„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Gleich zu Beginn des vierten Kapitels setzt Simmel seinen Kontrapunkt zu Kants Moralphilosophie. Unfrei ist der Mensch nicht nur im Sinne einer Naturkausalität, in der jede Wirkung eine Ursache hat und im Sinne der dritten kosmologischen Idee eine unendliche Reihe in Richtung auf eine nie zu erreichende Erstursache eröffnet, sondern auch im Sinne einer moralischen Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen: „Jeder Verpflichtung, die nicht einer bloßen Idee gegenüber steht, entspricht das Forderungsrecht eines Anderen, weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert, die ein ideeller oder gesellschaftlicher Imperativ oder die das eigene Ich uns auferlegt.“ (Simmel 2009, S.429f.)

Das ist von Simmel bewußt vorsichtig formuliert. Niemand kann ihm vorwerfen, er lehne Kants kategorischen Imperativ ab, denn hier haben wir es ja nur mit einer „bloßen Idee“ zu tun. Er spricht bloß von der Abhängigkeit von anderen Menschen und kann deshalb alle Angriffe auf sich damit abwehren, daß er sich selbstbewußt auf Kants Seite stellt: Gerade Kant lehne ja, so kann er argumentieren, jede Abhängigkeit von anderen Menschen ab, da der kategorische Imperativ mit dem guten Willen des Handlungssubjekts übereinstimmt und ihm nicht von anderen Menschen und schon gar nicht von kirchlichen und staatlichen Autoritäten aufgezwungen werden könne.

Aber das ist Wortklauberei. Wenn Simmel von der individuellen Freiheit spricht, argumentiert er nicht mit einer Freiheit jenseits der Naturkausalität und jenseits von gesellschaftlichen Autoritäten, sondern mit einer sich von jeder Verantwortung der menschlichen Gemeinschaft gegenüber lossagenden persönlichen Freiheit. Simmels Vorgehen ist einer „Philosophie des Geldes“ geschuldet, wie er sie in seinem Buch vor allem als wirtschaftliche Abhängigkeit entwickelt, diese aber gleichzeitig in eine individuelle Unabhängigkeit umdeutet.

Wir haben es hier, Abhängigkeit als Unabhängigkeit, mit einer Antinomie zu tun, die von Simmel dadurch aufgelöst wird, daß er eine neue gesellschaftliche Kausalität postuliert, die nicht mehr durch die unmittelbare Abhängigkeit zwischen Mensch und Mensch bestimmt ist, sondern durch ein unpersönliches, sachliches Drittes: durch das Geld. Wo alle gesellschaftlichen Aktivitäten mit Hilfe des Geldes entsubjektiviert bzw. mit Simmel „entseelt“ werden (vgl. Simmel 2009, S.540), sind, so behauptet zumindest Simmel, die Individuen freigestellt, sich ihre eigenen Zwecke zu setzen: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises (z.B. einer Nation ‒ DZ) herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Die Formel, die Simmel hier aufstellt ist so schlicht, wie sie verblüffend ist: je mehr Menschen von der Geldwirtschaft erfaßt und von ihr abhängig gemacht werden, um so größer die individuelle Freiheit.

Die Evolution der individuellen Freiheit vollzieht sich in drei Stufen: auf der er­sten befinden sich Sklavenhaltergesellschaften, in denen sich die Abhängigkeit des Sklaven vom Sklavenhalter auf die ganze Person erstreckt. (Vgl. Simmel 2009, S.430f.) Diese Abhängigkeit reduziert sich auf der zweiten Stufe in der Abhängigkeit der Hörigen gegenüber einem Gutsbesitzer. Der Hörige liefert dem Gutsherrn die Fron in Form von Naturalien. Diese Naturalien, welche und wie viel, sind zwar festgelegt, aber darin, wie der Hörige sie erwirtschaftet, ist er frei. Der Gutsherr interessiert sich nur für das Produkt. Die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherrn ist also im Vergleich zum Sklavenhalter gelockert. (Vgl. Simmel 2009, S.431f.)

Die dritte Stufe ist die Ablösung der Naturalien durch Geld: „Die dritte Stufe, bei der aus dem Produkt die Persönlichkeit wirklich ausgeschieden ist und der Anspruch sich gar nicht mehr in diese hineinerstreckt, wird mit der Ablösung der Naturabgabe durch die Geldabgabe erreicht.“ (Simmel 2009, S.433)

Auf dieser Stufe entsteht die Möglichkeit, dem Gutsherrn die Naturabgabenpflicht durch Geldzahlungen abzukaufen: „Höher kann die persönliche Freiheit vor dem Wegfall jedes bezüglichen Rechtes des Grundherrn nicht steigen, als wenn die Verpflichtung des Untertanen in eine Geldabgabe verwandelt ist, die der Grundherr annehmen muß.“ (Simmel 2009, S.438)

Nun wissen wir aber ‒ und Simmel weiß das ebenfalls ‒, daß auf die Abhängigkeit der Bauern und der Landbevölkerung von den Landbesitzern, eine weitere Stufe folgt: die Lohnarbeit; und diese führt zu ganz neuen Abhängigkeiten der Lohnarbeiter vom Unternehmer. Hier ist das Geld kein Mittel der Befreiung mehr, sondern ein Medium extremer Stratifizierungen. Die gesellschaftliche Kausalität, die hier die Form einer Naturgesetzlichkeit annimmt, wird also keineswegs durch die Verminderung von Abhängigkeiten durch die Gewährleistung neuer individueller Freiheiten außer Kraft gesetzt, sondern führt im Gegenteil zu Abhängigkeiten neuer Art, die diesmal gerade durch das Geld ermöglicht werden.

Die mit der Lohnarbeit einhergehende gesellschaftliche Kausalität wird in der institutionellen Form des unpersönlichen Dritten auf Dauer gestellt. Zu ,dritten‛ Personen werden Menschen überall dort, wo ihr persönlicher Umgang mit einander zunehmend dadurch bestimmt wird, daß sie aufgrund der fortgeschrittenen Arbeitsteilung für den Warentausch keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Simmel sieht darin eine die individuelle Freiheit ermöglichende Errungenschaft. (Vgl. Simmel 2009, S.447) Also: Freiheit = Verantwortungslosigkeit. Das ist genau das Gegenteil dessen, was Kant unter Freiheit versteht: „So ist also auf dem Gipfel der Geldwirtschaft ein Handelsmodus möglich geworden, der, durch die Überführung des subjektiven Fundaments des Geschäfts in ein objektives, beiden Parteien ihre Verantwortlichkeiten erleichtert und dem Vorteil der einen keinerlei Nachteil der anderen gegenüberstellt.“ (Simmel 2009, S.448)

Wenn das Geld den Besitzer gewechselt hat und die Ware verkauft ist, gehen beide, Käufer und Verkäufer, auseinander, ohne daß sich der Verkäufer weiter für die Ware interessiert und der Käufer noch irgendwelche Reklamationsansprüche geltend machen könnte. Er hat die Ware gesehen und geprüft und durch die Bezahlung deren Güte bestätigt: er hat bezahlt, was er bekommen hat. Das Geld macht persönliche Verantwortung überflüssig. Es befreit uns von dieser lästigen Verpflichtung. Bei Simmel geht also mit der Freiheit Verantwortungslosigkeit einher, während es bei Kant eine Freiheit ohne Verantwortung gar nicht geben kann.

Eben dies führt zu einer neuen, dem Geld geschuldeten Beziehungsform: die Beziehungsform der dritten Person: „Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muß, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören ‒ hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen.“ (Simmel 2009, S.449f.)

Im zweiten Kapitel deutet sich diese neue Beziehungsform in folgender Textstelle an, in der Simmel den Sinn des Gleichheitszeichens in Ich = Du in sein Gegenteil verkehrt. Ohne es zu wissen, deutet Simmel hier das vielleicht unvermeidbare Ende jeder freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen Ich und Du an: „(S)o unvergleichbar zwei Personen in ihren angebbaren Eigenschaften sein mögen, so stiften Beziehungen zu einem je dritten Menschen doch eine Gleichheit zwischen ihnen; sobald die erste die gleiche Liebe oder Haß, Herrschaft oder Unterworfenheit einer dritten gegenüber zeigt, wie die zweite einer vierten gegenüber, so haben diese Relationen hier der Fremdheit des Fürsichseins jener eine tiefe und wesentliche Gleichheit untergebaut.“ (Simmel 2009, S.184)

Nicht daß zwei Menschen verschiedene Eigenschaften haben können, ist hier für mich das Problem, da diese Verschiedenheit die Gleichheit und Freiheit zwischen ihnen nicht außer Kraft setzt; auch ist es kein Problem, daß zwei Menschen unabhängig von ihrer eigenen Wechselbeziehung gleichermaßen freie und gleiche Wechselbeziehungen auch zu anderen (dritten und vierten) Menschen haben können; sondern das Problem ist, daß Simmel die Gleichheit zwischen zwei Menschen erst mittels der Relativierung ihrer persönlichen Eigenschaften durch Ausweitung ihrer mitmenschlichen Kontakte auf dritte, vierte und mehr Personen gewährleistet sieht; eben im Sinne jenes weiter oben schon zitierten „großen Kreises“ (vgl. Simmel 2009, S.549f.). Wenn Simmel in diesem Zusammenhang von „substantieller Unmittelbarkeit“ spricht (vgl. Simmel 2009, S.184), bedeutet das, daß es ihm hier nicht um irgendwelche beliebigen Manifestationen wie „Liebe oder Haß“ geht, sondern um die Einzigartigkeit des Ich, die er gleichwohl ausgerechnet durch ihre Relativierung qua Ausweitung auf einen großen Kreis gewährleistet sieht.

Aber anstatt daß die individuelle Freiheit durch Verantwortungslosigkeit vergrößert wird, entstehen, wie schon erörtert, jetzt neue Abhängigkeiten gegenüber Dritten. Dabei soll es Simmel zufolge ein Vorteil sein, daß diese Abhängigkeit nur noch eine unpersönliche ist: „Während der Mensch der früheren Stufe die geringere Anzahl seiner Abhängigkeiten mit der Enge persönlicher Beziehung, oft persönlicher Unersetzbarkeit derselben bezahlen mußte, werden wir für die Vielheit unserer Abhängigkeiten durch die Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehenden Personen und durch die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt. ... Dies ist nun die günstigste Lage, um innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins, zustande zu bringen.“ (Simmel 2009, S.454f.)

Mit der „Freiheit des Wechsels“ ist gemeint, daß wir ,dritte Personen‛ jederzeit durch andere austauschen können, z.B. wenn ein Handwerker schlechte Arbeitsergebnisse liefert, suchen wir uns einen anderen. Oder wenn uns ein Arbeitgeber schlecht behandelt, suchen wir uns einen anderen. Das Problem besteht darin, daß wir die Befreiung aus persönlichen Abhängigkeiten mit neuen unpersönlichen Abhängigkeiten bezahlen müssen, z.B. daß wir durch die Arbeitsteilung auf die Dienste von fremden Menschen angewiesen sind, wo wir früher entweder das meiste selbst tun oder es kundigeren Angehörigen der eigenen kleinen Gemeinschaft überlassen konnten. Daß diese ihre Dienste sorgfältig erledigten, gewährte das beidseitige, in langen Jahren gewachsene Vertrauensverhältnis.

Simmel preist hingegen die dem fehlenden Vertrauensverhältnis entsprechende „Indifferenz“ (Gleichgültigkeit) der anderen Person gegenüber als Voraussetzung individueller Freiheit: „Die Indifferenz spaltet sich erst allmählich zum Gegensatz, aus der Produktion, dem Produkte, dem Umsatz tritt das personale Element mehr und mehr zurück. Dieser Prozeß aber entbindet die individuelle Freiheit.“ (Simmel 2009, S.463)

Gleichermaßen materieller wie ideeller Garant dieser individuellen Freiheit ist das Geld: „Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines eigenartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben, es ist genau das Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet, ist für das unterschiedsempfindliche Bewußtsein der Hintergrund, von dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre Freiheit erst deutlich abhebt.“ (Simmel 2009, S.464)

Was Simmel hier beschreibt, nannte man früher mal Entfremdung. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

Samstag, 1. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

In den folgenden Blogposts befasse ich mich mit dem vierten Kapitel aus Simmels „Philosophie des Geldes“, in dem es um die individuelle Freiheit geht, die nach Simmels Auffassung erst durch das Geld möglich und in der heutigen Form der Geldwirtschaft, dem Kapitalismus, zur Vollendung gebracht wird. Freiheit ist ein zentraler Begriff der Moralphilosophie von Immanuel Kant, und Simmels Freiheitsbegriff setzt sich ganz spezifisch von ihr ab. Mit Geld hat Kants Moralbegriff nicht das geringste zu tun, und die Freiheit der Moralsubjekte besteht in der Befolgung von Pflichten. Grundlage des Kantischen Moralbegriffs ist der subjektive Wille des einzelnen Menschen, und dieser wiederum ist im moralischen Sinne nur dann gut bzw. ‚frei‛, wenn er der obersten Pflicht genügt, wie sie Kant im kategorischen Imperativ ausformuliert hat.

In der dritten von insgesamt vier kosmologischen Ideen setzt Kant die Freiheit der Naturkausalität entgegen. Simmel diskutiert zwar erst im vierten Kapitel das Problem der Freiheit, aber trotzdem haben seine Überlegungen im ersten Kapitel zur Wertbestimmung von einerseits begehrten Objekten und andererseits menschlichem Handeln moralphilosophische Implikationen. Hinzu kommt, daß Simmel diese Wertbestimmungen, aus denen er die heutige Geldwirtschaft als ihre höchste Entwicklungsstufe ableitet, am Muster der kosmologischen Ideen orientiert, wie sie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ausformuliert. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.) Die dritte kosmologische Idee enthält schon den Kern der Moralphilosophie, die Kant in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. (In: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd.4, Darmstadt 1983, S.11ff. und S.107ff.)

Die moralphilosophischen Implikationen betreffen neben dem interindividuellen Verhältnis zwischen den Menschen, aber auch zwischen den Menschen und den Objekten, vor allem das intraindividuelle Verhältnis des Menschen zu sich selbst, also zwischen verschiedenen inneren Zuständen im einzelnen Menschen: „(A)lles sittliche Verdienst bedeutet, daß um der sittlich wünschenswerten Tat willen erst entgegengerichtete Triebe und Wünsche niedergekämpft und geopfert werden müßten. Wenn sie ohne jede Überwindung geschieht, als der selbstverständliche Erfolg ungehemmter Impulse, so wird ihr, so objektiv erwünscht ihr Inhalt sei, dennoch nicht in demselben Sinn ein subjektiv sittlicher Wert zugesprochen.“ (Simmel 2009, S.75)

Das entspricht dem Ansatz von Immanuel Kant, der stets betonte, wie sehr die Qualität des moralischen Handelns im Maß der Selbstüberwindung begründet ist, mit der wir uns selbst zur Einhaltung des kategorischen Imperativs nötigen müssen. Kant überhöht diese Nötigung zu einem moralischen Prinzip. Wenn wir nur aus Neigung so handeln, wie es dem kategorischen Imperativ entspricht, dann handeln wir nicht aus freiem Willen, sondern bleiben abhängig von unseren Launen und zufälligen Impulsen.

Simmel übernimmt scheinbar diese Position, denn sie paßt an dieser Stelle in sein Konzept. Er vermengt eine seiner zentralen Wertbestimmungen, nämlich die Widerständigkeit der äußeren Welt, die allererst den begehrten Objekten ihren Wert verleiht, mit der Widerständigkeit der inneren Bewußtseinswelt, in der sich unsere Gefühle in Form von ,Trieben‛ und ,Wünschen‛ den moralischen Anforderungen an unser Handeln widersetzen. Indem wir also unseren inneren Widerstand überwinden müssen, verleihen wir unserem moralischen Handeln einen ‚Wert‛. Ein Handeln, das auf keine inneren Widerstände stößt, hat also auch keinen moralischen Wert. Das Ergebnis ist wiedereinmal, daß der Wille sich gegen sich selbst richten muß, um einen Wert zu haben. Und damit befindet sich Simmel nicht nur in schlechter christlicher, sondern auch in ebenso schlechter Kantischer Tradition.

Für Kant wäre es widersinnig gewesen, dem einzelnen Menschen für den „selbstverständlichen Erfolg“ seiner „ungehemmten“, aber als solchen schon gutartigen „Impulse“ zu gratulieren. Seine Moralphilosophie führt die christliche Tradition fort, in der nur ein Wille zählt: der Wille Gottes. Denn auch bei ihm zählt nur ein Wille, dem wir unsere Neigungen und Gefühle unterwerfen, als hätten wir es bei ihnen nicht ebenfalls mit einem Willen zu tun, aber eben mit einem, dessen Charakter keineswegs mit moralischer Zwangsläufigkeit auf gut oder böse hin bestimmt werden muß.

Eine gute Tat, die eigene Begehrungen überwindet, hat durchaus ihren sittlichen Wert. Aber hat deshalb die gute Tat, die den eigenen Neigungen entspricht, keinen Wert? Ist es nicht vielmehr so, daß das Gute, das wir geben, erst dann als ‚Gabe‛ bezeichnet werden kann, wenn wir sie gerne geben und nicht widerwillig? Ist es nicht so, daß unser Widerwille, den wir mühsam überwinden, den Wert der Gabe, zu der wir uns zwingen müssen, mindert und sogar vernichtet?

Unser moralisches Handeln ist immer auch eine Gabe. Unsere Mitmenschen, als Einzelne schon gar nicht und je nach Kontext nicht mal immer als Gesellschaft, stehen in keinem ab­strakten Werteverhältnis zu unserem Handeln. Das bringt der Begriff der Gabe zum Ausdruck. Die Gabe konstituiert eine Beziehung, die in ihrer Unmittelbarkeit keines regulierenden Dritten bedarf. Deshalb hat der Tausch auch nicht die Form von Ich = Du. Es hat seinen guten Grund, wenn Simmel den Tausch als ein Drittes bezeichnet, um ein Gleichgewicht zu gewährleisten: „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen im absoluten Zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist.“ (Simmel 2009, S.80)

So funktioniert die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen Ich und Du nicht. Beide sind nicht Ursache und Wirkung des jeweils anderen, sondern beide sind Ich. Ein Drittes bildet sich zwischen ihnen, wenn sie sich gemeinsam darauf beziehen, als Referenz und nicht als Regulativ metaphysischer oder moralischer Art. Diese Dimension fehlt bei Simmel wie auch bei Kant.

Was ich der Zweiheit von Ich = Du zuordne: sich in der Begegnung einem anderen Menschen zu öffnen, beschreibt Simmel als eine Eigenschaft „primitiver Kulturen“. (Vgl. Simmel 2009, S.93) Sich auf einen Tausch einzulassen, so Simmel, bedeute für diese Menschen, sich eines Teils ihrer Persönlichkeit zu entäußern, was durchaus ein Aspekt der Zuwendung zum anderen Menschen sein kann: „Das Versenken also in die Subjektivität des Verhaltens zum Gegenstand läßt ihm (dem primitiven Menschen ‒ DZ) den Tausch ‒ naturaler wie interindividueller Art ‒, der mit Objektivierung der Seele und ihres Wertes zusammengeht, als untunlich erscheinen.“ (Simmel 2009, S.93)

Wenn sich also Menschen in sogenannten primitiven Kulturen weigern, sich auf einen Tauschhandel einzulassen, aber dennoch bereit sind, Gaben zu ‚tauschen‛, dann möglicherweise deshalb, weil sie zwischen auf Gewinn und Verlust basierendem Handel und zwischenmenschlicher Kommunikation zu unterscheiden wissen. In der Gabe, wie ich sie verstehe, wird das ,losgerissene Stück des Ich‛ (vgl. Simmel 2009, S.94) zur unsere Menschlichkeit rettenden Antwort auf den Hiatus. Das von mir abgespaltene Objekt wird nicht ,getauscht‛, sondern ,gegeben‛. Und das gilt eben auch für den „interindividuellen Umgang“, wo ich nicht irgendein Objekt ,gebe‛, sondern mich selbst.

So wird in dem Zitat auch deutlich, wie Simmel immer wieder zwei grundverschiedene Ebenen der Objektbeziehung miteinander vermengt. Wenn er vom Tausch „naturaler wie interindividueller Art“ spricht, meint er damit das Tauschen von Objekten der nicht-menschlichen Welt und den Austausch zwischen Menschen gleichermaßen, ohne einen Unterschied zwischen beidem zu machen. Auch aus diesem Grund bekommt Simmel auch dort, wo er von der Liebe spricht, die Besonderheit der freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen nicht in den Blick.

Simmel scheint also Kants moralphilosophischen Ansatz einfach zu übernehmen. Seltsam ist nur, daß er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf Kants Freiheitsbegriff eingeht. Ich vermute, daß das daran liegt, daß Kant im Rahmen seiner Erörterungen zur dritten kosmologischen Idee einen Freiheitsbegriff diskutiert, der sich spezifisch von der Naturkausalität absetzt. Indem Kant zwischen einer Kausalität durch die Natur und einer Kausalität aus Freiheit unterscheidet, stellt er das Problem des guten Willens ins Zentrum seiner Moralphilosophie. Diesen guten Willen kennzeichnen Prädikate wie Pflicht und Verantwortung. Im vierten Kapitel zur individuellen Freiheit macht Simmel genau das Gegenteil: nicht der gute Wille, sondern der begehrende Wille steht bei ihm im Zentrum seines Freiheitsbegriffs und dessen Prädikate sind Verantwortungslosigkeit und die Unabhängigkeit von Verpflichtungen. (Vgl. Simmel 2009, S.461f.) Dieser Freiheitsbegriff, ungeachtet dessen, daß Simmel hier von einer individuellen Freiheit spricht, adressiert nicht die Person mit ihrem Willen, sondern unpersönliche, durch Geldinteressen zusammengehaltene Kollektive. (Vgl. Simmel 2009, S.537, 540f., 546f.)

Im Rahmen eines durch Konsuminteressen zusammengehaltenen Kollektivs sind die widerständigen Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen wollen, plötzlich von Übel. Konsum ist nur die andere Seite einer Geldwirtschaft, die, nach der Marxschen Formel G-W-G', von der Warenproduktion auf Geldproduktion umgestellt hat. Aber noch schlimmer als die Abhängigkeit von Objekten (vom Konsum) ist Simmel zufolge die Abhängigkeit von Menschen, denn von ihnen abhängig zu sein, impliziert eine persönliche, die eigene Person betreffende Abhängigkeit, wie wir sie nichtmenschlichen Objekten gegenüber nicht empfinden. Die größte Abhängigkeit ist also die des Menschen vom Menschen, weshalb die größte individuelle Freiheit dort zu suchen ist, wo diese Abhängigkeit auf ein Minimum reduziert ist. Und das ist beim Geld der Fall.

Im folgenden längeren Zitat wird die, im Vergleich zu Kant, Umkehrung der Prioritäten besonders deutlich: „Wenn die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt, so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen anderen gegenüber besteht; auch die Sinnlichkeit ist ,frei‛, wenn sie mit den Normen der Vernunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist, das Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigener ist, mitziehen wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt.“ (Simmel 2009, S.480; Hervorhebung ‒ GS)

Jetzt geht es also nicht mehr darum, die inneren Neigungen zu überwinden, um so den moralischen Wert unseres Handelns zu erhöhen, sondern um der individuellen Freiheit willen geht es vielmehr darum, sie in ihrer ganzen Vielfalt auszuleben. Die Betonung liegt dabei auf der ganzen Vielfalt, denn wenn wir es zulassen, daß sich auch nur eine Neigung gegenüber allen anderen durchsetzt, und sei es auch die Neigung, moralisch zu handeln, dann würden wir uns als individuelle Person von dieser einzelnen Neigung abhängig machen. Das erinnert an meinen Begriff des Gefühlshaushalts, läuft aber, wie wir noch sehen werden, auf die Entfremdung und Isolierung des Menschen von der Welt und in der Gesellschaft hinaus.

Simmel löst also den Freiheitsbegriff vom Moralbegriff ab und stellt ihn anschließend noch über die Moral. Das aber affirmiert lediglich das, was, wie wir in den folgenden Blogposts sehen werden, in der Geldwirtschaft sowieso schon geschieht.

Samstag, 4. Oktober 2025

Geld und KI

Engster, Haesler und Schlaudt haben ihr von mir in diesem Blog kommentiertes Buch „Kleine Philosophie des Geldes im Augenblick seines Verschwindens“ (2024) betitelt. Aber dieser Titel ist irreführend. Er suggeriert, daß die digitale Technik dem Geld ein Ende bereitet. Obwohl natürlich mit Verschwinden auch gemeint sein könnte, daß es unsichtbar wird. Das entspräche dem, was tatsächlich gerade geschieht.

Das, was tatsächlich geschieht, ist die Überführung des Geldes in eine andere Gestalt: die KI. Engster hatte in seinem Buch „Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit“ (2014) das Geld als eine KI beschrieben, die uns in allen wirtschaftlichen Aktivitäten ‒ also letztlich unsere ganze Lebensführung betreffend ‒ das Rechnen abnimmt. Und Rechnen ist ja längst gleichbedeutend mit Denken.

Wenn also das Geld ,verschwindet‛, dann hat es nur seine Gestalt gewechselt. Alle seine Funktionen sind auf die KI übergegangen, als die es wie ein Phönix aufersteht.

Ich werde meine Kommentare zu Simmel mit Bemerkungen zum vierten Kapitel seiner „Philosophie des Geldes“ Anfang November fortsetzen. Dann wird es um das Verhältnis von Geld und Freiheit gehen.

Freitag, 3. Oktober 2025

Zwei Anthropologien

Während Plessner seine Anthropologie an der Frage orientierte, wie sich der Mensch in der Welt verwirklicht, besteht Simmels Anthropologie darin, zu zeigen, wie der Mensch das Geld möglich machte und dann das Geld den Menschen vernichtete.

Donnerstag, 2. Oktober 2025

Begehrungen

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


Georg Simmel beginnt seine philosophische Analyse des Geldes mit einer Genese des Tauschwertes. Ein Tauschobjekt erhält seinen Wert allererst dadurch, daß jemand es haben will und jemand anderes es hat. Natürlich muß die Tauschpartnerin auch etwas haben, an dessem Besitz sie selbst kein so großes Interesse hat, das aber für den anderen wichtig genug ist, um den von ihr begehrten Gegenstand dagegen einzutauschen. Im Verhältnis zueinander erhalten jetzt also beide Tauschobjekte ihren Wert. Aber der Grund für diese Wertbestimmung liegt nicht in den beiden Tauschobjekten selbst, sondern im Begehren der beiden Tauschpartner. Deren Wille ist der eigentliche Grund für eine aus dem Tauschakt hervorgehende Wertbestimmung.

Der Wille bildet, so Simmel, das „Urphänomen“ der Genese des Werts (vgl. Simmel 2009, S.26): „Alle Deduktionen des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich, schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne jedoch aus ihnen hergestellt zu werden ‒ wie alle theoretischen Beweise nur die Bedingungen bereiten können, auf die hin jenes Gefühl der Bejahung oder des Daseins eintritt.“ (Simmel 2009, S.26)

Simmel setzt den Wert zunächst mit dem subjektiven Willen gleich. Die Werte spiegeln nur unser Begehren, das uns erfüllt, wenn wir das, was wir wollen, nicht unmittelbar realisieren können: „Wir begehren die Dinge erst jenseits ihrer unbedingten Hingabe an unseren Gebrauch und Genuß, d.h. indem sie eben diesem irgendeinen Widerstand entgegensetzen ... Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht ‒ heißt uns ein Wert.“ (Simmel 2009, S.34)

Aus diesem Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, den ich mit Plessner als Hiatuserfahrung bezeichne, geht allererst ein „Bewußtseinsprozeß“ hervor. (Vgl. Simmel 2009, S.33) Für diesen elementaren Prozeß brauchen wir keine Metaphysik. Es genügt, die Differenz („Abstand“) zu betonen, denn der Hiatus schließt sich nicht mehr. Erst hier beginnt die Möglichkeit des Wertens: als Differenz. Nicht der Wert steht am Anfang eines Bewußtwerdungsprozesses, sondern die Differenz. Und die Möglichkeit des Wertens bildet nur einen Teil des differenziellen Potenzials.

So weit kann man also Simmels Argumentation folgen. Aber Simmel zufolge entspringt das Selbstbewußtsein nicht einem Hiatus in der Welt, sondern einem Hiatus in uns selbst, also im Inneren unseres Bewußtseins. Er bezeichnet diesen Hiatus als eine „Urtatsache des Selbstbewußtseins“: „Unsere Seele besitzt keine substantielle Einheit, sondern nur diejenige, die sich aus der Wechselwirkung des Subjekts und des Objekts ergibt, in welche sie sich selbst teilt. Dies ist nicht eine zufällige Form des Geistes, die auch anders sein könnte, ohne unser Wesentliches zu ändern, sondern ist seine entscheidende Wesensform selbst. Geist haben, heißt nichts anderes als diese innere Trennung vornehmen, sich selbst zum Objekt machen, sich selbst wissen zu können.“ (Simmel 2009, S.132f.; Hervorhebungen ‒ DZ)

Simmel geht also allen Ernstes davon aus, daß wir nicht erst durch eine Erfahrung in der Welt, sondern schon vor aller Erfahrung uns in uns selbst als Objekt erkennen und so zu einem Selbstbewußtsein kommen. Da traut er unserem Bewußtsein doch etwas zu viel zu. Bewußtsein ist zunächst Intentionalität, und als solche reflektiert es sich nicht selbst, sondern es geht unmittelbar auf Objekte. Erst in der gebrochenen Unmittelbarkeit beginnt es, sich selbst zu reflektieren. Und selbst dann gelangen viele Menschen nicht zu einem Selbstbewußtsein.

Ein Bewußtsein, das sich in sich selbst begründet, ist immer zirkulär. Was war vor dem Bewußtsein, das sich in Subjekt und Objekt gespalten hat? Auf welcher Seite befindet sich das Bewußtsein nach dieser Spaltung: auf der Subjektseite oder auf der Objektseite? Die Fragen, die sich hier stellen, schweben im luftleeren Raum und kreisen um sich selbst. Es ist also kein Wunder, daß Simmel den aus einem inneren Hiatus hervorgehenden infiniten Regreß in eine „Kreisbewegung“ umbiegt und mit einem Zirkelschluß argumentiert: „Indem der Relativismus als Erkenntnisprinzip sich mit der Unterordnung unter sich selbst, die so vielen absolutistischen Prinzipien verderblich wird, gerade von vornherein selbst beweist, drückt er nur am reinsten aus, was er auch jenen anderen leistet: die Legitimierung des Geistes, über sich selbst zu urteilen, ohne durch das Ergebnis dieses Urteilsprozesses, wie es auch ausfalle, den Prozeß selbst illusorisch zu machen.“ (Simmel 2009, S.133)

Wir haben es bei der inneren Trennung (Hiatus) in Subjekt und Objekt mit einem in sich geschlossenen Zirkel zu tun, der sich auf keine Objekte in der Welt bezieht und deshalb auch nichts mehr begehrt. Er genügt sich selbst. Das ganze erste Kapitel der „Philosophie des Geldes“ besteht darin, dieses metaphysische Konstrukt auf die Geldwirtschaft zu übertragen, als „ideelles Reich“ mit seinem „zur Substanz erstarrte(n) Gelten, das Gelten der Dinge ohne diese Dinge selbst“, womit Simmel nichts anderes meint als das Geld. (Vgl. Simmel 2009, S.139)

Simmel selbst weiß um die Problematik eines solchen Reichs: „So ist das wirtschaftliche System allerdings auf eine Abstraktion gegründet, auf das Gegenseitigkeitsverhältnis des Tausches, die Balance zwischen Opfer und Gewinn, während es in dem wirklichen Prozeß, in dem es sich vollzieht, mit seinem Fundamente und seinem Ergebnis: den Begehrungen und Genüssen, untrennbar verbunden ist. Das Entscheidende für die Objektivität des wirtschaftlichen Wertes, die das Wirtschaftsgebiet als selbständiges abgrenzt, ist das prinzipielle Hinausgehen seiner Gültigkeit über das Einzelsubjekt.“ (Simmel 2009, S.62)

Mit dieser „Abstraktion“, dem ideellen Reich der Werte, verlassen wir also die Ebene des unmittelbaren Bezugs auf Tauschobjekte, mit denen wir unsere Bedürfnisse gleichermaßen unmittelbar wie gegenseitig befriedigen. Wo aber bei Simmel beschönigend von einer „Balance zwischen Opfer und Gewinn“ die Rede ist, wird hier zugleich auch ein Konkurrenzverhältnis grundgelegt, in dem die Tauschpartner ihren Gewinn auf Kosten des jeweils anderen zu maximieren versuchen. Die Gegenstände spiegeln nicht mehr unser individuelles Begehren, sondern der Gewinn der einen Tauschpartnerin spiegelt sich im Verlust des anderen. Mit anderen Worten: wir verlassen eine von Individuen bestimmte Praxis und betreten die durch Werte regulierte Praxis der Gesellschaft.

Mittwoch, 1. Oktober 2025

Wechselwirkungen

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Kurt Röttigers, Tausch, in: HWdPh, Bd.10


Als ich letztens einige Stichwörter im Historischen Wörterbuch der Philosophie nachschlug, stieß ich unter dem Artikel zum „Tausch“ auf eine Textstelle, die mich irritierte und mich veranlaßte, mir Georg Simmels (1858-1918) Buch zur „Philosophie des Geldes“ (1900) in einer 2009 erschienenen Ausgabe zu kaufen. Ich zog diese Hardcoverausgabe der Softcoverversion der wissenschaftlich-kritischen Edition vor, weil sie beim von meinen Unterstreichungen und Randbemerkungen begleiteten Lesen leichter zu handhaben ist.

Ich habe jetzt die ersten 150 Seiten von insgesamt 832 Seiten gelesen, und das Ende des ersten Kapitels bietet mir die Gelegenheit, eine Zäsur zu setzen und, bevor ich die Lektüre fortsetze, einige grundlegende Einsichten festzuhalten. Die Textstelle in dem Wörterbuchartikel, die mich irritierte, besteht aus Zitaten von Simmel. Diese Zitate legen nahe, daß meine Formel zur freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen, Ich = Du, kompatibel ist mit dem Warentausch. Wenn nämlich jede von Zweien der anderen das gibt, was jene entbehren kann und diese braucht, bedeutet das Simmel zufolge, „daß jeder dem anderen mehr gibt als er selbst besessen hat“. (Vgl. K. Röttigers, in: HWdPh, Bd.10, Sp.922f.; vgl. auch Simmel 2009, S.64)

Weiter heißt es im Wörterbuch: „Simmel zieht daraus den verallgemeinernden Schluß, ,daß die Mehrzahl der Beziehungen untereinander als ein T. (Tausch ‒ DZ) gelten kann; er ist zugleich die reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht.‛ () Er konkretisiert das folgendermaßen: ,Jede Wechselwirkung ... ist als ein T. zu betrachten: jede Unterhaltung, jede Liebe ... jedes Spiel, jedes sich Anblicken‛ ().“ (Vgl. HWdPh, Sp.923; vgl. Simmel 2009, S.63)

Wenn das so ist, dann gibt es zwischen dem Warentausch, dem Geld und der Liebe keinen Unterschied.

Wenn ich meine Vorstellung von einer freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen aufrechterhalten will, darf sie aber keineswegs unter einen Begriff von Wechselwirkung fallen, im Sinne einer reinsten und gesteigertsten Wechselwirkung, der beinhaltet, daß alles seinen ,Preis‛ hat. Das aber heißt wiederum, daß der Begriff der Wechselwirkung eben nicht mit dem der Wechselbeziehung bedeutungsgleich sein kann. Ich halte deshalb dagegen, daß ,Wirkungen‛, also auch Wechselwirkungen, immer Ursachen haben, wobei wir es bei Wechselwirkungen eben mit wechselseitigen Verursachungen zu tun haben. Eine solche wechselseitige Verursachung läßt sich natürlich anders als in einem linearen Kausalverlauf nicht auf eine einzelne Ursache zurückverfolgen. Demnach haben wir es also bei der Wechselwirkung mit einer nicht-linearen Kausalität zu tun, wie sie zwischen den Teilen eines Ganzen stattfindet. In diesem Sinne argumentiert übrigens, wie wir noch sehen werden, auch Simmel.

Aber wir haben es dennoch auch bei dem Begriff der Wechselwirkung mit einem Kausalverhältnis zu tun, das auf die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen, wie sie von Simmel mit einem Begriff wie „Liebe“ (siehe Zitat) angesprochen wird, nicht angewandt werden kann. Zwei Menschen sind füreinander ‚Du‛, ohne daß diese Wechselseitigkeit auf Kausalität, und sei sie auch eine nicht-lineare, zurückgeführt werden könnte. Das heißt nicht, daß es im Ich = Du keine Wechselwirkung gibt, sondern nur, daß die freie und gleiche Wechselbeziehung nicht durch Wechselwirkung konstituiert wird. Da aber die Differenz zwischen zwei Menschen in der Wechselbeziehung nicht aufgehoben wird, gibt es selbstverständlich auch eine Wechselwirkung zwischen ihnen.

Dieses Verhältnis zwischen Wechselbeziehung und Wechselwirkung wird noch einmal verkompliziert durch das der Ökonomie zuzuordnende Tauschverhältnis. Im Grunde bildet der Tausch ein referentielles Dreieck, in dem die Referenz der beteiligten Akteure nicht aus einem, sondern aus zwei Tauschobjekten besteht, die in einer je individuellen Beziehung zu dem einen und dem anderen der beiden Tauschpartner stehen, während zugleich die beiden Tauschpartner zueinander in einer Beziehung stehen, die durch das Interesse des einen an dem Gegenstand im Besitz des anderen, und umgekehrt, bestimmt ist.

Auch innerhalb einer freien und gleichen Wechselbeziehung hat die Referenz, die hier in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf bloß einen Gegenstand besteht, einen je individuellen Bezug zu jedem der beiden Partner, aber was diese miteinander ,tauschen‛, ist nicht das Objekt selbst ‒ es sei denn als Geschenk ‒, sondern ihre Perspektiven auf dieses Objekt. In einer freien und gleichen Wechselbeziehung bildet die Referenz eine Option, die die Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen veranlassen und darüberhinaus eine vorhandene Zweierbeziehung, Freundschaft, Liebe, Interessengemeinschaft etc., stärken kann.

Wenn es aber nicht darum geht, einander zu diesem Dritten in eine gemeinsame Beziehung des wechselseitigen Gebens und Nehmens zu setzen, sondern zweierlei Drittes (Tauschobjekte) mit Hilfe einer Bestimmung des Werts eines jeden Objekts im Verhältnis zum anderen zu tauschen, verwandelt sich die freie und gleiche Wechselbeziehung in eine Konkurrenzbeziehung des Gebens, um zu nehmen. Die erste Beziehungsform möchte ich als Gabe bezeichnen, die zweite als Tausch. Der Tausch bildet dann eine Wechselwirkung in Form der ökonomischen Praxis.

Letztlich wirft Simmel zwei grundverschiedene Beziehungsebenen in einen Topf: die des Menschen zu Gegenständen der nicht-menschlichen Welt, zu denen auch noch Artefakte wie die Waren zu zählen wären, und die des Menschen zu seinem Mitmenschen. Bei der Gabe und beim Tausch haben wir es also mit Objekten zu tun, die zueinander kategorial verschieden sind. (Vgl. Simmel 2009, S.93)

Wenn ich hier von der ,Gabe‛ spreche, um eine Differenz zum Tausch aufzumachen, halte ich mich an eine bestimmte Bedeutung, ohne mich weiter um die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Bedeutungen zu kümmern, die dieses Wort in der Ethnologie und Anthropologie außerdem noch hat. Ich halte den Gabentausch nicht für eine Frühform des Warentausches und werde deshalb auch gar nicht erst von einem Gaben-,Tausch‛ sprechen. Was zwei Menschen in einer freien und gleichen Wechselbeziehung einander ,geben‛, ist eine ,Gabe‛. Damit ist alles gesagt.

Auch Simmel hat eine Vorstellung von dieser Differenz zwischen Gabe und Tausch, wie sich in folgender Textstelle zeigt: „Wo wir Liebe um Liebe tauschen, wüßten wir mit der darin offenbarten inneren Energie sonst nichts anzufangen; indem wir sie hingeben, opfern wir ‒ von äußeren Betätigungsfolgen abgesehen ‒ keinerlei Nutzen auf; wenn wir in der Wechselrede geistige Inhalte mitteilen, so nehmen diese darum nicht ab; wenn wir unserer Umgebung das Bild unserer Persönlichkeit darbieten, indem wir das der anderen in uns aufnehmen, so vermindert dieser Austausch unseren Besitz in keiner Weise.“ (Simmel 2009, S.64)

Simmel beschreibt hier völlig korrekt den Unterschied zwischen einem Tausch, der unter dem Druck wirtschaftlicher Konkurrenz, von Gewinn und Verlust, geschieht, und der Kommunikation zwischen zwei Menschen, bleibt aber dabei, beides als Wechselwirkung zu bezeichnen, und spricht sogar weiterhin unterschiedslos vom Tausch. Hier fehlt es ihm an Arbeit am Begriff.

Dienstag, 23. September 2025

Wie lange noch?

Gerade habe ich eine Sendung des Philosophischen Radios von Jürgen Wiebicke mit Heino Falcke, einem Astrophysiker, der das Photo von einem schwarzen Loch gemacht hat, zur Geschichte unseres Planeten gehört. Darin bekennt Falcke sich dazu, an Gott zu glauben. Das will ich ihm nicht nehmen. Aber gegen Ende der Sendung sagt er noch, alles sei endlich, auch der Mensch. Aber man wisse ja nicht, wann sein Ende eintritt. Vielleicht gibt es ihn ja noch viele „Milliarden“ Jahre.

Kann ich noch seinen Glauben an Gott anerkennen, ohne an seinem Verstand zu zweifeln, so belegt dieses ,Milliarden Jahre‛ leider einen ‒ hoffentlich bloß momentanen ‒ Aussetzer seines Verstandes. Nehmen wir den Menschen, wie er uns im Anthropozän erscheint, so besteht seine hauptsächlichste Eigenschaft darin, Entwicklungsprozesse zu beschleunigen, so sehr, daß sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren das Antlitz des Planeten drastisch verändert hat. Sieht man sich das Entwicklungspotenzial allein der digitalen Technologien an, dann wird dieses Entwicklungstempo derart zunehmen, daß sich Jahrtausende der biologischen und kulturellen Evolution auf wenige Jahre und Monate verkürzen werden.

Sind eine Milliarde Jahre angesichts der bisherigen biologischen Evolution schon eine gewaltige Zahl, so muß diese eigentlich sogar, angesichts der technologischen Rasanz und um die damit zusammenhängenden schon eingetretenen und noch bevorstehenden Veränderungen verhältnismäßig zur biologischen Zeitebene deutlich zu machen, noch um mehrere Zehnerpotenzen erhöht werden. So viel bräuchte wohl die natürliche Evolution, um mit unserer künstlichen mithalten zu können. Die 13,8 Milliarden Jahre seit dem Urknall erscheinen dagegen als ein Klacks.

Aber wir haben natürlich weder die von Falcke anvisierten Milliarden Jahre noch überhaupt alle Zeit der Welt. Ich selbst gebe den Menschen nur noch wenige hundert Jahre. Eigentlich ist das schon zu viel gerechnet. An eine Zukunft jenseits der Erde, im Weltraum, glaube ich nicht. Da glaube ich schon eher an Gott.

Montag, 1. September 2025

Pflicht & Zweifel

Anne Nuhn, Pflicht & Zweifel. Ein Regency-Märchen Roman, Buch 1, 2025
ISBN 978-1-0670534-2-0
https://annenuhn.com/

Hallo Anne,

endlich halte ich den ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ in meinen Händen. Ich hatte ihn im Buchhandel bestellen wollen und mußte mich darüber aufklären lassen, daß dieses Buch trotz ISBN-Nummer nicht im Buchhandel erhältlich sei. Man kann es nur über Amazon beziehen, und ich bestelle nichts bei Amazon. Niemals. Meine Schwester half mir aus der Verlegenheit und überließ mir ihr Exemplar.

Endlich konnte ich erfahren, was aus dem Digiskript geworden ist, das Du mir vor sechs Jahren anvertraut hattest. Manches in dem fertigen Exemplar ist anders, als ich es in Erinnerung habe. Ich will es hier aber nicht Zeile für Zeile mit dem Digiskript vergleichen, sondern nur auf das eine und andere hinweisen, das mir besonders ins Auge fällt.

Das Erste, was mir auffällt, ist natürlich der geänderte Titel. Das Digiskript hatte noch den Arbeitstitel „Zorn & Zweifel“. Dieser Arbeitstitel spielt auf die beiden hauptsächlichen inneren Zustände von Carolena Seed/Bloom an, die den ersten Band der Trilogie dominieren. Der endgültige Titel ist weniger persönlich und hebt die moralisch-gesellschaftliche Dimension des Buches hervor. Er ändert nichts an der inneren Zerrissenheit von Carolena, deutet aber den Weg an, der vor ihr liegt und den sie noch zu gehen hat. Das vom Arbeitstitel angedeutete existenzielle Drama verschiebt sich mit „Pflicht & Zweifel“ in Richtung eines Bildungsromans und erinnert so an Jane Austen (1775-1817), von der wir ähnliche Gegenüberstellungen kennen: „Stolz und Vorurteil“ oder „Sinn und Sinnlichkeit“. Nicht umsonst nennst Du Deine Trilogie ein Regency-Märchen.

Dabei ist die Regency-Epoche, 1810 bis 1820, eine Umbruchzeit, in der traditionelle Lebensweisen neuen Technologien weichen mußten, und also keineswegs eine Zeit der Märchen; jedenfalls nicht im Sinne der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Deine Trilogie ist eher eine gelungene Mischung aus Märchen, Fantasy und Bildungsroman. Dabei fällt vor allem eins auf: der Pflichtbegriff beschränkt sich eben nicht auf die Gentleman-und-Lady-Etikette der englischen Standesgesellschaft. Du gibst dem Pflichtbegriff zwei verschiedene Inhalte, zwischen denen Carolenas Bildungsweg verläuft, im ständigen Wechsel zwischen dem einen und dem anderen, tastend, irrend, im verzweifelten Versuch, den Klippen und Fallstricken beider Pflichten auszuweichen.

Tatsächlich handelt es sich nicht einfach um zwei Pflichten, sondern um zwei Welten, der Welt der Magie und der Welt der Vernunft. Aber nein! Auch das trifft es nicht ganz. Die Magie ist nicht vernunftlos, und die gesellschaftliche Vernunft ist nicht einfach nur vernünftig; heute nicht und eben auch nicht in der Regency-Epoche. Siehe Austens „Stolz und Vorurteil“.

Auf der Seite der Magie lernt Carolena die Grausamkeit kennen. Diese Magie gibt ihr die Mittel in die Hand, ihre Rache ins Werk zu setzen. Aber auf der Seite der Magie gibt es auch Vernunft. Eine Natur-Vernunft. Eine Vernunft des Geschehenlassens. Eine Vernunft der Akzeptanz. Eine kosmische Vernunft, die einerseits grausam über das persönliche Schicksal von Einzelnen hinweggeht, aber andererseits alles mit allem verbindet: eine große Harmonie. Eine Natur-Vernunft also, deren Magie kein fügsames Werkzeug ist für Carolenas Rache.

Die gesellschaftliche Vernunft steht hingegen für Regeln, für Ordnung, für Macht, für das Eingreifen, Zurichten und Planen. Nichts läßt sie geschehen, ohne es zu bewerten, es entweder einem Nutzen zuzuführen oder es zu vernichten, weil es schädlich ist.

Sowohl in der Natur wie auch in der Gesellschaft sind es Carolenas Mitleid und vor allem ihr Gerechtigkeitsempfinden, die sie dazu verleiten, durch ihr Eingreifen alles nur noch schlimmer zu machen. Das sind die zwei Dimensionen der Pflicht, mit denen sie sich zunächst als Lehrling in der Magie und dann als Debütantin im Dienst einer Lady konfrontiert sieht.

Das ist so etwa der erste Band Deiner Trilogie und natürlich wie alle Zusammenfassungen völlig unzulänglich. Aber dieses Buch ist Dir gelungen. Mal sehen, wie ich jetzt in den Besitz des zweiten Bandes komme. Vielleicht kann mir meine Schwester weiterhelfen.

Noch eins zum Schluß: Was den Zweifel betrifft, so ist es doch ein Magier, nämlich Borke, der der größte Zweifler im ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ ist und dem Carolenas Gewißheiten ziemlich auf die Nerven gehen: „Wir können von Glück sagen, dass Sie kein Zepter in der Hand halten!“ (S.134) ‒ Was für eine wunderbare Ironie, wenn man an den Schluß der Trilogie denkt!

Liebe Grüße,
Detlef

Freitag, 1. August 2025

Im Briefkasten

Ich fand in meinem Briefkasten zwei kleine Heftchen von Petra Klingl. Von Amazon versandt und ohne Begleitbrief. Auch keine Rechnung. Ein Heftchen über Haikus und ein Heftchen mit Haikus. Die Regeln in dem einen Heftchen, wie man Haikus schreibt, werden von den Haikus im anderen Heftchen nicht eingehalten. Das hat mir gefallen. Gefallen haben mir auch die Haikus. Aber diese Petra Klingl kenne ich nicht. Ich weiß nicht wer und warum mir die beiden Heftchen geschickt hat. Wer auch immer hat meiner Postanschrift „Blog Erkenntnisethik“ hinzugefügt. Es muß sich also um eine Besucherin oder einen Besucher meines Blogs handeln.

Im Briefkasten zwei
Umschläge von Amazon.
Einer mit Haiku.

Mittwoch, 16. Juli 2025

01.07.–15.07.: Übersicht und Links

1. Der aktuelle Stand, 01.07.
2. Der imaginäre Punkt, 02.07.
3. griechische Antike
Knabenliebe, 05.07.
4. Kaiserzeit
Diätetik, 06.07.
Ehe und Zweiheit, 07.07.
Mißbrauch der Zweiheit, 08.07.
5. frühes Christentum
Diätetik, 09.07.
Ehe und Zweiheit, 12.07.
Erkenntnis, 13.07.
Jungfräulichkeit, 14.07.
6. Das Subjekt und die Macht, 15.07.

Dienstag, 15. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault:
Sexualität und Wahrheit: Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Hermeneutik des Subjekts (2004)

6. Das Subjekt und die Macht

In diesem letzten Blogpost kehre ich noch einmal zum ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“, zu „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1) zurück. In diesem Band spricht Foucault die Möglichkeit an, daß „man die Mechanismen der Sexualität umkehren“ könne, indem man sich vom „Sex-Begehren“ abwendet. (Vgl. SuW 1, S.187) Die Macht des Sexualitätsdispositivs und damit die Macht selbst in ihrer ganzen Anonymität, in ihrer lebensweltlichen Verfaßtheit, kann also gebrochen werden. Das Sexualitätsdispositiv bzw. den „Sex“ hatte Foucault zuvor als einen „imaginären Punkt“ bezeichnet, der die „Totalität des Körpers“, nämlich gleichzeitig als Pluralität und als Ganzes und außerdem biographisch als eine Identität, „symbolisch darstellt“. (Vgl. SuW 1, S.185)

Das ist eine schwierige, in sich widersprüchliche Konstruktion, stellt aber wohl den Versuch dar, der Macht ein widerständiges Subjekt entgegenzustellen. In den insgesamt vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ wird Foucault darauf nicht mehr zurückkommen. Aber in der Vorlesung vom 17.02.1982 in „Hermeneutik des Subjekts“ (2004; S.308ff.) finde ich eine Stelle, in der Foucault auf die „Bedeutung“ zu sprechen kommt, „die ich dieser Untersuchung der Sorge um sich und des Selbstbezugs beimesse, die Ihnen etwas schleppend und pedantisch erscheinen mag“. (Vgl. Foucault 2004, S.314)

An dieser Stelle geht Foucault noch einmal ausdrücklich auf die Funktion des Subjekts in einer „Ethik des Selbst“ ein, „wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich“. (Vgl. Foucault 2004, S.313) ‒ Auch hier, „wenn es denn wahr ist“, wieder die enge Verbindung von Selbst und Wahrheit, die den Titel der vier Bände zu „Sexualität und Wahrheit“ spiegelt.

Zu Beginn seiner Vorlesungsreihe, am 06.01.1982, stellt Foucault diese Verbindung ausdrücklich her: Nur über das Subjekt eröffnet sich ein Zugang zur Wahrheit, nicht über das Individuum. (Vgl. Foucault 2004, S.34 und S.36) Zwar gilt das im Zusammenhang dieser Vorlesung nur für die ,Geistigkeit‛, also für die spirituelle Dimension der Wahrheit, und nicht für die kognitive Erkenntnis der heutigen Wissenschaft und Politik. Außerdem habe ich, wie ich hier gerne festhalten möchte, ein Problem mit einer spirituell verfaßten Geistigkeit, die auf Praktiken der Erleuchtung setzt. Und auch die Trennung zwischen dem Subjekt und dem Individuum halte ich für künstlich und wirklichkeitsfremd. Das Subjekt und seine Subjektivität sind untrennbar mit der Biographie eines Individuums verbunden.

Dennoch hebt Foucault in seiner Vorlesung vom 17. Februar zurecht die politische Bedeutung des Subjekts und seines Zugangs zu seiner Wahrheit hervor: „Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeineren Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität, der Gouvernementalität verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse,() dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert.“ (Foucault 2004, S.313f.)

Zwei Dinge sind für mich gerade angesichts einer zunehmenden Ablehnung von universellen, humanistischen Prinzipien und einer grassierenden Subjekt- und Menschenfeindlichkeit in der Philosophie, in der Wissenschaft und in der gesellschaftlichen Praxis bemerkenswert: Foucaults Festhalten am Subjektbegriff und daß gerade er, der dem Diskurs der Macht sein ganzes philosophisches Wirken gewidmet hat, auf die Reversibilität, auf die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen verweist, für die, setzt man auf diese Veränderbarkeit, eben gerade der Subjektbegriff unverzichtbar ist.

Montag, 14. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Jungfräulichkeit und Ordensgemeinschaft ‒ Es gibt zwei Formen einer Gott geweihten christlichen Lebensführung: die Ordensgemeinschaft, von der hier schon die Rede gewesen ist, und die ‚Jungfräulichkeit‛, die sich unabhängig von irgendeiner Gemeinschaftsbindung ebenfalls ausschließlich der Gottesbeziehung widmet. Dabei hat der Begriff der Jungfräulichkeit sein Vorbild in der Gottesmutter Maria, meint aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Foucault bezieht sich bei diesem Thema auf Basilius (336-365), ehemaliger Arzt und Bischof von Ankyra, und auf Clemens von Alexandrien (150-250), Philosoph und Theologe.

Foucault weist ausdrücklich darauf hin, daß sich alles, was Basilius von Ankyra zur Jungfräulichkeit zu sagen weiß, diametral von dem unterscheidet, was Cassian über das Klosterleben schreibt: „Die Analyse Cassians ist sehr anders als die des Basilius von Ankyra. Sein Bezugsrahmen ist die klösterliche Praxis ... Auf jeden Fall treffen die Ausführungen Cassians, die Regeln und Vorschriften, die er aufzeigt, auf eine Lebensform zu, bei der der Verzicht auf jegliche Form von sexuellen Beziehungen bereits erfolgt ist.“ (SuW 4, S.292)

Foucaults Formulierung vom „Verzicht“ klingt so, als handelte es sich bei der Entscheidung des Novizen für das Kloster um eine der Jungfräulichkeit vergleichbare freie Entscheidung, was aber angesichts dessen, was Foucault zuvor über die Taufe und über das Klosterleben geschrieben hatte, nicht so gemeint sein kann. Möglicherweise meint er mit der Feststellung, daß der Verzicht „bereits erfolgt“ sei, daß mit dem Gelübde für den jetzigen Mönch der Punkt gesetzt ist, von dem an er sich vollständig dem Willen anderer zu unterwerfen hat, während die ,Jungfrau‛ zwar ebenfalls verzichtet, ihr Wille aber weiterhin durch kein Gelübde gebunden ist.

Ein weiterer Unterschied zum Klosterleben besteht darin, daß die Jungfräulichkeit nach dem Modell „der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen“ (vgl. SuW 4, S.274), bis hin zur „sexuelle(n) Vereinigung von zwei Individuen als implizites oder explizites Modell“ für den „souveränen Eingang des Herrn“ in den jungfräulichen Geist (vgl. SuW 4, S.297), gestaltet ist, während im Kloster die „Beziehung des Geistes zu Gott“ eine reine „Erkenntnisbeziehung“ (vgl. SuW 4, S.298) „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“ ist. Cassian denkt das Klosterleben nicht in den Kategorien der Jungfräulichkeit, nicht nach dem Modell von Braut und Bräutigam, sondern er denkt es als geistigen „Akt der Betrachtung (Gottes), der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)

Gemeinsam ist beiden Glaubenspraktiken, der Jungfräulichkeit und der Erkenntnisbeziehung, jedenfalls, daß sie ganz und gar auf Gott ausgerichtet sind. Gott übernimmt dem Gläubigen gegenüber die Funktion des Du, das jetzt nicht mehr für soziale Beziehungen zwischen Menschen zur Verfügung steht. Cassian deutet den ‚Anderen‛ um zum „Feind“, gegen den der Gläubige einen „geistigen“ Krieg führen muß: „Aber als Krieg gegen einen Gegner (und mehr noch einen unermüdlichen, zu allen Listen fähigen Feind als einen Rivalen in einem redlichen Spiel) erfolgt der Kampf gegen einen anderen. Athleten gebietet der Kampf eine Form des Selbstbezugs. Kriegerisch ist er eine Beziehung zu einem irreduziblen Element der Andersheit.“ (SuW 4, S.305f.)

So steht also jede Beziehung zu einem Anderen, der bzw. das nicht Gott ist, unter diesem Makel der potenziellen Feindschaft, auch das Verhältnis von Körper und Seele, wobei der Körper das Schlachtfeld der Seele mit dem Feind ist: „Der geistige Kampf ist damit unabdingbar eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen, die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt, schließlich die Aufgabe der Entzifferung, um zu erfassen, was sich unter dem Anschein des Selbst verbirgt.“ (SuW 4, S.305f.)

Was Foucault hier als „Anschein des Selbst“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Körperleib, auf dem sich wie auf einem Schlachtfeld die Kräfte des Feindes (Außenwelt) und die seelischen Befindlichkeiten (Innenwelt) begegnen und vermischen, so daß sich der Gläubige in dem Kampfgetümmel nicht mehr wiedererkennt: „Insgesamt handelt es sich um ein komplexes Spiel zwischen der Seele und dem Feind, bei dem mittels des Körpers, der Bewegungen von sich gibt und aufnimmt, Gedanken ausgesandt, repetiert, aufgenommen, von neuem in Gang gesetzt werden.“ (SuW 4, S.307f.)

Teile des Kapitels zur Jungfräulichkeit sind für mich deshalb interessant, weil hier auf eine spezifische, sich zunächst von Cassian, dann aber eben auch von Plessner gravierend unterscheidende Weise vom Körperleib die Rede ist. ,Jungfräulichkeit‛ meint kein weibliches Zustandsmonopol, sondern transzendiert im Gegenteil die Zweigeschlechtlichkeit in Richtung auf einen Körper, wie er in einem Leben nach dem Tod sein wird. Schon in diesem Leben, also diesseits des Todes, können auch Männer ihr Leben der Jungfräulichkeit widmen. Schon diesseits des Todes ist der jungfräuliche Mensch also engelgleich, d.h. geschlechtslos. Dem Krieg, den der Mönch gegen das Andere führt und damit eben auch gegen sich selbst, wird durch die Jungfräulichkeit ein Ende gesetzt.

Bruch zwischen Innen und Außen ‒ Bei der Jungfräulichkeit, schreibt Foucault mit Bezug auf Clemens von Alexandrien, gehe es um den „Schnitt“ zwischen Schöpfung und Zeugung, „ab dem die sexuelle Betätigung in der Geschichte der Welt eine Rolle spielt“: „Sie (die ‚sexuelle Betätigung‛ ‒ DZ) muss verhindern, dass das Gesetz des Todes vollkommen siegt; sie muss die Erde bevölkern, bevor sie ihrerseits verschwindet, wenn mit der Inkarnation (der Geburt Christi ‒ DZ) die Zeit der Erlösung gekommen ist.“ (SuW 4, S.273)

Gab es zu Beginn der Schöpfung und nach der Vertreibung aus dem Paradies nur zwei Menschen auf der Erde, Adam und Eva, mußte alles darauf angelegt sein, die Erde zu bevölkern und den Fortbestand der Menschheit sicher zu stellen. Nach der Inkarnation aber, also nach Christi Geburt, gibt es so viele Menschen, daß die Jungfräulichkeit an die Stelle der Sexualität treten kann. Alles, was zwei Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, kann nun auf die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott übertragen werden, und vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Frau und Mann: „Schließlich leitet die Jungfräulichkeitsmystik () eine Zäsur ein, die in Form von geistigen Gestalten ein Zusammenspiel von Regungen, Vereinigungen, Fortpflanzungen entwirft, die ein wortwörtliches Doppel der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen sind.“ (SuW 4, S.274)

Als ,Jungfrauen‛ können Frauen und Männer gleichermaßen zu Bräuten Christi werden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder bei Foucault von einem „Schnitt“, einer „Zäsur“, einem „Bruch“ die Rede, den die „Rolle der Jungfrau“ markiert. (Vgl. SuW 4, S.283) Immer wenn von einem „Bruch“ die Rede ist, werde ich hellhörig, weil ich dabei sofort an Plessner denke. Im Falle der Jungfrau geht es dabei um die Abtrennung der zweigeschlechtlichen „körperlichen Liebe“ von der „unkörperlichen Liebe zu Gott“. (Vgl. SuW 4, S.284)

Die unkörperliche Liebe zu Gott ist vor allem eine Sache der Seele, die bei allen, bei Frauen und Männern, ,gleich‛, d.h. ungeschlechtlich ist. Plessners Hiatus besteht im Bruch zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt, zwischen Innen und Außen.

Die Jungfräulichkeit hingegen ist ein innerer Bruch, ein Bruch zwischen Körper und Seele, und nur insofern auch ein Bruch zwischen Innen und Außen, als der Körper in Bezug auf die Seele etwas Äußerliches ist. Letztlich haben wir es mit zweierlei Brüchen zu tun, wie sich an der „Ökonomie des Blicks“ bei Basilius von Ankyra zeigt, der den Körper mit seinen Sinnesorganen gleichsetzt, die für die äußere Welt der Zugang zu unserer Innenwelt sind und durch die alles Schlechte und alles Übel zur Seele gelangt: „Diesem Bruch verleiht Basilius zwei Formen, die beide, wenn auch jede auf eine andere Weise, auf der Vorstellung einer gewissen Äquivalenz zwischen der Lust als Prinzip der Annäherung zwischen den Geschlechtern und der Lust als allgemeiner Form der Verfinsterung oder Belastung der Seele durch den Körper beruhen.“ (SuW 4, S.284)

Bei dem ,Bruch‛, an den ich zunächst denke, handelt es sich um das Auseinandertreten von Innen und Außen, wenn wir entdecken, daß unsere inneren Vorstellungen mit der realen Außenwelt nicht übereinstimmen. Basilius denkt an einen Bruch, der einerseits durch die körperliche Lust und andererseits durch die seelische Lust bewirkt wird, nämlich als Geschlechtslust und als seelische Verfinsterung. Was den Körper betrifft, weil uns vermittelt durch unsere (körperlichen) Sinnesorgane andere Menschen als begehrenswert erscheinen, und was die unsere Seele verfinsternde Lust betrifft, weil sie von inneren Vorstellungen beherrscht wird, die über unsere Sinnesorgane (insbesondere Auge und Tastsinn) in sie eingedrungen sind.

Also bedarf es einer zweifachen Trennung: als „selektives Verschließen des Körpers vor der Außenwelt“ (vgl. SuW 4, S.284) und als Trennung der Seele vom Körper (vgl. SuW 4, S.286). Der jungfräuliche Körperleib modifiziert die Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner mit dem Körperleib zieht, auf spezifisch christliche Weise: nicht der Bruch zwischen Innen- und Außenwelt steht am Anfang einer Entdeckung unserer selbst als Selbstbewußtsein, wie bei Plessner, sondern die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt qua Kontrolle der Sinnesorgane und Rückzug der Seele in sich selbst ist die Folge unseres sündhaften Begehrens.

Aber im Unterschied zu Taufe und Kloster, die einer, wie Foucault schreibt, christlichen „Gesetzesökonomie“ von Ge- und Verboten unterliegen, deren Ziel insbesondere in der Klostergemeinschaft die vollständige Vernichtung des menschlichen Willens ist, bildet die Jungfräulichkeit eine Option, zu der der gläubige Christ keineswegs verpflichtet ist. Der Mensch hat die Wahl, ob er den Weg der Jungfräulichkeit gehen will oder nicht. (Vgl. SuW 4, S.254 und S.272) Die Entscheidung für die Jungfräulichkeit ist eine freiwillige Entscheidung des Menschen. Das ist eine überraschende Alternative zur völligen Unterwerfung des menschlichen Willens unter Gottes Willen in der Taufe und in der Klostergemeinschaft. Die Jungfrau lebt zwar noch in dieser Welt, aber so, als wäre sie schon unsterblich und ohne Geschlecht.

Sonntag, 13. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Mich irritiert, wieso Augustinus die Ursünde so unmittelbar auf die Sexualität bzw. auf die Wollust (Libido) zurückführen kann. Schließlich geht es in der Bibel nicht um den Baum der Sexualität, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen, sondern um den Baum der Erkenntnis. Zwar geht es dabei wiederum nicht um irgendeine beliebige Erkenntnis aus dem Bereich der Naturwissenschaften, um es mal so zu formulieren, sondern um die „Erkenntnis von Gut und Böse“, die mit wissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun hat. Dennoch bin ich irritiert.

Augustinus und mit ihm die anderen Kirchenväter, allen voran Cassian, unterschieben diesem „Gut und Böse“ das sexuelle Schema, als Scham vor der eigenen Körperlichkeit ‒ auch das ist Teil der biblischen Erzählung ‒, aber dennoch haben wir es mit einer Erkenntnis zu tun, von der die Menschen der Erzählung zufolge nichts ,wissen‛ dürfen. Es handelt sich eindeutig um ein Erkenntnisverbot. Klostervorsteher wie Cassian, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Abt gewesen ist, haben dann aber dieses Übel, zumindest für die Menschen, denn Gott hatte ja verhindern wollen, daß sie bestimmte Dinge ‚wissen‛, zum Hauptzweck der klösterlichen Askese gemacht. Die Gottesbeziehung sollte eine reine „Erkenntnisbeziehung“ sein, „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“. (Vgl. SuW 4, S.298) Und diese Erkenntnisbeziehung stellte sich Cassian wiederum als einen „Akt der Betrachtung“ vor, „der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)

Wie kann das funktionieren? Wie konnte das paradiesische Erkenntnisverbot für die nachparadiesische Welt ausgerechnet das Vorbild für eine erstrebenswerte Gottesbeziehung werden?

Erkenntnis, Anerkenntnis, Verdachtserkenntnis ‒ Foucault bietet als Erklärung für diesen Umstand an, daß wir es mit zwei verschiedenen Erkenntnisbegriffen zu tun haben: mit einer Erkenntnis, die die christliche ‚Wahrheit‛ betrifft, und mit einer epistemologischen Erkenntnis, wie wir sie von den heutigen Wissenschaften kennen. Die Beziehung des Christen zur Wahrheit, wie sie ‚Hermas‛, der namentlich unbekannte Autor von „Der Hirte des Hermas“ (ca. 150), der zu den apostolischen Vätern gezählt wird, am Beispiel der Taufe beschreibt, hat nichts mit Erkenntnis zu tun, sondern mit Anerkenntnis. Foucault: „(Die Wahrheitsakte) gehören eher zur Ordnung der Anerkenntnis denn der Erkenntnis(.)“ (Vgl. SuW 4, S.84)

Die Wahrheit ist also nicht das Ergebnis von Reflexion und somit ein Bewußtseinsakt (vgl. SuW 4, S.81f.), sondern das Ergebnis einer Erleuchtung (vgl. SuW 4, S.80), und die Taufe besiegelt diese Erleuchtung, die das getaufte Subjekt ,bezeugt‛ (vgl. SuW 4, S.85): „Die metanoia (der Taufe) teilt die Seele (des Getauften) nicht in einen Teil, der erkennt, und in einen anderen, der erkannt werden muss. ... Sie besteht darin, den ‚Übergang‛ (in die Wahrheit ‒ DZ) zu bezeugen ‒ die Trennung, die Bewegung, die Transformation, den Zugang ‒ und zwar gleichzeitig als realen Prozess in der Seele und als tatsächliche Verpflichtung der Seele.“ (SuW 4, S.85)

Die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit ist also die eines Zeugen der Verwandlung, die in seiner Seele stattgefunden hat. Diese Beziehung besteht nicht in einem Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit (Subjekt-Objekt-Konstellation), sondern es ist in der Wahrheit. Der Taufakt erkennt diese Verwandlung an und besiegelt sie zugleich. So beschreibt es Hermas in „Der Hirte des Hermas“.

Ich frage mich, ob später, über Augustinus und dann in der Inquisition, aus dieser Anerkenntnis des Glaubens eine Verdachtserkenntnis geworden ist, aufgrund deren die Gläubigen nicht mehr als Gläubige anerkannt wurden, sondern potenziell des Abfalls vom Glauben verdächtigt wurden? So daß sie nicht mehr ,in Wahrheit‛ gläubig, sondern ,in Wahrheit‛ ungläubig waren? So daß sie also mit inquisitorischen Mitteln dazu gezwungen werden mußten, ihren Unglauben zu bezeugen?

Für eine solche Verdachtserkenntnis mit einer damit verbundenen Hermeneutik des Verdachts stehen Tertullians Überlegungen zu den begrenzten Taufeffekten: „Die Zeit, die der Taufe vorausgeht, darf daher keine des selbstgefälligen Vertrauens in sich selbst sein. Sie ist im Gegenteil eine Zeit ‚der Gefahr und der Furcht‛.() Tertullian misst der Notwendigkeit der ,Furcht‛ auf dem Weg, der zur Taufe führt, und auch im Leben eines Christen eine sehr große Bedeutung bei. ... Unter der Notwendigkeit des ‚metus‛ als ständiger Dimension des christlichen Lebens versteht er sowohl die Furcht vor Gott als auch die Furcht vor sich selbst ‒ das heißt die Angst vor der eigenen Schwäche, den Fehlern, deren man fähig ist, den Einschmeichelungen des Feindes in der Seele, der Blindheit oder Selbstgefälligkeit, dank deren wir uns von ihm überlisten lassen werden.“ (SuW 4, S.90)

Die Folgesätze gehören hier auch noch hin: „Derjenige, der die Taufe empfangen soll, muss Vertrauen haben, aber nicht in sich selbst, sondern in Gott. Die Unsicherheit, nicht bezüglich Gott, sondern bezüglich seiner eigenen Natur, seiner Schwäche, seinem Unvermögen, darf ihn nicht verlassen.“ (Ebenda)

Konversion versus Autonomie ‒ In seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) bietet Foucault noch eine andere Version für den merkwürdigen Umstand an, daß die Kirchenväter so ein großes Gewicht auf die Erkenntnis legten. Foucault unterscheidet auch hier zwischen zwei verschiedenen Erkenntnisformen, aber diesmal zwischen einer Erkenntnisform, die auf die Konversion des Subjekts setzt, und einer Erkenntnisform, die die Autonomie des Subjekts behauptet. Natürlich ist die letztere Erkenntnisform die der Aufklärung und der Neuzeit ab dem 17. Jhdt., für die Foucault beispielhaft René Descartes und Immanuel Kant nennt.

Schon lange vor dem Christentum, in der griechischen Antike und später in der Kaiserzeit, hielt man den Menschen, so wie er ist, nicht für wahrheitsfähig. Es bedurfte einer Konversion, einer Korrektur des Menschen: „Daß das Subjekt als solches, so wie es sich selbst gegeben ist, der Wahrheit nicht fähig ist, das ist ein allgemeines Merkmal und ein Prinzip. Und es ist der Wahrheit nur fähig, wenn es an sich selbst eine Reihe von Operationen durchführt, eine Reihe von Veränderungen und Wandlungen durchmacht, die es zur Wahrheit befähigen. Dies ist, wie ich meine, ein grundlegendes Thema, in dem dann übrigens das Christentum sehr leicht seinen Platz findet ...“ (Foucault 2004, S.241)

Descartes (1596-1560) steht für den Moment, wo im aufgeklärten Denken des modernen Menschen „das Subjekt als solches der Wahrheit fähig wurde“: „Es genügt, die Augen zu öffnen, es genügt, gesund und geradewegs zu räsonieren (räsonieren steht für: seinen eigenen Verstand gebrauchen ‒ DZ), indem man sich stets und unfehlbar an die Gewißheit hält, und schon ist man der Wahrheit fähig.“ (Vgl. Foucault 2004, S.241f.)

Kant, so Foucault, geht hier noch einen Schritt weiter: „Was wir nicht zu erkennen fähig sind, das macht gerade die Struktur des erkennenden Subjekts aus, die bewirkt, daß wir es nicht erkennen können. Und infolgedessen ist die Idee, daß eine bestimmte geistige (spirituelle) Transformation des Subjekts diesem schließlich den Zugang zu etwas gewähren könnte, zu dem es gegenwärtig noch keinen Zugang hat, illusorisch.“ (Foucault 2004, S.242)

Letztlich lassen sich also die beiden Erkenntnisweisen dadurch unterscheiden, daß wir es bei der einen mit der Frage nach dem „Zugang zur Wahrheit“ und bei der anderen mit der Erkenntnis von Objekten zu tun haben. (Vgl. Foucault 2004, S.243)

Verzicht statt Konversion ‒ Zwar weist Foucault daraufhin, daß sich auch das Christentum dem Konversionsschema zuordnen läßt, verweist aber an späterer Stelle darauf, daß die Einstellung des Christentums zur Konversion ambivalent und widersprüchlich ist: „... daß wir im Christentum, der wichtigsten Achse der christlichen (Spiritualität), wie ich meine, eine Zurückweisung, eine ‒ von Widersprüchen nicht ganz freie ‒ Zurückweisung und Ablehnung dieser Umkehr zu sich finden werden.“ (Vgl. Foucault 2004, S.311)

Wie können christliche Praktiken wie etwa die klösterliche Askese, die ganz wesentlich auf einen „Verzicht auf sich selbst“ als Bestandteil ausschließlicher Gotteserkenntnis ausgerichtet ist, widerspruchsfrei als eine Form der Konversion, der Rückkehr zu sich selbst verstanden werden?

Gar nicht. Allerhöchstens im Sinne einer Rückkehr ins Paradies vor dem Sündenfall. Foucault jedenfalls nimmt seine frühere Behauptung einer Vereinbarkeit des Christentums mit der antiken Sorge um sich als Rückkehr zu sich selbst wieder zurück: „Ich meine also, daß im gesamten Christentum das Thema der Umkehr zu sich in starkem Maße ein zu bekämpfendes Thema geblieben ist und nicht etwa eins, welches das christliche Denken tatsächlich in sich aufgenommen hat und einbezogen hat.“ (Foucault 2004, S.312)

Samstag, 12. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, schreibt über die Macht der Zweisamkeit: „Ohne dass jemand sie einander näher bringt, sie dazu anhält, sie in ihre Pflichten einweist, müssen sich so Gatte und Gattin nur sehen, um verbunden zu sein.“ (Zitiert nach SuW 4, S.344)

Chrysostomos unterstreicht diese Macht, indem er sie noch höher einschätzt als die Macht der Elternliebe, die „eine so langwährende Gewohnheit“ gewesen ist, aber „von nun an weniger Macht hat als diese zufällige Entscheidung“. (Zitiert nach SuW 4, S.344)

Foucault ergänzt, daß es sich Chrysostomos zufolge bei der Bindungskraft zwischen „Knabe“ und „Mädchen“ „um eine Kraft (handelt), die stärker ist als alle anderen Kräfte in der Natur: gebieterischer, tyrannischer als jene, die uns an andere Menschen binden oder Dinge begehren lassen(.)“ (Vgl. SuW 4, S.343 und S.344)

Hier deutet sich einerseits die Möglichkeit einer Zweiheit außerhalb der Gruppe an. Foucault spricht von „zwei Einzelwesen“, wenn auch durch Ehepflichten zur „wechselseitigen Aneignung der Körper“ gezwungen (vgl. SuW 4, S.370), aber eben doch Einzelwesen, die der Zufall zusammengeführt hat. Ein Zufall, den der fromme Chrysostomos zu einem Wunder und zu einem „Zeichen für den Willen Gottes“ umdeutet. (Vgl. SuW 4, S.345)

Andererseits aber wird die Einzigkeit der beiden als eine „Verschmelzung“ bzw. wechselseitige „Verschlingung“ gedacht: „... ,symphoke‛, Verschlingung, Verschränkung, die zwei Substanzen und zwei Körper miteinander verschmelzt und eine neue Einheit zu bilden versucht.“ (SuW 4, S.345)

Dabei wird der Substanzbegriff großzügig bis hin zur Beliebigkeit verallgemeinert. Nicht nur die Ehe wird als Verschmelzung zweier Substanzen, sondern auch gleich die ganze Menschheit als eine alle umfassende Substanz gedacht: „Beide (Adam und Eva ‒ DZ) sind aus derselben Substanz hervorgegangen, Adam und Eva waren substantiell vereinbar. Und ihre Nachkommen haben noch immer dieselbe Substanz. ... Über die Generationen hinweg bleibt die Menschheit mit sich selbst verbunden und auf ihre eigene Substanz beschränkt.“ (SuW 4, S.345)

Dieser Substanzbegriff ist eine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen als zukunftsoffenen Prozeß. Die Ehe bezeugt nicht die freie und gleiche Wechselseitigkeit zweier, für sich und füreinander einzigartiger Menschen, sondern die menschheitliche, übergeschichtliche Substanz, da hier zwei einander fremde Menschen miteinander zu eben dieser Substanz ‚verschmolzen‛ werden. (Vgl. SuW 4, S.346) Es mag sein, daß dieser Substanzbegriff auch dafür verantwortlich ist, daß Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, die Ursünde im Paradies als Erbsünde bezeichnen konnte, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Dieser Argumentationszusammenhang, der auch die Komplementarität zwischen Frauen und Männern begründet (vgl. SuW 4, S.350), in der die Frauen für das Haus und die Männer für die Welt zuständig sind ‒ gedacht als substanzielle Arbeitsteilung ‒, ist der Grund dafür, daß meine Formel von Ich = Du auf einer Differenz basiert und nicht auf einer Verschmelzung. Wir haben es hier mit einer Differenz zu tun, die die Gleichheit zwischen Zweien allererst begründet, weil sie deren Eingliederung in eine vorgegebene, eben ,substanzielle‛ Arbeitsteilung verhindert. Jedes Substanzdenken, jede Wesentlichkeit ist zur Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Zweien unangebracht.

Gleichwohl ist es gerade die enorme Bindungskraft, die mit den intimen sexuellen Praktiken zwischen Zweien einhergeht, die für mich das Modell auch für andere Zweierkonstellationen bildet.

Foucault verweist auf den Dimorphismus, der zwischen dem Kloster- und dem Eheleben besteht und mit der Differenz zwischen dem „kompletten Weltverzicht“ der Klostergemeinschaft und der weltlichen Zweisamkeit des Ehelebens, die auch die Geschlechtslust mit einbezieht, zusammenhängt: „Sein Ursprung liegt in dem Bestreben, bei der Ausübung der Pastoralmacht eine ‚techne‛ (Lebensführung ‒ DZ) des Ehelebens ‒ die unter der des Mönchslebens steht, zu dieser aber nicht heterogen ist ‒ auszubilden, die sowohl dazu geführt hat, aus der Wollust eines jeden der beiden Ehepartner (und nicht aus der gemeinsamen Nachkommenschaft) die entscheidende Form der ehelichen Beziehung zu machen, als auch dazu, zwischen diesen beiden Einzelwesen eine Verschränkung der Verantwortlichkeiten und Verkettung zu bewerkstelligen. Selbst in der Zweierform der Ehe ist das Hauptproblem die Frage, was man mit seiner eigenen Wollust machen soll, mithin die Beziehung zu sich selbst. Und das Recht auf innerehelichen Sex wurde in erster Linie als eine Form eingerichtet, die dazu dient, die grundlegende Beziehung zu sich selbst vermittels des anderen zu gestalten.“ (SuW 4, S.379)

Mit „Pastoralmacht“ ist die weltliche Seelsorge gemeint. Chrysostomos steht für eine vergleichsweise liberale Position. Er hat den Begriff der „Pflicht-Schuld“ geprägt (vgl. SuW 4, S.376f.), derzufolge die Ehepartner gegenseitig zur Befriedigung ihrer Wollust verpflichtet sind und es einander schuldig sind, sich vor der Unzucht zu bewahren. Auch der frühe Augustinus neigte noch zu dieser Auffassung vom Eheleben, bevor er zu dem Standpunkt wechselte, daß die Wollust ein grundsätzliches Übel sei.

Sloterdijk bezeichnet Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“. Aber verglichen mit dem Abt und Schriftsteller Cassian (360-435), von dem in den vorangegangenen Blogposts mehrfach die Rede gewesen ist, ist Augustinus geradezu ein Ausbund an Toleranz und Menschenfreundlichkeit, der den Geschlechtsunterschied nicht als Übel, sondern als von Gott gewolltes Gut versteht und der ein Bestandteil des göttlichen Schöpfungsaktes ist.

Foucault zufolge beinhaltet die christliche Auffassung von der Ehe zwei „ungleiche Güter“ (vgl. SuW 4, S.381), nämlich die Güter selbst, im engeren Sinne, und die Zweckbestimmung der Ehe: „Die Güter der Ehe, die ihren Wert ausmachen, sind neben der Enthaltsamkeit, doch dieser untergeordnet: die Nachkommenschaft, der Glaube, der die Ehegatten vereint, das Sakrament, das sie unauslöschlich prägt. Die Zwecke der Ehe, die Richtlinien für den ‚Gebrauch‛ der Ehe darstellen und zu bestimmen erlauben, welche sexuellen Beziehungen verboten und welche erlaubt sind, sind: die Zeugung und die Abhilfe gegen die Wollust.“ (SuW 4, S.408)

Mit dem Gut der Enthaltsamkeit sind zum einen die Monopolisierung der Ehe als rechtmäßigem Ort für den Geschlechtsverkehr, zum anderen die Regulierung des Gebrauchs, den man davon macht, gemeint. Was die Zwecke betrifft, die zu den Gütern niederrangig sind, nennt Foucault später noch einen dritten Zweck, der anders als die anderen beiden Zwecke die Ehe nicht zu einem Mittel für etwas macht, sondern einen Selbstzweck darstellt: die Freundschaft. (Vgl. SuW 4, S.410) Diese Zweckbestimmung würde dann sogar in Richtung meiner Formel von Ich = Du gehen, wäre da nicht die Rollenverteilung, die den Mann zum Besitzer der Frau macht. (Vgl. SuW 4, S.406)

Deshalb war ich zunächst überrascht, als ich auf eine Textstelle stieß, in der Augustinus auf die Notwendigkeit eines „consensus“ zu sprechen kommt. Foucault übersetzt ‚consensus‛ mit ,Zustimmung‛. (Vgl. SuW 4, S.470ff.) An einer früheren Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ war ich schon auf dem Begriff der „Einwilligung“ gestoßen, ein Begriff, mit dem es um die freie und gleiche Wechselseitigkeit zwischen Frauen und Männern geht (vgl. SuW 3, S.265; vgl. meinen Blogpost vom 07.07.2025), und ich erwartete mir jetzt an dieser Stelle im vierten Band etwas ähnliches. Dann wurde aber meine Erwartung, daß es hier um die Möglichkeit des Partners, nein zu sagen, geht, enttäuscht. Es geht Augustinus vielmehr um die Sündlosigkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs, insofern beide, Frau und Mann, jeweils für sich entscheiden (zustimmen), die eigene mit dem Geschlechtsverkehr verbundene Wollust ,freizugeben‛. Es geht also darum, sich selbst zu erlauben, Wollust zu erleben.

Diese innerliche Zustimmung erlaubt die Umsetzung eines sexuellen Motivs (Begierde) in Handlung; zu wollen, „was die Begierde will“ (vgl. SuW 4, S.470): „(Augustinus) zufolge besteht die Zustimmung nicht in der Akzeptanz eines fremden Elements mittels des Willens; vielmehr ist sie für den Willen eine Weise, als freier Akt zu wollen, was er als Begierde will. Bei der Zustimmung ‒ und das Gleiche könnte man für das Gegenteil der Ablehnung sagen ‒ ist der Wille selbst das Objekt.“ (SuW 4, S.471)

Es geht aber noch weiter. Die „Nicht-Zustimmung“, die Ablehnung, besteht Augustinus zufolge nicht etwa darin, das Motiv als solches abzulehnen: „(Die) Nicht-Zustimmung (besteht) nicht darin, das Begehren zu besiegen, indem man der Seele die Vorstellung des begehrten Objekts verwehrt, sondern darin, es nicht zu wollen, wie es die Begierde will.“ (Vgl. SuW, S.472)

Augustinus will also an dieser Stelle nicht, und das finde ich jetzt tatsächlich bemerkenswert, die Begierde, die Wollust als solche dämonisieren, sondern nur auf die Art und Weise, sie zu praktizieren, aufmerksam machen. Inwiefern er damit wieder von der Ansicht abrückt, daß die Wollust grundsätzlich von Übel sei, wird von Foucault nicht weiter erläutert. Wahrscheinlich haben wir es hier mit dem Zugeständnis zu tun, daß die Wollust zwar grundsätzlich von Übel, aber für das Gut der Erzeugung einer Nachkommenschaft unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang erfüllt die Wollust ihren notwendigen Zweck.

Freitag, 11. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Im vorangegangenen Exkurs ging es um die Problematik eines ,angemessenen Wollens‛, das Seneca zufolge in seiner ,Unbedingtheit‛ besteht, was heißen soll, daß wir immer nur eine Sache wollen sollen und nicht mehrere Dinge gleichzeitig. Diesen Exkurs habe ich als Überleitung zum Thema des heutigen Blogposts eingefügt, weil es hier um eine, wie mir scheint, heillos verworrene Begrifflichkeit geht; nämlich um die Frage, wann wir eigentlich wollen und wann nicht. Um diese Frage zu klären, versuchen sich die frühchristlichen Kirchenväter bezeichnenderweise an einer Verhältnisbestimmung von Unwillkürlichkeit und Willkür.

Ich weiß nicht, wie die französische Sprache mit diesem seltsamen Phänomenbereich umgeht. Im Deutschen bleibt es jedenfalls nicht aus, daß man sich fragt, was denn eigentlich der Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür ist? Was die Worte selbst betrifft, also unabhängig von ihrem Gebrauch, ist der Sachverhalt eigentlich klar. Willkür ist der Wille. Das steckt schon im ersten Bestandteil des Wortes. Aber auch der zweite Bestandteil, die ,Kür‛, ist eigentlich nicht mißzuverstehen. Die Kür ist die Wahl, wie etwa beim Sport, wenn der Pflichtteil absolviert ist und nun der Teil folgt, den sich Sportlerin oder Sportler ausgesucht hat.

Was den täglichen Gebrauch des Wortes betrifft, sieht die Sache schon ganz anders aus. Da sieht man auf den ersten Blick keinen Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür. Willkürlich handelt jemand, der offensichtlich grundlos und launenhaft handelt. Dessen Wille nicht berechenbar ist. Willkürlich handeln bedeutet also im täglichen Sprachgebrauch, unwillkürlich zu handeln. Entsprechend verwirrend sind die Stellungnahmen der frühchristlichen Kirchenväter zum Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür.

Die christliche Sexualmoral geht von einem Willen aus, der nicht einmal mit der „unschuldigste(n) Regung des Fleisches“ etwas zu tun hat. (Vgl. SuW 4, S.321) Das beinhaltet die paradoxe Vorstellung, daß die „Regungen des Körpers“ deshalb nichts mit dem Willen zu tun haben, weil sie „unwillkürlich“ seien. (Vgl. ebenda) Als könnte es einen frei schwebenden, körperlosen Willen geben. Und als könnte es einen Willen geben, der keinen Anlaß für sein Wollen bräuchte. Seneca nennt einen solchen Willen, wie wir gesehen haben, ,unbedingt‛, meint damit aber nicht einen anlaßlosen Willen, sondern einen Willen, der nicht mehrere Dinge gleichzeitig will.

Ist nicht der Wille selbst in gewisser Weise ,unwillkürlich‛, insofern man üblicherweise davon ausgeht, daß er keine Ursache im Sinne eines Kausalverhältnisses hat? Hätte er eine Ursache, wäre er kein Wille mehr, sondern nur eine Folge. Ist der Wille aber keine bloße Folge einer Ursache, ist er natürlich ,willkürlich‛. Wie sollte man den Willensakt, der die Wahl hat und eine Entscheidung trifft, sonst bezeichnen? Das ist alles ziemlich verworren.

Der christliche Denkfehler ‒ In welchem Verhältnis stehen also Unwillkürlichkeit und Willkür? Ich glaube, es ist die Komplexität der Motive, die einem Willensakt vorausgehen und es schwierig machen, die Handlung eines Menschen auf ein einzelnes Motiv und damit auf einen Willen zurückzuführen. Der Abt und Schriftsteller Cassian (360-435) spricht deshalb zurecht von der „Verwicklung des Willens“ und zählt sechs verschiedene Stufen dieser Verwicklung auf. In Foucaults Worten:
„Die sechs Grade des Aufstiegs zur Keuschheit sind ... sechs Stufen in einem Prozess, der die Verwicklung des Willens aufheben soll. Die Befreiung aus der Verwicklung in die Regungen des Körpers ist der erste Grad. Darauf folgt die Befreiung aus der Verwicklung in die Phantasien (nicht bei dem verweilen, was im Geiste ist). Sodann die Befreiung aus der Verwicklung in das Sinnliche (die Regungen des Körpers nicht mehr spüren). Dann die Befreiung aus der Verwicklung in die Anschauung (an die Objekte nicht mehr als Objekte eines möglichen Begehrens denken). Und schließlich die Befreiung aus der Verwicklung in den Traum (was den dennoch unwillkürlichen Bildern des Traums an Begehren anhaften mag).“ (Vgl. SuW 4, S.323)
Der Fehler ist, diese ganzen Verwicklungen des Willens einfach nur als ‚unwillkürlich‛ zu denken, weil das der seltsamen Doppelnatur des Willens als gleichermaßen unwillkürlich wie willkürlich nicht gerecht wird. Letztlich ist der Wille entweder nur eine Entscheidung, die eine Handlung auslöst, wie ein Schwert, das den gordischen Knoten unserer Motive durchschneidet, oder er ist das Ganze unseres Gefühlshaushalts mit seinen Rangordnungen und Dringlichkeiten, als wache Aufmerksamkeit für die passende Gelegenheit.

Cassian selbst gibt zu, daß der Unterschied zwischen unwillkürlichen körperlichen Regungen und eigentlichen Willensakten nur ein scheinbarer Unterschied ist: „Cassian weist darauf hin, dass dabei nicht notwendig alle (nächtlichen ,Beschmutzungen‛ ‒ DZ) unwillkürlich sind. Übermäßige Nahrungsaufnahme und unreine Gedanken während des Tages sind hier eine Art Einwilligung, wenn nicht sogar eine Vorbereitung.“ (SuW 4, S.326)

Gerade Cassians Hinweis auf die angeblich ,unreinen‛ Gedanken macht deutlich, daß die Motive und die Umstände, in die diese Motive verwickelt sind, die uns beeinflussen, stets über bloß physiologische Prozesse hinausgehen. Stets mischen sich biologische und soziale Bedürfnisse auf je individuelle Weise, weshalb es ja auch der Arbeit an einem Gefühlshaushalt bedarf, als Arbeit an sich selbst. Diese Arbeit beinhaltet aber niemals die Vernichtung der Individualität, sondern im Gegenteil deren Entfaltung zur vollen Menschlichkeit.

Natürlich harmonieren unsere unterschiedlichen Motive nur selten oder sogar nie miteinander. Das macht es möglich, zwei verschiedene Motive so gegeneinander zu wenden, daß das eine als freier Wille und das andere als unfreier Trieb klassifiziert werden kann. Dieser Klassifikation liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Trieb einen Zwang beinhaltet, der einem keine Wahl läßt. Der freie Wille hingegen ist dann das Ergebnis einer Abwägung und einer Entscheidung, also einer Wahl.

Was also bedeutet es, wählen zu können? Es bedeutet, urteilen zu können, was gleichbedeutend mit Denken ist. Der freie Wille ist also ein Denken und Urteilen. Aber dieses Denken und Urteilen findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Ohne Motive, zwischen denen wir uns entscheiden müssen, gäbe es kein Denken und kein Urteilen. Diese Motive aber treten wiederum als Willensregungen mit unterschiedlicher Dringlichkeit in Erscheinung, bis hin zum Zwang, der keine anderen Motive mehr zuläßt als nur ein einziges. Der Wille ist also selbst kein Denken. Er ist Anlaß und Gegenstand des Denkens. Das Prinzip der Freiheit besteht nicht im Wollen selbst, sondern in der Möglichkeit, über das Wollen nachzudenken und seine Dringlichkeit im Gesamt der Motive und in Bezug auf die Gelegenheiten, die aktuelle Situation, abzuwägen. Je größer dabei die Dringlichkeit bis hin zum Zwang ist, um so größer ist auch die Not des Denkens, so daß es tatsächlich dazu kommen kann, daß wir dem Zwang unterliegen.

Niemals aber ist die Disziplin des Denkens ein Wille, der sich gegen sich selbst richtet. Niemals ist die Disziplin des Denkens selbst ein Wille. Die Disziplin des Denkens dient unserem Wollen in der Vielfalt der auf Situationen bezogenen Motive.

Zu diesen Motiven gehören auch die Vorstellungen, die wir uns von unseren Motiven machen. Zusammen mit den Situationen eröffnet sich hier mit den Vorstellungen ein Grenzraum zwischen Innen und Außen, in dem sich unser Denken bewegt. In diesem Grenzraum wägt es unsere Motive ab, unterscheidet sie nach ihrem fiktiven und realen Charakter, und es beurteilt sie nach ihrer individuellen und lebensweltlichen Herkunft. All diese Abwägungsprozesse setzen Selbsterkenntnis voraus und führen zu einem Gefühlshaushalt.

Insofern ist die Disziplin des Denkens zwar selbst kein Wille; doch ohne sie gäbe es keine Willensfreiheit. So wenig wie es ohne unsere Willensregungen ein Denken gäbe.

,Gott‛ ist ein dem Christentum inhärenter Denkfehler. Weil das Christentum den Willen dafür verantwortlich macht, daß die Menschen in ihren Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen ,versagen‛ ‒ gemessen an den antiken und frühchristlichn Moralvorstellungen mit ihrem patriarchalen Hintergrund ‒, schließt es die menschlichen Willensregungen mit dem Willen Gottes kurz. Weil die Menschen den eigenen Willensregungen nicht gewachsen sind, sollen sie gleich gar nicht mehr wollen dürfen. Wo Seneca darauf Wert legte, den Willen nicht zu zerstreuen, sondern immer nur eins nach dem anderen zu wollen, soll der gläubige Christ sein ganzes Leben lang überhaupt nur noch eins wollen: Gott.

Gottes Wille wiederum wird mit der Wahrheit gleichgesetzt, der sich die gläubigen Christen in Form einer reinen Erkenntnis, also jenseits des ,Fleisches‛ und seiner Begierden, zuwenden sollen. Der einzige Bewußtseinsakt, der dem Gläubigen angemessen ist, ist eine Form des Denkens, dessen Zweck die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und die Unterdrückung aller eigenen Willensregungen ist. Der christliche Denkfehler liegt in der Verhältnisbestimmung von Denken und Wollen nach Maßgabe des Willens Gottes.

Vegetativ und somatisch ‒ Dieser Denkfehler ist typisch für eine monotheistische Religion wie das Christentum. Hinzu kommt eine Verwechslung, die spezifisch ist für die augustinische Denkweise. Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, vergleicht den männlichen Penis mit anderen Organen wie Händen und Füßen, die dem Willen unterworfen sind. (Vgl. SuW 4, S.442) Der Penis reagiert auf diesen Willen nicht wie Hände und Füße. Also muß das, was eine Erektion des Penisses bewirkt, etwas anderes als ein freier Wille sein. Augustinus nennt dieses Etwas die Libido und behauptet, daß der Geschlechtsakt infolge des Sündenfalls im Paradies, als der Penis noch ein Organ wie die Hände und die Füße gewesen war und wie diese unserem Willen jederzeit zur Verfügung gestanden hatte, libidinisiert wurde. (Vgl. SuW 4, S.452) Der Penis reagierte jetzt nicht mehr auf den freien Willen, sondern nur noch auf die Wollust. Daß die ‚Wollust‛ bzw. die Libido nichts anderes sein könnte ‒ im Deutschen wörtlich: ‚Lust des Wollens‛ ‒, als eine dem Geschlechtsakt entsprechende Willensregung, die sich auf eine andere Weise vollzieht als die bewußte Entscheidung, nach etwas zu greifen oder irgendwohin zu gehen, ist ihm nicht in den Sinn gekommen.

Auch Hände und Füße können erogene Zonen sein, die durch eine bestimmte Art der Berührung Lust erzeugen. Auch hier ist die entsprechende Willensregung eine andere als wenn wir mit der Hand nach einer Türklinke greifen oder den Fuß auf eine Pedale setzen, um uns aufs Rad zu schwingen und loszufahren. Tasten, streicheln, küssen versetzen nicht nur die Geschlechtsteile selbst in Erregung. Erogene Zonen sind über den ganzen Körper verteilt und teilen sie mit anderen organischen Funktionen. Auch verschiedenartige Willensregungen können durchaus beim gemeinsamen Geschlechtsakt kooperieren und komplexe Dimensionen unserer Menschlichkeit integrieren: ‚Fleisch‛ und ‚Geist‛, ‚Fleisch‛ und ‚Seele‛ müssen einander nicht widerstreiten. Wo sie es aber tun, heißt das eben nicht, daß das eine als Wille zu bezeichnen wäre, das andere aber nicht. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ist nicht die Willkürlichkeit, sondern mit welcher Intensität sie auftreten und von welcher Herkunft (innen/außen) sie sind.

Es ist, wie ich finde, interessant, daß Augustinus das Böse („böser Wille“: vgl. SuW 4, S.456) mit einer Umkehr des Willens gegen sich selbst begründet, also gerade den zentralen Denkfehler, den ich dem Christentum vorwerfe, zum Argument für eben die Notwendigkeit der Erlösung des Menschen von der Ursünde von Adam und Eva macht. Diese Wendung des Willens gegen sich selbst ist nämlich, so Augustinus, die Konsequenz einer Revolte, eben der Ursünde, in der sich der Mensch gegen den Willen Gottes wandte. (Vgl. SuW 4, S.444ff.)

Die Strafe für diese Revolte besteht, trickreich wie Gott ist, in einer Spaltung des männlichen Willens (wieder die Männermoral!): sein Penis kann jetzt nicht mehr eregieren, wenn der Mann es will, sondern nur in Verbindung mit der Wollust, die demnach selbst kein Wille ist: „In der Regung der libido, die den Geschlechtsakt unterfüttert und begleitet, ohne dass er davon getrennt werden kann, darf man nicht das Auftauchen einer Natur sehen, die dem Subjekt äußerlich ist und frei von seinem Einfluss ihre eigenen Gesetze walten lässt, ohne dass es hierbei etwas ausrichten könnte; sondern vielmehr die Spaltung, die, indem sie ein jedes Subjekt teilt, dieses wollen lässt, was es nicht will.“ (SuW 4, S.457f.)

Die Wollust ist also kein Wille, für den Menschen nämlich, weil die Wollust kein freier bzw. kein geistiger Wille ist, wie Augustinus erläutert, denn bei den Tieren ist die Wollust nichts Böses, sondern etwas natürliches, „weil das Unwillkürliche, das sie kennzeichnet, bei ihnen keine Auflehnung ist, sie markiert keine Teilung zwischen den Begierden des Fleisches und den Begierden des Geistes ...“ (Vgl. SuW 4, S.459)

Der Hinweis auf das Unwillkürliche bei Tieren, das bei ihnen keine Auflehnung ist, ist die augustinische Variante des Paradoxes eines menschlichen Willens, der sich in Gestalt zweier Erscheinungsformen, als Unwillkürlichkeit und als Willkür, gegen sich selbst richtet.

Im Unterschied zu seiner früheren Position, die der von Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, nahestand, postuliert Augustinus im „Gottesstaat“, daß es im Paradies den Geschlechtsakt zwar schon gegeben hatte, dieser aber noch nicht mit der Wollust (Libido) verbunden, sondern dem freien Willen des Mannes unterworfen gewesen sei. Erst mit dem Sündenfall, mit der Abwendung von Gottes Willen spaltete sich der menschliche Wille und von nun an war jeder Geschlechtsakt unlösbar mit der Libido verbunden und unabhängig vom Willen des Mannes.

An dieser Stelle gelingt es Augustinus, das Paradox aus Unwillkürlichkeit und Willkür zu überwinden. Foucault schreibt: „Die Analyse von Augustinus macht aus der Begierde nun aber weder eine spezifische Kraft in der Seele noch eine Passivität, die ihre Macht einschränkt, sondern die Form des Willens selbst, das heißt die Form dessen, was aus der Seele ein Subjekt macht. Sie ist für ihn nicht das Unwillkürliche gegen den Willen, sondern das Unwillkürliche des Willens selbst: Sie ist das, ohne das der Wille nicht wollen kann.“ (SuW 4, S.460)

Foucaults Formulierung „das Unwillkürliche des Willens selbst“ kann man auch so verstehen, daß der Wille sein eigener Ursprung ist, ein ursprünglicher Akt und nicht die Folge von etwas anderem. Sie kann aber auch bedeuten, daß unsere Willensregungen keine Denkakte sind. Sie sind planlos und gehen aus keinem Entschluß hervor, sondern sind Gegenstand von Planung und Entschluß.

Hier macht es Sinn, auf die medizinische Anatomie zurückzugreifen. Es gibt ein vegetatives und ein somatisches Nervensystem. Das vegetative Nervensystem läuft nicht über das Gehirn und ist also vom Bewußtsein unabhängig. Das somatische Nervensystem verläuft über das Gehirn und ermöglicht dem Bewußtsein die Kontrolle über die gestreifte Muskulatur. Hände und Füße werden vom somatischen Nervensystem gesteuert (gestreifte Muskulatur); der Penis hingegen wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert (glatte Muskulatur), kann also nicht vom Bewußtsein kontrolliert werden.

Dennoch können Männer mit ihren Händen ihren Penis auf eine Weise manipulieren, daß er erigiert bis hin zur Ejakulation. Penis und Hand, vegetatives und somatisches Nervensystem, arbeiten also gewissermaßen Hand in Hand. Das Gleiche funktioniert auch mithilfe unserer Vorstellungen. Auch mit ihnen können Männer den Penis erigieren lassen. Für alles weitere bedarf es dann allerdings der Hand, der eigenen oder der des Partners.

Es gibt also eine Kooperation zwischen vegetativem und somatischem Nervensy­stem samt dazugehörigen Organen. Das vegetative Nervensystem sorgt für die Begierden, um derentwillen wir mittels des somatischen Nervensystems unser Denken und unsere Hände und Füße in Bewegung setzen, um sie auf die eine oder andere Weise zu befriedigen. Beides ist Wille. Und nur als dieser Wille findet er seine Erfüllung. Die neue Position von Augustinus besteht also darin, daß der Mensch infolge der Ursünde in ein ,geistiges‛ Denken und in ,fleischliche‛ Begierden gespalten ist, Aber diese fleischlichen Begierden sind ihm nicht äußerlich. Sie sind Teil von ihm, und deshalb richtet sich sein Wille gegen sich selbst mit allen damit verbundenen, durchaus unerfreulichen Folgen.

Das, worin sich letztlich aber der augustinische Willensbegriff von meinem vor allem unterscheidet, ist die Rolle, die Gott bei all dem spielt. Gott ist der Grund, weshalb Sloter­dijk Augustinus zurecht als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnen kann.

sui generis ‒ Foucault schreibt: „Nun wird verständlich, weshalb der Umstand, dass die Begierde ,sui generis‛ (die eigene Begierde ‒ DZ) ist, nicht ausschließt, dass sie dem Subjekt angelastet werden kann. Dies kann sie, insofern sie ‚von unserem Willen‛ kommt, der durch diese Tatsache selbst ,sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) ist; und umgekehrt kann sich unser Wille der Begierde nur entziehen, indem er darauf verzichtet, ‚sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) zu sein, und erkennt, dass er das Gute nur durch die Macht der Gnade wollen kann. Die ,Autonomie‛ der Begierde ist das Gesetz des Subjekts, wenn es seinen eigenen Willen will. Und die Machtlosigkeit des Subjekts ist das Gesetz der Begierde.“ (SuW 4, S.460)

Die Absurdität dieser augustinischen Konstruktion einer, wie Foucault schreibt, ‚Autonomie‛ des in sich gespaltenen Willens als Folge des Sündenfalls wirft ein erhellendes Licht auf den Umstand, daß die christliche Fundamentalrelation nicht im Mensch-Weltverhältnis besteht, sondern im Gottesverhältnis. Wenn der Mensch aus seiner weltlichen Bestimmtheit herausgelöst und einem göttlichen Gnadenakt unterworfen wird, kann er seine Freiheit bzw. Autonomie bzw. seinen Willen nicht mehr am Widerstand der Welt bilden. Alles das, was den Menschen zum Menschen macht, wird nun zur Sünde. Seine Autonomie ist eine Abwendung von Gott, und selbst etwas zu wollen, ist eine Revolte gegen Gott. Die Welt, die Mitmenschen und er selbst spielen keine Rolle mehr.

Foucault bringt die Absurdität der augustinischen Konstruktion in einer schlichten Frage zum Ausdruck: „Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“ (SuW 4, S.461)

Mit dieser Frage leitet Foucault über zur Thematik der „Entstehung des Begeh­rens­menschen“ (vgl. SuW 4, S.459), der wiederum eng mit der augustinischen Erfindung der Erbsünde verknüpft ist, derzufolge der Sündenfall nicht in einem Erkenntnisakt, sondern in einem Akt der Wollust besteht. (Vgl. SuW 4, S.396 und S.463)

Foucault zufolge haben wir es hier mit einer „Konstanten des abendländischen Denkens in Bezug auf den Sex“ zu tun: „Dieses Thema ist der grundlegende und untrennbare Zusammenhang zwischen der Form des Geschlechtsakts und der Struktur des Subjekts.“ (SuW 4, S.463)