines Teils ihrer Persönlichkeit zu entäußern, was durchaus ein Aspekt der Zuwendung zum anderen Menschen sein kann: „Das Versenken also in die Subjektivität des Verhaltens zum Gegenstand läßt ihm (dem primitiven Menschen ‒ DZ) den Tausch ‒ naturaler wie interindividueller Art ‒, der mit Objektivierung der Seele und ihres Wertes zusammengeht, als untunlich erscheinen.“ (Simmel 2009, S.93)

Wenn sich also Menschen in sogenannten primitiven Kulturen weigern, sich auf einen Tauschhandel einzulassen, aber dennoch bereit sind, Gaben zu ‚tauschen‛, dann möglicherweise deshalb, weil sie zwischen auf Gewinn und Verlust basierendem Handel und zwischenmenschlicher Kommunikation zu unterscheiden wissen. In der Gabe, wie ich sie verstehe, wird das ,losgerissene Stück des Ich‛ (vgl. Simmel 2009, S.94) zur unsere Menschlichkeit rettenden Antwort auf den Hiatus. Das von mir abgespaltene Objekt wird nicht ,getauscht‛, sondern ,gegeben‛. Und das gilt eben auch für den „interindividuellen Umgang“, wo ich nicht irgendein Objekt ,gebe‛, sondern mich selbst.

So wird in dem Zitat auch deutlich, wie Simmel immer wieder zwei grundverschiedene Ebenen der Objektbeziehung miteinander vermengt. Wenn er vom Tausch „naturaler wie interindividueller Art“ spricht, meint er damit das Tauschen von Objekten der nicht-menschlichen Welt und den Austausch zwischen Menschen gleichermaßen, ohne einen Unterschied zwischen beidem zu machen. Auch aus diesem Grund bekommt Simmel auch dort, wo er von der Liebe spricht, die Besonderheit der freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen nicht in den Blick.

Simmel scheint also Kants moralphilosophischen Ansatz einfach zu übernehmen. Seltsam ist nur, daß er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf Kants Freiheitsbegriff eingeht. Ich vermute, daß das daran liegt, daß Kant im Rahmen seiner Erörterungen zur dritten kosmologischen Idee einen Freiheitsbegriff diskutiert, der sich spezifisch von der Naturkausalität absetzt. Indem Kant zwischen einer Kausalität durch die Natur und einer Kausalität aus Freiheit unterscheidet, stellt er das Problem des guten Willens ins Zentrum seiner Moralphilosophie. Diesen guten Willen kennzeichnen Prädikate wie Pflicht und Verantwortung. Im vierten Kapitel zur individuellen Freiheit macht Simmel genau das Gegenteil: nicht der gute Wille, sondern der begehrende Wille steht bei ihm im Zentrum seines Freiheitsbegriffs und dessen Prädikate sind Verantwortungslosigkeit und die Unabhängigkeit von Verpflichtungen. (Vgl. Simmel 2009, S.461f.) Dieser Freiheitsbegriff, ungeachtet dessen, daß Simmel hier von einer individuellen Freiheit spricht, adressiert nicht die Person mit ihrem Willen, sondern unpersönliche, durch Geldinteressen zusammengehaltene Kollektive. (Vgl. Simmel 2009, S.537, 540f., 546f.)

Im Rahmen eines durch Konsuminteressen zusammengehaltenen Kollektivs sind die widerständigen Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen wollen, plötzlich von Übel. Konsum ist nur die andere Seite einer Geldwirtschaft, die, nach der Marxschen Formel G-W-G', von der Warenproduktion auf Geldproduktion umgestellt hat. Aber noch schlimmer als die Abhängigkeit von Objekten (vom Konsum) ist Simmel zufolge die Abhängigkeit von Menschen, denn von ihnen abhängig zu sein, impliziert eine persönliche, die eigene Person betreffende Abhängigkeit, wie wir sie nichtmenschlichen Objekten gegenüber nicht empfinden. Die größte Abhängigkeit ist also die des Menschen vom Menschen, weshalb die größte individuelle Freiheit dort zu suchen ist, wo diese Abhängigkeit auf ein Minimum reduziert ist. Und das ist beim Geld der Fall.

Im folgenden längeren Zitat wird die, im Vergleich zu Kant, Umkehrung der Prioritäten besonders deutlich: „Wenn die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt, so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen anderen gegenüber besteht; auch die Sinnlichkeit ist ,frei‛, wenn sie mit den Normen der Vernunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist, das Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigener ist, mitziehen wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt.“ (Simmel 2009, S.480; Hervorhebung ‒ GS)

Jetzt geht es also nicht mehr darum, die inneren Neigungen zu überwinden, um so den moralischen Wert unseres Handelns zu erhöhen, sondern um der individuellen Freiheit willen geht es vielmehr darum, sie in ihrer ganzen Vielfalt auszuleben. Die Betonung liegt dabei auf der ganzen Vielfalt, denn wenn wir es zulassen, daß sich auch nur eine Neigung gegenüber allen anderen durchsetzt, und sei es auch die Neigung, moralisch zu handeln, dann würden wir uns als individuelle Person von dieser einzelnen Neigung abhängig machen. Das erinnert an meinen Begriff des Gefühlshaushalts, läuft aber, wie wir noch sehen werden, auf die Entfremdung und Isolierung des Menschen von der Welt und in der Gesellschaft hinaus.

Simmel löst also den Freiheitsbegriff vom Moralbegriff ab und stellt ihn anschließend noch über die Moral. Das aber affirmiert lediglich das, was, wie wir in den folgenden Blogposts sehen werden, in der Geldwirtschaft sowieso schon geschieht.

Samstag, 4. Oktober 2025

Geld und KI

Engster, Haesler und Schlaudt haben ihr von mir in diesem Blog kommentiertes Buch „Kleine Philosophie des Geldes im Augenblick seines Verschwindens“ (2024) betitelt. Aber dieser Titel ist irreführend. Er suggeriert, daß die digitale Technik dem Geld ein Ende bereitet. Obwohl natürlich mit Verschwinden auch gemeint sein könnte, daß es unsichtbar wird. Das entspräche dem, was tatsächlich gerade geschieht.

Das, was tatsächlich geschieht, ist die Überführung des Geldes in eine andere Gestalt: die KI. Engster hatte in seinem Buch „Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit“ (2014) das Geld als eine KI beschrieben, die uns in allen wirtschaftlichen Aktivitäten ‒ also letztlich unsere ganze Lebensführung betreffend ‒ das Rechnen abnimmt. Und Rechnen ist ja längst gleichbedeutend mit Denken.

Wenn also das Geld ,verschwindet‛, dann hat es nur seine Gestalt gewechselt. Alle seine Funktionen sind auf die KI übergegangen, als die es wie ein Phönix aufersteht.

Ich werde meine Kommentare zu Simmel mit Bemerkungen zum vierten Kapitel seiner „Philosophie des Geldes“ Anfang November fortsetzen. Dann wird es um das Verhältnis von Geld und Freiheit gehen.

Freitag, 3. Oktober 2025

Zwei Anthropologien

Während Plessner seine Anthropologie an der Frage orientierte, wie sich der Mensch in der Welt verwirklicht, besteht Simmels Anthropologie darin, zu zeigen, wie der Mensch das Geld möglich machte und dann das Geld den Menschen vernichtete.

Donnerstag, 2. Oktober 2025

Begehrungen

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


Georg Simmel beginnt seine philosophische Analyse des Geldes mit einer Genese des Tauschwertes. Ein Tauschobjekt erhält seinen Wert allererst dadurch, daß jemand es haben will und jemand anderes es hat. Natürlich muß die Tauschpartnerin auch etwas haben, an dessem Besitz sie selbst kein so großes Interesse hat, das aber für den anderen wichtig genug ist, um den von ihr begehrten Gegenstand dagegen einzutauschen. Im Verhältnis zueinander erhalten jetzt also beide Tauschobjekte ihren Wert. Aber der Grund für diese Wertbestimmung liegt nicht in den beiden Tauschobjekten selbst, sondern im Begehren der beiden Tauschpartner. Deren Wille ist der eigentliche Grund für eine aus dem Tauschakt hervorgehende Wertbestimmung.

Der Wille bildet, so Simmel, das „Urphänomen“ der Genese des Werts (vgl. Simmel 2009, S.26): „Alle Deduktionen des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich, schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne jedoch aus ihnen hergestellt zu werden ‒ wie alle theoretischen Beweise nur die Bedingungen bereiten können, auf die hin jenes Gefühl der Bejahung oder des Daseins eintritt.“ (Simmel 2009, S.26)

Simmel setzt den Wert zunächst mit dem subjektiven Willen gleich. Die Werte spiegeln nur unser Begehren, das uns erfüllt, wenn wir das, was wir wollen, nicht unmittelbar realisieren können: „Wir begehren die Dinge erst jenseits ihrer unbedingten Hingabe an unseren Gebrauch und Genuß, d.h. indem sie eben diesem irgendeinen Widerstand entgegensetzen ... Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht ‒ heißt uns ein Wert.“ (Simmel 2009, S.34)

Aus diesem Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, den ich mit Plessner als Hiatuserfahrung bezeichne, geht allererst ein „Bewußtseinsprozeß“ hervor. (Vgl. Simmel 2009, S.33) Für diesen elementaren Prozeß brauchen wir keine Metaphysik. Es genügt, die Differenz („Abstand“) zu betonen, denn der Hiatus schließt sich nicht mehr. Erst hier beginnt die Möglichkeit des Wertens: als Differenz. Nicht der Wert steht am Anfang eines Bewußtwerdungsprozesses, sondern die Differenz. Und die Möglichkeit des Wertens bildet nur einen Teil des differenziellen Potenzials.

So weit kann man also Simmels Argumentation folgen. Aber Simmel zufolge entspringt das Selbstbewußtsein nicht einem Hiatus in der Welt, sondern einem Hiatus in uns selbst, also im Inneren unseres Bewußtseins. Er bezeichnet diesen Hiatus als eine „Urtatsache des Selbstbewußtseins“: „Unsere Seele besitzt keine substantielle Einheit, sondern nur diejenige, die sich aus der Wechselwirkung des Subjekts und des Objekts ergibt, in welche sie sich selbst teilt. Dies ist nicht eine zufällige Form des Geistes, die auch anders sein könnte, ohne unser Wesentliches zu ändern, sondern ist seine entscheidende Wesensform selbst. Geist haben, heißt nichts anderes als diese innere Trennung vornehmen, sich selbst zum Objekt machen, sich selbst wissen zu können.“ (Simmel 2009, S.132f.; Hervorhebungen ‒ DZ)

Simmel geht also allen Ernstes davon aus, daß wir nicht erst durch eine Erfahrung in der Welt, sondern schon vor aller Erfahrung uns in uns selbst als Objekt erkennen und so zu einem Selbstbewußtsein kommen. Da traut er unserem Bewußtsein doch etwas zu viel zu. Bewußtsein ist zunächst Intentionalität, und als solche reflektiert es sich nicht selbst, sondern es geht unmittelbar auf Objekte. Erst in der gebrochenen Unmittelbarkeit beginnt es, sich selbst zu reflektieren. Und selbst dann gelangen viele Menschen nicht zu einem Selbstbewußtsein.

Ein Bewußtsein, das sich in sich selbst begründet, ist immer zirkulär. Was war vor dem Bewußtsein, das sich in Subjekt und Objekt gespalten hat? Auf welcher Seite befindet sich das Bewußtsein nach dieser Spaltung: auf der Subjektseite oder auf der Objektseite? Die Fragen, die sich hier stellen, schweben im luftleeren Raum und kreisen um sich selbst. Es ist also kein Wunder, daß Simmel den aus einem inneren Hiatus hervorgehenden infiniten Regreß in eine „Kreisbewegung“ umbiegt und mit einem Zirkelschluß argumentiert: „Indem der Relativismus als Erkenntnisprinzip sich mit der Unterordnung unter sich selbst, die so vielen absolutistischen Prinzipien verderblich wird, gerade von vornherein selbst beweist, drückt er nur am reinsten aus, was er auch jenen anderen leistet: die Legitimierung des Geistes, über sich selbst zu urteilen, ohne durch das Ergebnis dieses Urteilsprozesses, wie es auch ausfalle, den Prozeß selbst illusorisch zu machen.“ (Simmel 2009, S.133)

Wir haben es bei der inneren Trennung (Hiatus) in Subjekt und Objekt mit einem in sich geschlossenen Zirkel zu tun, der sich auf keine Objekte in der Welt bezieht und deshalb auch nichts mehr begehrt. Er genügt sich selbst. Das ganze erste Kapitel der „Philosophie des Geldes“ besteht darin, dieses metaphysische Konstrukt auf die Geldwirtschaft zu übertragen, als „ideelles Reich“ mit seinem „zur Substanz erstarrte(n) Gelten, das Gelten der Dinge ohne diese Dinge selbst“, womit Simmel nichts anderes meint als das Geld. (Vgl. Simmel 2009, S.139)

Simmel selbst weiß um die Problematik eines solchen Reichs: „So ist das wirtschaftliche System allerdings auf eine Abstraktion gegründet, auf das Gegenseitigkeitsverhältnis des Tausches, die Balance zwischen Opfer und Gewinn, während es in dem wirklichen Prozeß, in dem es sich vollzieht, mit seinem Fundamente und seinem Ergebnis: den Begehrungen und Genüssen, untrennbar verbunden ist. Das Entscheidende für die Objektivität des wirtschaftlichen Wertes, die das Wirtschaftsgebiet als selbständiges abgrenzt, ist das prinzipielle Hinausgehen seiner Gültigkeit über das Einzelsubjekt.“ (Simmel 2009, S.62)

Mit dieser „Abstraktion“, dem ideellen Reich der Werte, verlassen wir also die Ebene des unmittelbaren Bezugs auf Tauschobjekte, mit denen wir unsere Bedürfnisse gleichermaßen unmittelbar wie gegenseitig befriedigen. Wo aber bei Simmel beschönigend von einer „Balance zwischen Opfer und Gewinn“ die Rede ist, wird hier zugleich auch ein Konkurrenzverhältnis grundgelegt, in dem die Tauschpartner ihren Gewinn auf Kosten des jeweils anderen zu maximieren versuchen. Die Gegenstände spiegeln nicht mehr unser individuelles Begehren, sondern der Gewinn der einen Tauschpartnerin spiegelt sich im Verlust des anderen. Mit anderen Worten: wir verlassen eine von Individuen bestimmte Praxis und betreten die durch Werte regulierte Praxis der Gesellschaft.

Mittwoch, 1. Oktober 2025

Wechselwirkungen

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Kurt Röttigers, Tausch, in: HWdPh, Bd.10


Als ich letztens einige Stichwörter im Historischen Wörterbuch der Philosophie nachschlug, stieß ich unter dem Artikel zum „Tausch“ auf eine Textstelle, die mich irritierte und mich veranlaßte, mir Georg Simmels (1858-1918) Buch zur „Philosophie des Geldes“ (1900) in einer 2009 erschienenen Ausgabe zu kaufen. Ich zog diese Hardcoverausgabe der Softcoverversion der wissenschaftlich-kritischen Edition vor, weil sie beim von meinen Unterstreichungen und Randbemerkungen begleiteten Lesen leichter zu handhaben ist.

Ich habe jetzt die ersten 150 Seiten von insgesamt 832 Seiten gelesen, und das Ende des ersten Kapitels bietet mir die Gelegenheit, eine Zäsur zu setzen und, bevor ich die Lektüre fortsetze, einige grundlegende Einsichten festzuhalten. Die Textstelle in dem Wörterbuchartikel, die mich irritierte, besteht aus Zitaten von Simmel. Diese Zitate legen nahe, daß meine Formel zur freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen, Ich = Du, kompatibel ist mit dem Warentausch. Wenn nämlich jede von Zweien der anderen das gibt, was jene entbehren kann und diese braucht, bedeutet das Simmel zufolge, „daß jeder dem anderen mehr gibt als er selbst besessen hat“. (Vgl. K. Röttigers, in: HWdPh, Bd.10, Sp.922f.; vgl. auch Simmel 2009, S.64)

Weiter heißt es im Wörterbuch: „Simmel zieht daraus den verallgemeinernden Schluß, ,daß die Mehrzahl der Beziehungen untereinander als ein T. (Tausch ‒ DZ) gelten kann; er ist zugleich die reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht.‛ () Er konkretisiert das folgendermaßen: ,Jede Wechselwirkung ... ist als ein T. zu betrachten: jede Unterhaltung, jede Liebe ... jedes Spiel, jedes sich Anblicken‛ ().“ (Vgl. HWdPh, Sp.923; vgl. Simmel 2009, S.63)

Wenn das so ist, dann gibt es zwischen dem Warentausch, dem Geld und der Liebe keinen Unterschied.

Wenn ich meine Vorstellung von einer freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen aufrechterhalten will, darf sie aber keineswegs unter einen Begriff von Wechselwirkung fallen, im Sinne einer reinsten und gesteigertsten Wechselwirkung, der beinhaltet, daß alles seinen ,Preis‛ hat. Das aber heißt wiederum, daß der Begriff der Wechselwirkung eben nicht mit dem der Wechselbeziehung bedeutungsgleich sein kann. Ich halte deshalb dagegen, daß ,Wirkungen‛, also auch Wechselwirkungen, immer Ursachen haben, wobei wir es bei Wechselwirkungen eben mit wechselseitigen Verursachungen zu tun haben. Eine solche wechselseitige Verursachung läßt sich natürlich anders als in einem linearen Kausalverlauf nicht auf eine einzelne Ursache zurückverfolgen. Demnach haben wir es also bei der Wechselwirkung mit einer nicht-linearen Kausalität zu tun, wie sie zwischen den Teilen eines Ganzen stattfindet. In diesem Sinne argumentiert übrigens, wie wir noch sehen werden, auch Simmel.

Aber wir haben es dennoch auch bei dem Begriff der Wechselwirkung mit einem Kausalverhältnis zu tun, das auf die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen, wie sie von Simmel mit einem Begriff wie „Liebe“ (siehe Zitat) angesprochen wird, nicht angewandt werden kann. Zwei Menschen sind füreinander ‚Du‛, ohne daß diese Wechselseitigkeit auf Kausalität, und sei sie auch eine nicht-lineare, zurückgeführt werden könnte. Das heißt nicht, daß es im Ich = Du keine Wechselwirkung gibt, sondern nur, daß die freie und gleiche Wechselbeziehung nicht durch Wechselwirkung konstituiert wird. Da aber die Differenz zwischen zwei Menschen in der Wechselbeziehung nicht aufgehoben wird, gibt es selbstverständlich auch eine Wechselwirkung zwischen ihnen.

Dieses Verhältnis zwischen Wechselbeziehung und Wechselwirkung wird noch einmal verkompliziert durch das der Ökonomie zuzuordnende Tauschverhältnis. Im Grunde bildet der Tausch ein referentielles Dreieck, in dem die Referenz der beteiligten Akteure nicht aus einem, sondern aus zwei Tauschobjekten besteht, die in einer je individuellen Beziehung zu dem einen und dem anderen der beiden Tauschpartner stehen, während zugleich die beiden Tauschpartner zueinander in einer Beziehung stehen, die durch das Interesse des einen an dem Gegenstand im Besitz des anderen, und umgekehrt, bestimmt ist.

Auch innerhalb einer freien und gleichen Wechselbeziehung hat die Referenz, die hier in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf bloß einen Gegenstand besteht, einen je individuellen Bezug zu jedem der beiden Partner, aber was diese miteinander ,tauschen‛, ist nicht das Objekt selbst ‒ es sei denn als Geschenk ‒, sondern ihre Perspektiven auf dieses Objekt. In einer freien und gleichen Wechselbeziehung bildet die Referenz eine Option, die die Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen veranlassen und darüberhinaus eine vorhandene Zweierbeziehung, Freundschaft, Liebe, Interessengemeinschaft etc., stärken kann.

Wenn es aber nicht darum geht, einander zu diesem Dritten in eine gemeinsame Beziehung des wechselseitigen Gebens und Nehmens zu setzen, sondern zweierlei Drittes (Tauschobjekte) mit Hilfe einer Bestimmung des Werts eines jeden Objekts im Verhältnis zum anderen zu tauschen, verwandelt sich die freie und gleiche Wechselbeziehung in eine Konkurrenzbeziehung des Gebens, um zu nehmen. Die erste Beziehungsform möchte ich als Gabe bezeichnen, die zweite als Tausch. Der Tausch bildet dann eine Wechselwirkung in Form der ökonomischen Praxis.

Letztlich wirft Simmel zwei grundverschiedene Beziehungsebenen in einen Topf: die des Menschen zu Gegenständen der nicht-menschlichen Welt, zu denen auch noch Artefakte wie die Waren zu zählen wären, und die des Menschen zu seinem Mitmenschen. Bei der Gabe und beim Tausch haben wir es also mit Objekten zu tun, die zueinander kategorial verschieden sind. (Vgl. Simmel 2009, S.93)

Wenn ich hier von der ,Gabe‛ spreche, um eine Differenz zum Tausch aufzumachen, halte ich mich an eine bestimmte Bedeutung, ohne mich weiter um die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Bedeutungen zu kümmern, die dieses Wort in der Ethnologie und Anthropologie außerdem noch hat. Ich halte den Gabentausch nicht für eine Frühform des Warentausches und werde deshalb auch gar nicht erst von einem Gaben-,Tausch‛ sprechen. Was zwei Menschen in einer freien und gleichen Wechselbeziehung einander ,geben‛, ist eine ,Gabe‛. Damit ist alles gesagt.

Auch Simmel hat eine Vorstellung von dieser Differenz zwischen Gabe und Tausch, wie sich in folgender Textstelle zeigt: „Wo wir Liebe um Liebe tauschen, wüßten wir mit der darin offenbarten inneren Energie sonst nichts anzufangen; indem wir sie hingeben, opfern wir ‒ von äußeren Betätigungsfolgen abgesehen ‒ keinerlei Nutzen auf; wenn wir in der Wechselrede geistige Inhalte mitteilen, so nehmen diese darum nicht ab; wenn wir unserer Umgebung das Bild unserer Persönlichkeit darbieten, indem wir das der anderen in uns aufnehmen, so vermindert dieser Austausch unseren Besitz in keiner Weise.“ (Simmel 2009, S.64)

Simmel beschreibt hier völlig korrekt den Unterschied zwischen einem Tausch, der unter dem Druck wirtschaftlicher Konkurrenz, von Gewinn und Verlust, geschieht, und der Kommunikation zwischen zwei Menschen, bleibt aber dabei, beides als Wechselwirkung zu bezeichnen, und spricht sogar weiterhin unterschiedslos vom Tausch. Hier fehlt es ihm an Arbeit am Begriff.

Dienstag, 23. September 2025

Wie lange noch?

Gerade habe ich eine Sendung des Philosophischen Radios von Jürgen Wiebicke mit Heino Falcke, einem Astrophysiker, der das Photo von einem schwarzen Loch gemacht hat, zur Geschichte unseres Planeten gehört. Darin bekennt Falcke sich dazu, an Gott zu glauben. Das will ich ihm nicht nehmen. Aber gegen Ende der Sendung sagt er noch, alles sei endlich, auch der Mensch. Aber man wisse ja nicht, wann sein Ende eintritt. Vielleicht gibt es ihn ja noch viele „Milliarden“ Jahre.

Kann ich noch seinen Glauben an Gott anerkennen, ohne an seinem Verstand zu zweifeln, so belegt dieses ,Milliarden Jahre‛ leider einen ‒ hoffentlich bloß momentanen ‒ Aussetzer seines Verstandes. Nehmen wir den Menschen, wie er uns im Anthropozän erscheint, so besteht seine hauptsächlichste Eigenschaft darin, Entwicklungsprozesse zu beschleunigen, so sehr, daß sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren das Antlitz des Planeten drastisch verändert hat. Sieht man sich das Entwicklungspotenzial allein der digitalen Technologien an, dann wird dieses Entwicklungstempo derart zunehmen, daß sich Jahrtausende der biologischen und kulturellen Evolution auf wenige Jahre und Monate verkürzen werden.

Sind eine Milliarde Jahre angesichts der bisherigen biologischen Evolution schon eine gewaltige Zahl, so muß diese eigentlich sogar, angesichts der technologischen Rasanz und um die damit zusammenhängenden schon eingetretenen und noch bevorstehenden Veränderungen verhältnismäßig zur biologischen Zeitebene deutlich zu machen, noch um mehrere Zehnerpotenzen erhöht werden. So viel bräuchte wohl die natürliche Evolution, um mit unserer künstlichen mithalten zu können. Die 13,8 Milliarden Jahre seit dem Urknall erscheinen dagegen als ein Klacks.

Aber wir haben natürlich weder die von Falcke anvisierten Milliarden Jahre noch überhaupt alle Zeit der Welt. Ich selbst gebe den Menschen nur noch wenige hundert Jahre. Eigentlich ist das schon zu viel gerechnet. An eine Zukunft jenseits der Erde, im Weltraum, glaube ich nicht. Da glaube ich schon eher an Gott.

Montag, 1. September 2025

Pflicht & Zweifel

Anne Nuhn, Pflicht & Zweifel. Ein Regency-Märchen Roman, Buch 1, 2025
ISBN 978-1-0670534-2-0
https://annenuhn.com/

Hallo Anne,

endlich halte ich den ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ in meinen Händen. Ich hatte ihn im Buchhandel bestellen wollen und mußte mich darüber aufklären lassen, daß dieses Buch trotz ISBN-Nummer nicht im Buchhandel erhältlich sei. Man kann es nur über Amazon beziehen, und ich bestelle nichts bei Amazon. Niemals. Meine Schwester half mir aus der Verlegenheit und überließ mir ihr Exemplar.

Endlich konnte ich erfahren, was aus dem Digiskript geworden ist, das Du mir vor sechs Jahren anvertraut hattest. Manches in dem fertigen Exemplar ist anders, als ich es in Erinnerung habe. Ich will es hier aber nicht Zeile für Zeile mit dem Digiskript vergleichen, sondern nur auf das eine und andere hinweisen, das mir besonders ins Auge fällt.

Das Erste, was mir auffällt, ist natürlich der geänderte Titel. Das Digiskript hatte noch den Arbeitstitel „Zorn & Zweifel“. Dieser Arbeitstitel spielt auf die beiden hauptsächlichen inneren Zustände von Carolena Seed/Bloom an, die den ersten Band der Trilogie dominieren. Der endgültige Titel ist weniger persönlich und hebt die moralisch-gesellschaftliche Dimension des Buches hervor. Er ändert nichts an der inneren Zerrissenheit von Carolena, deutet aber den Weg an, der vor ihr liegt und den sie noch zu gehen hat. Das vom Arbeitstitel angedeutete existenzielle Drama verschiebt sich mit „Pflicht & Zweifel“ in Richtung eines Bildungsromans und erinnert so an Jane Austen (1775-1817), von der wir ähnliche Gegenüberstellungen kennen: „Stolz und Vorurteil“ oder „Sinn und Sinnlichkeit“. Nicht umsonst nennst Du Deine Trilogie ein Regency-Märchen.

Dabei ist die Regency-Epoche, 1810 bis 1820, eine Umbruchzeit, in der traditionelle Lebensweisen neuen Technologien weichen mußten, und also keineswegs eine Zeit der Märchen; jedenfalls nicht im Sinne der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Deine Trilogie ist eher eine gelungene Mischung aus Märchen, Fantasy und Bildungsroman. Dabei fällt vor allem eins auf: der Pflichtbegriff beschränkt sich eben nicht auf die Gentleman-und-Lady-Etikette der englischen Standesgesellschaft. Du gibst dem Pflichtbegriff zwei verschiedene Inhalte, zwischen denen Carolenas Bildungsweg verläuft, im ständigen Wechsel zwischen dem einen und dem anderen, tastend, irrend, im verzweifelten Versuch, den Klippen und Fallstricken beider Pflichten auszuweichen.

Tatsächlich handelt es sich nicht einfach um zwei Pflichten, sondern um zwei Welten, der Welt der Magie und der Welt der Vernunft. Aber nein! Auch das trifft es nicht ganz. Die Magie ist nicht vernunftlos, und die gesellschaftliche Vernunft ist nicht einfach nur vernünftig; heute nicht und eben auch nicht in der Regency-Epoche. Siehe Austens „Stolz und Vorurteil“.

Auf der Seite der Magie lernt Carolena die Grausamkeit kennen. Diese Magie gibt ihr die Mittel in die Hand, ihre Rache ins Werk zu setzen. Aber auf der Seite der Magie gibt es auch Vernunft. Eine Natur-Vernunft. Eine Vernunft des Geschehenlassens. Eine Vernunft der Akzeptanz. Eine kosmische Vernunft, die einerseits grausam über das persönliche Schicksal von Einzelnen hinweggeht, aber andererseits alles mit allem verbindet: eine große Harmonie. Eine Natur-Vernunft also, deren Magie kein fügsames Werkzeug ist für Carolenas Rache.

Die gesellschaftliche Vernunft steht hingegen für Regeln, für Ordnung, für Macht, für das Eingreifen, Zurichten und Planen. Nichts läßt sie geschehen, ohne es zu bewerten, es entweder einem Nutzen zuzuführen oder es zu vernichten, weil es schädlich ist.

Sowohl in der Natur wie auch in der Gesellschaft sind es Carolenas Mitleid und vor allem ihr Gerechtigkeitsempfinden, die sie dazu verleiten, durch ihr Eingreifen alles nur noch schlimmer zu machen. Das sind die zwei Dimensionen der Pflicht, mit denen sie sich zunächst als Lehrling in der Magie und dann als Debütantin im Dienst einer Lady konfrontiert sieht.

Das ist so etwa der erste Band Deiner Trilogie und natürlich wie alle Zusammenfassungen völlig unzulänglich. Aber dieses Buch ist Dir gelungen. Mal sehen, wie ich jetzt in den Besitz des zweiten Bandes komme. Vielleicht kann mir meine Schwester weiterhelfen.

Noch eins zum Schluß: Was den Zweifel betrifft, so ist es doch ein Magier, nämlich Borke, der der größte Zweifler im ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ ist und dem Carolenas Gewißheiten ziemlich auf die Nerven gehen: „Wir können von Glück sagen, dass Sie kein Zepter in der Hand halten!“ (S.134) ‒ Was für eine wunderbare Ironie, wenn man an den Schluß der Trilogie denkt!

Liebe Grüße,
Detlef

Freitag, 1. August 2025

Im Briefkasten

Ich fand in meinem Briefkasten zwei kleine Heftchen von Petra Klingl. Von Amazon versandt und ohne Begleitbrief. Auch keine Rechnung. Ein Heftchen über Haikus und ein Heftchen mit Haikus. Die Regeln in dem einen Heftchen, wie man Haikus schreibt, werden von den Haikus im anderen Heftchen nicht eingehalten. Das hat mir gefallen. Gefallen haben mir auch die Haikus. Aber diese Petra Klingl kenne ich nicht. Ich weiß nicht wer und warum mir die beiden Heftchen geschickt hat. Wer auch immer hat meiner Postanschrift „Blog Erkenntnisethik“ hinzugefügt. Es muß sich also um eine Besucherin oder einen Besucher meines Blogs handeln.

Im Briefkasten zwei
Umschläge von Amazon.
Einer mit Haiku.

Mittwoch, 16. Juli 2025

01.07.–15.07.: Übersicht und Links

1. Der aktuelle Stand, 01.07.
2. Der imaginäre Punkt, 02.07.
3. griechische Antike
Knabenliebe, 05.07.
4. Kaiserzeit
Diätetik, 06.07.
Ehe und Zweiheit, 07.07.
Mißbrauch der Zweiheit, 08.07.
5. frühes Christentum
Diätetik, 09.07.
Ehe und Zweiheit, 12.07.
Erkenntnis, 13.07.
Jungfräulichkeit, 14.07.
6. Das Subjekt und die Macht, 15.07.

Dienstag, 15. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault:
Sexualität und Wahrheit: Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Hermeneutik des Subjekts (2004)

6. Das Subjekt und die Macht

In diesem letzten Blogpost kehre ich noch einmal zum ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“, zu „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1) zurück. In diesem Band spricht Foucault die Möglichkeit an, daß „man die Mechanismen der Sexualität umkehren“ könne, indem man sich vom „Sex-Begehren“ abwendet. (Vgl. SuW 1, S.187) Die Macht des Sexualitätsdispositivs und damit die Macht selbst in ihrer ganzen Anonymität, in ihrer lebensweltlichen Verfaßtheit, kann also gebrochen werden. Das Sexualitätsdispositiv bzw. den „Sex“ hatte Foucault zuvor als einen „imaginären Punkt“ bezeichnet, der die „Totalität des Körpers“, nämlich gleichzeitig als Pluralität und als Ganzes und außerdem biographisch als eine Identität, „symbolisch darstellt“. (Vgl. SuW 1, S.185)

Das ist eine schwierige, in sich widersprüchliche Konstruktion, stellt aber wohl den Versuch dar, der Macht ein widerständiges Subjekt entgegenzustellen. In den insgesamt vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ wird Foucault darauf nicht mehr zurückkommen. Aber in der Vorlesung vom 17.02.1982 in „Hermeneutik des Subjekts“ (2004; S.308ff.) finde ich eine Stelle, in der Foucault auf die „Bedeutung“ zu sprechen kommt, „die ich dieser Untersuchung der Sorge um sich und des Selbstbezugs beimesse, die Ihnen etwas schleppend und pedantisch erscheinen mag“. (Vgl. Foucault 2004, S.314)

An dieser Stelle geht Foucault noch einmal ausdrücklich auf die Funktion des Subjekts in einer „Ethik des Selbst“ ein, „wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich“. (Vgl. Foucault 2004, S.313) ‒ Auch hier, „wenn es denn wahr ist“, wieder die enge Verbindung von Selbst und Wahrheit, die den Titel der vier Bände zu „Sexualität und Wahrheit“ spiegelt.

Zu Beginn seiner Vorlesungsreihe, am 06.01.1982, stellt Foucault diese Verbindung ausdrücklich her: Nur über das Subjekt eröffnet sich ein Zugang zur Wahrheit, nicht über das Individuum. (Vgl. Foucault 2004, S.34 und S.36) Zwar gilt das im Zusammenhang dieser Vorlesung nur für die ,Geistigkeit‛, also für die spirituelle Dimension der Wahrheit, und nicht für die kognitive Erkenntnis der heutigen Wissenschaft und Politik. Außerdem habe ich, wie ich hier gerne festhalten möchte, ein Problem mit einer spirituell verfaßten Geistigkeit, die auf Praktiken der Erleuchtung setzt. Und auch die Trennung zwischen dem Subjekt und dem Individuum halte ich für künstlich und wirklichkeitsfremd. Das Subjekt und seine Subjektivität sind untrennbar mit der Biographie eines Individuums verbunden.

Dennoch hebt Foucault in seiner Vorlesung vom 17. Februar zurecht die politische Bedeutung des Subjekts und seines Zugangs zu seiner Wahrheit hervor: „Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeineren Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität, der Gouvernementalität verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse,() dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert.“ (Foucault 2004, S.313f.)

Zwei Dinge sind für mich gerade angesichts einer zunehmenden Ablehnung von universellen, humanistischen Prinzipien und einer grassierenden Subjekt- und Menschenfeindlichkeit in der Philosophie, in der Wissenschaft und in der gesellschaftlichen Praxis bemerkenswert: Foucaults Festhalten am Subjektbegriff und daß gerade er, der dem Diskurs der Macht sein ganzes philosophisches Wirken gewidmet hat, auf die Reversibilität, auf die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen verweist, für die, setzt man auf diese Veränderbarkeit, eben gerade der Subjektbegriff unverzichtbar ist.