„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Beauvoir behauptet, daß es im Existenzialismus um den einzelnen Menschen in seiner konkreten Individualität geht: „Für den Existentialismus hingegen gehen die Werte nicht vom unpersönlichen, universellen Menschen aus, sondern von der Vielzahl konkreter, einzelner Menschen, die sich aus der Situation heraus, deren Besonderheit eben­so vollkommen, ebenso unaufhebbar ist wie die Subjektivität, auf die von ihnen gesetzten Ziele hin entwerfen.“ (Beauvoir 1983/47, S.86)

Das Zwitterdasein als Einzelmensch und als Kollektivatom macht die Doppelsinnigkeit des Menschen aus. Plessner spricht hier von der Doppelaspektivität von Innen und Außen. Unsere Menschlichkeit umfaßt beide Aspekte, aber bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Menschenwelt ist hier eine Entscheidung impliziert, die ihn entweder zu einem moralischen Wesen macht oder zu einem bloßen Mitläufer, der mit seinem Verstand nichts anzufangen weiß und das Urteilen der Gruppe überläßt, der er sich zugehörig fühlt.

Was den Existenzialismus betrifft, dürfte eigentlich klar sein, welche Entscheidung hier ansteht. Dennoch stellt Beauvoir das Individuum immer wieder auf eine Stufe mit dem Kollektiv. Das liegt am politischen Engagement der existenzialistisch empfindenden Generation nach 1945: sie waren fast alle Marxisten und einige sogar Kommunisten, so daß das kollektive Element nicht grundsätzlich von Übel sein durfte. Das zeigt sich auch in den Essays von Simone de Beauvoir. Beide Existenzformen, Individualität und Kollektivität, werden von Beauvoir im umfassenden Sinne als menschlich geadelt, so als wäre das Kollektiv nur eine Weise der Menschen, „sich der Freiheit der anderen und ihrer eigenen Freiheit bewußt (zu sein)“: „Alles vollzieht sich also sowohl im Einzelmenschen wie im kollektiven Geschehen, als ob der Mensch frei wäre.“ (Beauvoir 1983/47, S.89)

So heißt es z.B. vom Proletariat: „... es kann sich ködern lassen, wie das deutsche Proletariat, oder in der ihm vom Kapitalismus zugestandenen langweiligen Bequem­lichkeit einschlafen, wie es dem amerikanischen Proletariat ergangen ist. In allen diesen Fällen wird man sagen, daß das Proletariat Verrat übt: immerhin muß es also frei sein, Verrat üben zu können.“ (Beauvoir 1983/47, S.88) ‒ Wenn Beauvoir hier dem Proletariat die Freiheit zuspricht, Verrat üben zu können, begabt sie es mit einer Kompetenz, die allein dem Individuum zueigen ist.

Beauvoir spricht vom Proletariat, als handelte es sich um ein Individuum. Sie spricht sogar vom „leibhaftig vorhandenen Proletariat“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.88f.), als hätte es einen individuellen Körper, und unterscheidet es so von der „Idee des Proletariats“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.89), als wäre das Proletariat nicht schon immer nichts anderes als bloß eine körperlose Idee gewesen und als wären ihre einzigen historisch-konkreten Ausformungen nicht die einzelnen Proletarierinnen und Proletarier.

Beauvoir entgeht, daß es sich bei dem angeblich bequemen us-amerikanischen oder verräterischen deutschen ‚Proletariat‛ immer bloß um freischwebende kollektive Befindlichkeiten handelt, also um Abstraktionen, die der demagogischen Verführungskraft des organisierten Kapitalismusses nichts entgegenzusetzen haben. Kollektive haben weder ein körperleiblich situiertes, individuelles Bewußtsein noch eine Moral. Das gilt prinzipiell für alle Arten von Kollektiven, kommunistisch, faschistisch, religiös oder woke. Kollektive sind keine Individuen.

Kollektive sind auch nicht der einzige oder auch nur der bevorzugte Ort, wo Menschen zueinanderfinden. Das Problem, wie „vereinzelte() Menschen zueinander finden können“, wird nicht durch eine „Moral der Doppelsinnigkeit“ gelöst. (Vgl. Beauvoir 1983/47, S.86f.) Vielmehr haben wir es mit einem Scheinproblem zu tun, denn nicht die angebliche ‚Vereinzelung‛ ist das Problem. Tatsächlich können nur Individuen zueinanderfinden, denn die wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß sich zwei Menschen gegenseitig als ein Ich erkennen. Dazu aber müssen diese Menschen Individuen sein. Sobald sie also Du zueinander sagen, haben sie einander gefunden. In Kollektiven sehen die Menschen in anderen Menschen immer nur ihr Kollektiv. Wenn sie ‚Du‛ sagen, meinen sie ‚Wir‛.

Daß Kollektivität und Individualität nicht verträglich koexistieren können, kommt auch in der Inkonsequenz zum Ausdruck, mit der Beauvoir mehr um den heißen Brei herumredet, als dieses Thema analytisch zu entwickeln. Hatte sie zunächst „Heldentum“ und „sportliche Leistungen“, also kollektivistische Befindlichkeiten erzeugende Höchstleistungen im Bereich moralischer und physischer Standards, als Realisierungsformen der menschlichen Transzendenz gewürdigt (vgl. Beauvoir 1983, S.191), ergießt sie acht Seiten später ihren Spott über den spießbürgerlichen Stolz „harmloser Bürger“, die sich an Berichten über eine „Ersteigung des Himalaja“ ergötzen: „Dadurch, daß sich ein Mensch mit seinem Geschlecht, seinem Land, seiner Gesellschaftsschicht, mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, kann er seinen Garten vergrößern, aber er vergrößert ihn nur durch Worte. Eine solche Gleichsetzung ist nichts als leere Anmaßung.“ (Beauvoir 1983/44, S.199)

So etwas läßt sich nicht einfach so behaupten, ohne daß es auch den transzendentalen Status von Kollektiven in Zweifel zieht. Auch Kollektive sind nichts anderes als eine leere Anmaßung. Dem Satz: „Mein ist vor allem die Verwirklichung meines Entwurfs: ein Sieg ist mein, wenn ich für ihn gekämpft habe.“ ‒ der das Individuum wieder ins Recht zu setzen scheint, widerspricht Beauvoir dann aber gleich wieder in ihrer direkt nachfolgenden Erläuterung: „Der müde Eroberer kann sich der Siege seines Sohnes deshalb erfreuen, weil er einen Sohn nur darum gewollt hat, damit dieser sein Werk fortführt ...“: „Weil meine Subjektivität nicht Reglosigkeit ist, Zurückgeworfensein auf sich selbst, Getrenntheit, sondern im Gegenteil Bewegung auf anderes hin, wird der Unterschied zwischen diesem und mir aufgehoben, und so kann ich anderes mein nennen!“ (Beauvoir 1983/44, S.199f.; Hervorhebungen DZ)

Für Beauvoir ist also die Kollektivierung von individuellen Höchstleistungen Teil der menschlichen Transzendenz. So wird aus der Dyade Vater/Sohn ein Minikollektiv. Dann aber darf sich auch der genannte ‚harmlose‛ Bürger über die Ersteigung des Himalaya freuen, ohne sich in Beauvoirs Augen lächerlich zu machen.

Gerade was das Kernanliegen des Existenzialismusses betrifft, der freie Entwurf oder pathetischer ausgedrückt: die Freiheit, geht es, was das Kollektiv betrifft, um eine grundlegende Entscheidung. Wenn wir geboren werden, dann nicht einfach nur in eine physische Welt, sondern vor allem in eine Lebenswelt. Die Lebenswelt ist die ursprüngliche, kollektive Seinsform des Menschen und zugleich ein Schicksal, aus dem der Mensch wie aus Platons Höhle den Ausgang finden muß. Zwar sind wir immer beides, Kollektivwesen und Einzelmenschen, aber zugleich gilt, daß es den Menschen nicht sowohl als Kollektivwesen wie auch als Individuum gibt. Es gibt hier kein Sowohl-Als auch, sondern nur ein Entweder-Oder.

Der Mensch ist eben nicht immer und unter allen Umständen grundsätzlich frei; gerade auch dann nicht, wo er, wie Sartre meint, „aus freien Stücken“ unfrei ist, und auch dann nicht, wenn er, wie Kant meint, „selbstverschuldet“ unmündig ist. Es ist nur ein dialektischer Trick, ihm in solcher Unfreiheit eine Freiheit zuzusprechen. Der Mensch mag frei sein, wenn er die Chance hat, sich im Moment einer wie auch immer prekären Freiheit für die Unfreiheit zu entscheiden. Dann aber ist er nicht mehr frei und alles weitere geschieht mit ihm so, als wäre er nie frei gewesen.

Die Menschen haben also immer beides in sich, die Freiheit und die Unfreiheit, die Individualität und die Kollektivität. Wenn sie sich Kollektiven unterwerfen, dann weil sie Menschen sind. Wenn sie sich als Individuen zu behaupten versuchen, dann weil sie Menschen sind. Als Angehörige von Kollektiven verlieren sie nicht ihre Menschlichkeit. Wir leben immer in einer Lebenswelt, selbst dann, wenn wir aus der Höhle heraustreten. Das ist es, was Marx mit dem Menschen als „Ensemble“ gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint hat.

Unserer Verantwortung als Mensch stellen wir uns erst in dem Moment, wo wir vor der Entscheidung stehen, uns als Individuen zu behaupten. Das ist der Moment unserer „zweiten Geburt“ als Mensch, wie Rousseau es im „Émile“ (1760) nennt. Wenn wir also den Moment des Erwachens ungenutzt lassen und in den kollektiven Schlaf zurücksinken, sind wir im Kantischen Sinne selbstverschuldet unmündig geworden. Dann aber sind wir eben nicht mehr frei. Denn unfrei ist unfrei, auch wenn es selbstverschuldet ist. Offen bleibt nur, welche Chancen sich uns in unserem weiteren Leben noch bieten, diese Entscheidung zu revidieren.

Beauvoir bestätigt das, wenn sie schreibt: „In Wirklichkeit aber läßt sie (die Freiheit ‒ DZ) sich nicht von der Bewegung jener ambivalenten Realität trennen, die man das Dasein nennt, und die nur ist, indem sie sich sein macht; die Freiheit ist nur insofern gegeben, als sie errungen werden muß.“ (Beauvoir 1983/47, S.92; Hervorhebungen DZ)

Mit anderen Worten: wo wir unsere Freiheit nicht zu erringen versuchen, sind wir auch nicht frei! Wir sind nicht gleichzeitig frei und unfrei, als könnte beides nebeneinander koexistieren. Wer in der relativen Freiheit einer rechtsstaatlich verfaßten Demokratie lebt, sich aber nach autoritären Machthabern sehnt, ist unfrei. Und wer in diesem Sinne unfrei ist, ist es nicht einmal mehr „aus freien Stücken“.

Das ist vielleicht das Grundproblem liberaler Demokratien: sie bieten den Menschen kaum Gelegenheit, ihre Freiheit zu erkämpfen, weshalb ihr Bestand immer gefährdet bleiben wird.

Dienstag, 3. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Nachdem Beauvoir in ihrem Essay zur Doppelsinnigkeit der Moral die Existenz des Menschen als ein immerwährendes sich-Entwerfen auf Ziele hin dargestellt hat, das selbst dort, wo er seine Ziele erreicht, zugleich ein Scheitern ist ‒ „... man kann sich eine Aufhebung des Scheiterns nicht vorstellen, ohne gleichzeitig an den Tod zu denken“ ‒, stellt Beauvoir die sehr berechtigte Frage: „Aber ist dieser Kampf ohne Sieg nicht eine bloße Selbsttäuschung? Manche Menschen werden behaupten, daß es sich hier nur um einen Trug der Transzendenz handle, die sich ein Ziel vorsetzt, das unaufhaltsam in die Ferne rückt, die also gleichsam in einem endlosen Auf-der-Stelle-Treten sich selbst nachläuft.“ (Beauvoir 1983/47, S.190f.)

Die einzige angemessene Antwort auf diese Frage wäre das Als-ob einer zweiten Naivität, in der wir den gegenwärtigen Sinn unserer Existenz ergreifen, ohne uns Illusionen über die Endlichkeit alles Sinnstrebens zu machen. Stattdessen flüchtet sich Beauvoir in ein pathetisches Heldentum, das an Camus’ absurden Menschen erinnert: „Wenn die Menschen den Worten, den Formen, den Farben, den mathematischen Lehrsätzen, den physikalischen Gesetzen, den sportlichen Leistungen, dem Heldentum Wert beimessen, wenn sie sich gegenseitig in der Liebe, der Freundschaft Wert beilegen, dann haben die Dinge, die Geschehnisse, die Menschen diesen Wert, und sie haben ihn absolut.“ (Beauvoir 1983/47, S.191; Hervorhebung SB)

Beauvoir verabsolutiert also das Als-ob einer zweiten Naivität und verwandelt diese damit in genau die „Ernsthaftigkeit“, gegen die sie sonst in ihrem Essay so hartnäckig zu Felde zieht. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Beauvoir so leicht vom Lob des Sports und des Heldentums hinübergleitet zum Lob der Freundschaft und der Liebe, als handelte es sich bei der Kollektivität und bei der Individualität um dieselbe Menschlichkeit. Dazu im nächsten Blogpost dieser Reihe mehr.

Beauvoir hat eine sehr angestrengte, ungnädige Einstellung zu den Annehmlichkeiten des Lebens. Jedes naive Sich-gehen-lassen konfrontiert sie mit der Notwendigkeit, weitere Risiken auf sich zu nehmen und sich neuen Kämpfen zu stellen. Eine zweite Naivität, die eine Neutralität zum Wechsel von Muße und Engagement ermöglicht, zieht sie nicht in Betracht. Das zeigt sich deutlich an ihrer Einstellung zum Genuß. So heißt es beispielsweise, „im Augenblick des Genießens“ sammele „sich eine ganze Vergangenheit“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204)

Ein friedliches Bild von einem erfüllten Feierabend tut sich hier auf, am Ende eines anstrengenden Tages oder auch als Gewinn eines von Erfahrungen erfüllten Lebens. Aber schon im nächsten Satz zerstört Beauvoir den Moment der inneren Sammlung und beharrt darauf, daß es im „Augenblick des Genießens“ darum gehe, „sich mit ihm auf die Zukunft hin zu entwerfen“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Kein Verweilen ohne Ausblick auf ein Mehr, nicht einmal in einem auch noch so schönen ‚Augenblick‛. Der Existenzialismus als faustischer Pakt mit dem Teufel.

Oder Beauvoir schreibt: „Die Sonne, den Schatten genießen heißt, das Dasein als eine langsame Bereicherung erfahren“, was einen wieder an Muße denken läßt. Das Leben als Reifung und als Bildung. Dann konterkariert sie diese stille Einkehr wieder damit, daß es beim Rasten darum gehe, „wieder aufzubrechen“: „Gleichzeitig mit dem zurückgelegten Weg betrachte ich die Täler, zu denen ich hinabsteigen werde, betrachte ich meine Zukunft.“ (Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Im Hier und Jetzt gibt es für Beauvoir keinen Genuß. Jedenfalls keinen, der nicht sofort in den Drang übergeht, wieder aufzubrechen.

Wenn Beauvoir einerseits André Gide zitiert: „Eine Tasse Schokolade mit Zimt trinken, bedeutet Spanien trinken ...“ (Vgl. Beauvoir 1983/44, S. 204), schreibt sie andererseits dem bezaubernden Duft und der Landschaft die schnöde Funktion zu, „uns über sich selbst hinaus“ zu werfen (vgl. Beauvoir 1983/44, S.204). Auch hier also: kein sich-Verlieren in Duft und Landschaft; nur wieder angestrengtes über sich hinaus.

Bei der Frage, ob der Wille in erster Linie eine Kognition ist oder eine Emotion, hat sich Beauvoir für die Kognition entschieden. Nach ihrer Auffassung ist der Wille nur Wille als Entwurf, und die Gefühle dienen ihm.

Montag, 2. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Das existenzialistische, von Heidegger abgeschaute Gerede vom ‚Geworfen sein‛, vom ‚Werfen‛ und vom ‚Entwurf‛, vom Entwurfscharakter des menschlichen Daseins, verdeckt nur den anthropologischen Umstand, daß es die Gefühle sind, die den Menschen nicht ruhen lassen, und daß es die Gefühle sind, die den Menschen in Bewegung setzen. Sie sind auch der Grund, warum das menschliche Bewußtsein als Intentionalität oder mit Schopenhauer als „Wille und Vorstellung“ beschrieben werden muß. Unsere Transzendenz ist es, denken zu können. Nur im Denken hat der Mensch die Freiheit und die Wahl. Aber seine Wahl, sein ‚Entwurf‛ beschränkt sich darauf, welchem seiner Willensstrebungen er Priorität einräumen will, im Bezug auf eine Situation und im Bezug auf sein Leben. Mit ‚Willensstrebungen‛ meine ich alle unsere Gefühle. Ich mache keinen Unterschied zwischen unserem Willen und unseren Neigungen, wie Kant es macht.

Auch Beauvoir grenzt sich vom Kantischen Willensbegriff ab: „Im Unterschied zu Kant halten wir jedoch den Menschen nicht für einen wesensmäßig positiven Willen; im Gegenteil, zunächst bestimmt er sich selbst als Negativität: er nimmt zunächst sich selbst gegenüber Abstand ein, er kann nur dann mit sich übereinstimmen, wenn er bereit ist, sich nie wieder mit sich selbst zu vereinigen.“ (Beauvoir 1983/47, S.98; Hervorhebung DZ)

Beauvoir bezieht sich hier auf Kants Betonung des guten Willens, der sich von unseren Neigungen dadurch unterscheidet, daß er sich dem moralischen Gesetz unterordnet. Weil die Menschen dazu ‚neigen‛, sich Ausnahmen von der moralischen Norm zu gestatten, sind sie ‚böse‛. Wenn Beauvoir entsprechend diesem Gegensatz gut/böse nun zwischen positivem Willen und Negativität unterscheidet, erweckt sie den Eindruck, es könne so etwas wie einen negativen Willen geben. Aber der Wille ist immer positiv. Einen negativen Willen kann es gar nicht geben, weil er nämlich entweder nicht oder nichts wollen würde. Er höbe sich also selbst auf. Außerdem bezieht sie den Willen nur auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und klammert so sein Verhältnis zur Welt aus..

Plessner hingegen beschreibt den Willen allererst als ein Weltverhältnis, der dann, weil er an der Welt scheitert, reflektiert wird. Jetzt erst, als gebrochener Wille, wird er negativ: wir werden uns unserer selbst bewußt. Bevor wir an uns selbst scheitern, scheitern wir an der Welt. Das, was der Existenzialismus den „Entwurf“ nennt, basiert primär auf einem Selbstverhältnis, das von vornherein das Scheitern in seine Entwürfe einbezieht. Aber die Möglichkeit des Scheiterns wird uns erst durch die Erfahrung des Scheiterns bewußt. Diese Erfahrung ist nicht Teil des Willensakts, sondern dessen Resultat in einer Welt, die nicht für uns da ist. Wo Willensakte nicht in erster Linie an der Welt scheitern, bedarf es keiner Entwürfe.

Beauvoir redet von ‚Entwürfen‛, wie ich vom ‚Gefühlshaushalt‛ rede. Ich setze eine Vielzahl von Gefühlen voraus, die ich allesamt als Willensregungen verstehe. Beauvoir spricht aber von einer Vielzahl von Entwürfen, denen ein Wille, in der Einzahl, zugrundeliegt. Um jetzt angemessene Entwürfe für unser Handeln zu finden, müssen wir allererst diesen Willen kennen.

In einem Kontext, in dem es darum geht, wie wir uns einander in einer Liebesbeziehung ,hingeben‛, schreibt Beauvoir: „Aber in diesem Fall müßte man zuerst den Willen des anderen kennen, und das ist nicht so einfach. Jeder Entwurf hat eine zeitliche Dauer und umfaßt eine Vielzahl von Einzelentwürfen. Man muß also zu unterscheiden wissen zwischen jenen Entwürfen, die mit dem Hauptentwurf in Einklang stehen, jenen, die ihm widersprechen, und jenen, die nur zufällig mit ihm verbunden sind ...“ (Beauvoir 1983/44, S.234f.)

Das gilt nicht nur für unseren Umgang miteinander, sondern auch für uns selbst. Alle Menschen müssen sich mit einer Vielzahl von Einzelentwürfen auseinandersetzen, mit denen sie ihr Leben zu organisieren versuchen. Das entspricht dem, was ich den ‚Gefühlshaushalt‛ nenne: wir müssen lernen, zwischen wichtigen Willensregungen und bloßen Launen zu unterscheiden, weil unser Leben zu kurz ist, um uns alle unsere Wünsche zu erfüllen. Beauvoir macht aber den Fehler, bei der Vielzahl von Entwürfen nur von einem einzigen Willen, der den vielen Entwürfen zugrundeliegt, auszugehen. Die Vielfalt der Entwürfe ist nicht der Vielfalt der Möglichkeiten in einer endlichen Welt, sondern allererst der Vielfalt unseres Wollens geschuldet.

Wir müssen also nicht nur verstehen, was unsere Mitmenschen wollen, sondern auch, was wir selbst wollen. In ihrem Essay zu de Sade beschreibt Beauvoir ein Konzept von Intentionalität, das meinem ‚Gefühlshaushalt‛ entspricht: innerhalb einer Vielzahl von Begehrungen, Bedürfnissen und Launen ist die den ganzen Menschen umfassende Grundleidenschaft die Sexualität. Beauvoir zitiert de Sade: „Der sexuelle Genuß ist eine Errungenschaft, die meines Erachtens alle anderen Leidenschaften in sich vereint.“ (Zitiert nach: Beauvoir 1983/55, S.47f.)

Beauvoir fährt fort: „Wie der erste Teil dieses Satzes beweist, ahnt Sade nicht nur bereits das voraus, was Freud später als ‚Pansexualität‛ bezeichnet, sondern er hält auch den Geschlechtstrieb für die eigentliche Triebfeder allen menschlichen Verhaltens; zudem behauptet er im zweiten Teil des Satzes, daß die Sexualität Bedeutungen hat, die über sie hinausgehen; die Libido ist allgegenwärtig, und sie ist stets viel mehr, als sie ist: diese große Wahrheit hat Sade zweifellos zumindest geahnt. Er weiß, daß hinter den ‚Perversionen‛, die der Durchschnittsmensch als moralische Abirrung oder als physiologischen Makel betrachtet, das steht, was man heute als ‚Intentionalität‛ bezeichnet.“ (Beauvoir 1983/55, S.48)

Das Zitat fügt sich nahtlos in mein Konzept vom Gefühlshaushalt ein. Allerdings ist die Libido, die eigentlich nur die Sexualität meint, so dominant sie auch sein mag, ein zu kleines Wort, das nicht alle unsere Motive zu erfassen vermag. Ich spreche hier lieber vom Willen bzw. wie Beauvoir am Schluß des Zitats von ‚Intentionalität‛.

Diese Intentionalität ist ein Sammelbegriff für alle unsere Willensregungen, die wiederum nichts anderes sind als das Gesamt unserer Befindlichkeiten bzw. Gefühle. Um im Rahmen dieses vielfältigen Ensembles dominante und notwendige Empfindungen wie das Begehren und die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst etc.) von bloßen Affekten und Launen zu unterscheiden, bedarf es einer Disziplin der Selbstbeobachtung, die es uns ermöglicht, nach und nach herauszufinden, was wir für ein Leben führen wollen. Das Ergebnis einer solchen Selbstbeobachtung ist ein Gefühlshaushalt. Darunter verstehe ich eine Rangordnung und eine Zeitökonomie. Unser Leben ist zu kurz, um es an Launen zu verschwenden, die wir uns oft genug bloß von anderen abgeschaut und übernommen haben.

Sonntag, 1. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Ich schreibe in diesem und in den folgenden Blogposts zu Simone de Beauvoirs Essayband „Soll man de Sade verbrennen?“ keine Rezension, sondern nur Kommentare. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, daß ich in den letzten Jahren nicht mehr den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit von Rezensionen erhebe, sondern in diesem Fall vor allem damit, daß es mir mit Beauvoirs Essays vor allem um das anthropologische Grundkonzept des Existenzialismusses geht: um den Entwurfscharakter der menschlichen Existenz. Ich gehe deshalb summarisch auf die diesbezüglichen Aussagen der drei Essays ein. Ich diskutiere diese Essays nicht einzeln und nacheinander, sondern suche mir raus, was ich brauche, um meine Position zu schärfen.

Mit ,Entwurf‛ meint Beauvoir eine ambivalente anthropologische Grundbefindlichkeit, wie überhaupt der Begriff der Doppelsinnigkeit ihre drei Essays wie ein roter Faden durchzieht. Ambivalent ist der Wurf als ‚geworfen Sein‛, in diese Welt hinein, die nicht darauf gewartet hat, daß wir in ihr erscheinen, und die auch nicht für uns gemacht worden ist, weil es uns nämlich zuvor gar nicht gegeben hat. Es hat uns auch niemand geworfen. Dieser Wurf ist uns geschehen. Ein Zufallswurf, wie im Würfelspiel, und jetzt sind wir da.

Zugleich aber haben wir die Möglichkeit, selbst zu werfen, uns in Werfende zu verwandeln. Das ist der Entwurf. Daß wir uns auf ein Ziel hin entwerfen können, ist unsere Freiheit bzw. unsere Transzendenz. Wir können den Zufall, das Gegebene, überschreiten. Denn das bedeutet ‚transzendieren‛: überschreiten. Im Entwurf überschreiten wir die Grenzen des Zufälligen und Gegebenen. Existieren heißt transzendieren. Für die Existenzialistin bilden diese Wörter eine Tautologie.

Das ist also das Ambivalente am ‚Entwurf‛: der Mensch ist ein Geworfener und zugleich ein Werfender. An Pyrrhus ‒ ein griechischer Kriegsherr, auf den das Wort vom Pyrrhussieg geprägt wurde, einem Sieg, der zugleich eine Niederlage ist ‒ macht Beauvoir diese Ambivalenz deutlich. Der auf neue Eroberungen ausgehende Pyrrhus wird von seinem treuen Weggefährten Cineas gefragt, ob er nicht lieber zuhause bleiben und ausruhen wolle. Pyrrhus will aber erst noch weiter erobern, bevor er ausruht; immer weiter und weiter. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.195) Beauvoir läßt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite sie steht: „Nicht Cineas, sondern Pyrrhus hat recht. Pyrrhus bricht auf, um zu erobern: möge er das tun.“ (Beauvoir 1983/44, S.226)

Man könnte Pyrrhus und Cineas mit dem Sisyphus von Camus vergleichen. Schon daß der Sieg in Pyrrhus’ größter Schlacht den Keim seiner künftigen Niederlage in sich trug, ist für den Existenzialismus zentral. Denn in allen unseren Entwürfen geht es nicht um die Ziele, die wir mit ihnen verfolgen. Kein Ziel kann den Menschen befriedigen. Kein Ziel, wenn es erreicht ist, kann ihn dazu bringen, innezuhalten. Letztlich ist Pyrrhus ein Sisyphus und unterscheidet sich von Camus’ Sisyphus nur darin, daß er nicht immer nur ein und denselben Stein den Berg hinaufrollt, sondern jedesmal einen anderen. Aber in der Summe sind alle diese Eroberungssteine doch letztlich immer nur ein und derselbe Stein.

Cineas hingegen unterscheidet sich von Sisyphus darin, daß er überhaupt keinen Stein den Berg hinaufrollen will. Aber wäre er dann auch glücklich, so wie es Sisyphus Camus zufolge ist? Vielleicht ja. Vielleicht nicht. Falls er auch glücklich wäre, wäre er es aber grundlos; denn ihm fehlt der Stein. Existenzialistisch ausgedrückt: ohne Stein kein Entwurf. Ohne Entwurf kein Glück. Das Glück aber ist kurz und nur ein Durchgang zu neuen Entwürfen.

Bei Beauvoir läuft in ihren drei Essays immer alles auf dieses fortwährende sich-Entwerfen hinaus. Pyrrhus ‚wirft‛ sich in seine Eroberungen, wie alle Menschen, die sein wollen. Damit distanziert Beauvoir sich auch von Heidegger, für den der Mensch nicht ein Sein im Entwurf, sondern ein Sein zum Tode ist. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.227) Beauvoir hält dagegen: „Aber für mich, der ich lebe, ist mein Tod nicht; mein Entwurf geht durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Es gibt keine Schranke, auf die meine Transzendenz im vollen Schwung stößt; sie erstirbt von selbst, wie das Meer, das an einen flachen Strand anbrandet, innehält und nicht weiter vordringt.“ (Beuavoir 1983/44, S.227)

Das sind wundervolle, geradezu poetische Sätze. Sie erinnern mich an ein Erlebnis vor etwa zwölf Jahren: ein Karatelehrer forderte mich auf, mit der bloßen Hand eine Dachpfanne zu zertrümmern. Als ich aus Angst, mich zu verletzen, zögerte, gab er mir den Rat, mich nicht auf die Dachpfanne, sondern auf einen imaginären Punkt hinter der Dachpfanne zu konzentrieren. Ich folgte seinem Rat und als ich zuschlug, löste sich meine Spannung in einem Schrei. Meine Hand ging mit „vollem Schwung“ durch die Pfanne hindurch, als wäre da kein Hindernis. Zurück blieben die Trümmer der Pfanne.

Schon damals dachte ich, daß man so sterben sollte: sich auf einen imaginären Punkt hinter der Wand des Todes konzentrierend. Was auch immer hinter dieser Wand sein mag: dort brandet unser Leben aus, hält inne und dringt nicht mehr weiter vor.

Ich gebe gerne zu, daß das Zuschlagen und das Ausbranden ein in sich widersprüchliches Bild ergeben. Wenn wir jedoch das Zuschlagen mit der nackten Hand als eine Form des Loslassens verstehen, paßt alles wunderbar zusammen.

Aber nicht nur der Begriff des Entwurfs ist ambivalent. Auch der Begriff der Transzendenz als Überschreitung. In der Regel meint Beauvoir damit das Überschreiten von Grenzen. Wie ambivalent das ist, zeigt sich, wenn sie schreibt: „jedes Sichbedienen ist Überschreitung“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.213) ‒ Im ‚Sichbedienen‛ klingt an, daß wir es beim Überschreiten von Grenzen nicht nur mit einer Befreiung zu tun haben, sondern unter Umständen auch mit einer Grenzverletzung; mit einem Übergriff. Gewalt ist für Beauvoir nicht einfach etwas Negatives. Sie kann etwas Positives sein: die Dachpfanne muß zertrümmert werden.

Beauvoir beschreibt das menschliche Verhältnis zur Welt mit Vokabeln wie Gewalt und Kampf. Mit anderen, weniger konfrontativen Zugängen zur Welt kann sie nichts anfangen, wie sich beispielsweise an ihrer sonderbaren Einstellung zum Genuß zeigt (vgl. Beauvoir 1983/55, S.47f.), worauf ich im dritten Blogpost dieser Reihe nochmal gesondert eingehen werde. Auch mit Paradiesen kann Beauvoir wenig anfangen: „Weil der Mensch Transzendenz ist, fällt es ihm so schwer, sich je irgendein Paradies vorzustellen. Das Paradies ist Ruhe, ist Aufhebung der Transzendenz, ist ein Zustand, der gegeben wird, also nicht zu überschreiten ist. Aber was sollen wir dort nur anfangen? Damit wir es überhaupt aushalten können, müßte dort Raum für Handeln, für Wünsche vorhanden sein, müßten wir das Paradies seinerseits überschreiten können, dürfte das Paradies kein Paradies sein.“ (Beauvoir 1983/44, S.206)

Ist das vielleicht der Grund, warum unsere technische Zivilisation alle Weltregionen, die annähernd paradiesisch anmuten, in Wüsten verwandelt? Die Menschen halten es einfach nicht aus, nichts zu tun. Sie halten es nicht mit sich aus. Deshalb entwerfen sie sich. Deshalb überschreiten sie Grenzen.

Freitag, 2. Mai 2025

Menschliche und technische Evolution

Martina Heßler: „Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ (2025)

Die wichtigste Frage, die Martina Heßler in ihrem Buch stellt, lautet: „Wie verlässt man den Pfad der ständigen technologischen Leistungssteigerung in einer komplexen Welt, die stets komplexer wird?“ (Heßler 2025, S.240) ‒ Mit dem Sisyphus im Buchtitel spielt sie darauf an, daß die Menschen so auf die Technik fixiert sind wie einst Sisyphus auf seinen Stein und vergeblich alle die durch die Technik verursachten und, wiederum wegen der Technik, immer komplexer werdenden neuen Probleme mit neuen, noch komplexeren Technologien unter Kontrolle zu bringen versuchen.

Martina Heßler teilt die Technikgeschichte der letzten drei- bis vierhundert Jahre in drei Phasen ein. In der ersten Phase vom 17. bis in das 20. Jahrhundert hinein haben wir es nur mit mechanischen Maschinen wie etwa der Dampfmaschine und dem mechanischen Webstuhl zu tun. Sie unterliegen bekannten physikalischen Gesetzen und verwandeln nach einsehbaren, bis ins kleinste Detail festgelegten maschinellen Prozeduren fossile Energie in Bewegung um. Diese Maschinen werden zunehmend zu Leitbildern der Menschenerziehung. Die Philanthropen des 18. Jhdts. verwendeten für ihre Erziehungs- und Schulprojekte gerne Maschinenmetaphern.

In der zweiten Hälfte des 20. Jhdts., in den 1970er Jahren, waren die Maschinen so komplex geworden, daß der Mensch sie nicht mehr bedienen konnte. Er ,entwickelte‛ sich mit den Maschinen nicht mit und war zunehmend von ihrer ständig sich erhöhenden Leistungskraft überfordert. Es entstand eine neue Forschungsrichtung, das Human Factors Engineering: „Die Human Factors-Forscher beklagten eine prinzipielle evolutionäre Grenze des Menschen, die sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit weiterentwickeln könnten wie Maschinen.“ (Heßler 2025, S.229)

Mit Hilfe des Human Factors Engeneering sollten die Maschinen menschenfreundlicher bzw. bedienungsfreundlicher gestaltet werden. Die industriellen Arbeitsprozesse sollten nicht mehr an den Maschinen, sondern an den Menschen ausgerichtet werden.

Die Menschen, schreibt Heßler, „nahmen“ sich zum ersten Mal „als hinter der Technik zurückgeblieben wahr“: „Menschen entpuppten sich, wie die Zeitgenossen vielfach konstatierten, als der Bedienung der Technik nicht gewachsen, sie erwiesen sich als Bremse der technologischen Entwicklung und des Fortschritts. ... Aus der Beobachtung eines ,evolutionären Zurückbleibens‛ der Menschen resultierte ein relationales und vor allem systemisches Denken des Mensch-Maschinen-Verhältnisses, das in seiner historischen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.“ (Heßler 2025, S.164f.)

Aber so komplex die Maschinen inzwischen auch geworden waren, so blieben sie doch prinzipiell berechenbar und kontrollierbar. Zwar war der Wartungs- und Reparaturbedarf so enorm gestiegen, daß das menschliche Wartungspersonal bei der Behebung von Störfällen wiederum auf die Hilfe von ,Expertensystemen‛, also von Maschinen angewiesen war, aber die Ingenieure wußten, was ihre Maschinen konnten und wie sie funktionierten.

Das änderte sich in der dritten Phase der Technikgeschichte in den 2000er Jahren, als den Ingenieuren mit der KI ein qualitativer Sprung in eine neue technologische Dimension gelang. Sogenannte ,lernende‛ KI sammelt mit Hilfe statistischer Methoden Daten, auf deren Basis sie Probleme löst, deren Komplexität den menschlichen Verstand übersteigt. Außerdem wirkt die KI-Maschine auf schräge Weise menschlich. Sie entwickelt sich: „Das Maschinenhafte ist nicht mehr das Standardisierte, das Regelhafte und Immergleiche. Vielmehr entwickeln sich KI-Anwendungen unterschiedlich. Sie haben gleichsam eine individuelle Biografie, die von ihrem Gegenüber und ihrem Nutzungskontext abhängt. Es sind die jeweiligen Daten und der jeweilige Nutzungskontext, die die KI permanent verändern.“ (Heßler 2025, S.199; Hervorhebung MH)

Hier eröffnet sich eine neu-alte Dimension der Fehlerhaftigkeit: neu, weil kein Ingenieur mehr vorhersagen kann, in welche Richtung sich eine KI-Anwendung entwickelt, und folglich auch nicht mehr erklären kann, wie sie zu einem bestimmten Resultat gekommen ist. Im Unterschied zu allen Vorgängermaschinen ist die KI eine Blackbox. Wie Heßler den Philosoph Klaus Mainzer zitiert: „Es ist sogar in leicht mystischer Diktion von einem ,dunklen Geheimnis im Zentrum der KI ...‛ die Rede.“ (Vgl. Heßler 2025, S.199)

Wäre die KI tatsächlich eine Intelligenz, müßte man wohl von einem maschinellen Unbewußten reden. Tatsächlich handelt es sich aber bloß um einen blinden Fleck im Bewußtsein ihrer Konstrukteure, die zugeben müssen, daß sie ihre eigenen Konstrukte nicht mehr verstehen.

Soweit die neue Dimension der KI-Maschinen. Die alte Dimension aber besteht darin, daß diese KI auf fatale Weise zu unserem Spiegel geworden ist. Die ‚Informationen‛, die diese Maschine ‚verarbeitet‛, sind nie durch einen Wahrnehmungs- und Denkprozeß in Auseinandersetzung mit einer realen Welt hindurchgegangen, sondern wurden auf statistische Weise einem vorhandenen, möglichst umfassenden Datenpool entnommen. Im KI-Forscherjargon ist von einem Weltmodell bzw. von einem Sprachmodell die Rede. Texte generierende KI-Anwendungen arbeiten nur auf Basis von Daten, die schon da sind, und erheben keine neuen Daten. Sie haften an dem, was schon da ist, und können also auch nur ,denken‛, was schon da ist. Sie reproduzieren unsere Fehler und können auch nur Lösungen anbieten, die dem vorhandenen Datenpool entsprechen. Mit anderen Worten: sie können nur schon vorhandene Muster reproduzieren, die im Zweifel Muster von Fehlern sind, die dann aber als Fehlerlösung präsentiert werden.

Außerdem verdoppelt und verdreifacht die KI unsere menschliche Fehlerhaftigkeit, da sie die von ihr selbst generierten Daten wieder dem allgemeinen Datenpool einfügt und dann ein zweites, drittes und viertes Mal (Ende offen) entnimmt und erneut ‚verarbeitet‛. Einen alternativen Zugang zur realen Welt hat sie ja nicht.

Martina Heßler führt das spezielle Versagen der KI deshalb auf ihre „statistische Verfahrensweise“ zurück, die „gesellschaftliche Muster fortschreibt“. (Vgl. Heßler 2025, S.203) Statt menschliche Fehler zu begrenzen, potenziert die KI diese Fehler, indem sie den Status quo zementiert: „... der Dualismus von fehlerhaften Menschen und perfekten Maschinen wird damit hinfällig. Menschliche Fehler werden nicht mit KI ausgeräumt.“ (Heßler 2025, S.204)

Einer der fatalsten menschlichen Fehler besteht wohl darin, daß sich das Vertrauen in die Maschine und in den technologischen Fortschritt so tief in das menschliche Bewußtsein eingegraben hat, daß wir nicht mehr in der Lage sind, eine Welt zu denken, deren zu Katastrophen sich steigernden Krisen, die wir wiederum unserer Technikversessenheit zu verdanken haben, anders als wiederum durch Technik gelöst werden können.

Martina Heßler faßt zusammen: „Die gegenwärtigen Versprechungen sind aus der langen Geschichte der Figur fehlerhafter Menschen allzu vertraut. Weiß man um ihre Geschichte, so überrascht die Hartnäckigkeit, mit der die Erwartungen wiederholt werden. Haben sie sich nicht immer wieder als illusionär erwiesen? Gleichwohl verblassen die mit der Figur verbundenen Paradoxien ‒ das Wechselspiel menschlicher und maschineller Unvollkommenheiten, die Spiralen der technischen Aufrüstung und die alltäglichen Mühen des Sisyphus im Maschinenraum ‒ immer wieder hinter den Verheißungen eines maschinellen Modernismus.“ (Heßler 2025, S.195)

Das also ist die neu-alte Dimension der KI-Maschine: sie spiegelt unser Schicksal, wie Sisyphus mit seinem Stein immer wieder ,unten‛ anfangen zu müssen ‒ bei uns selbst.

Donnerstag, 1. Mai 2025

Paradoxien des technologischen Fortschritts

Martina Heßler: „Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ (2025)

Martina Heßler, Professorin für Technikgeschichte an der TU Darmstadt, beschreibt in ihrem Buch die Geschichte des Verhältnisses von Mensch und Maschine seit dem Beginn der industriellen Moderne im 17. und 18. Jahrhundert. Im Zentrum dieses Mensch-Maschineverhältnisses steht die „Figur“, wie Heßler schreibt, des fehlerhaften Menschen, der sich Maschinen konstruiert, um seine eigenen Unzulänglichkeiten zu kompensieren und zu überwinden, ein Motiv, das sich bis zum Pygmalionmythos der griechischen Antike zurückverfolgen läßt. Ging es in dem Mythos um die perfekte Frau, so geht es bei den Maschinen zunächst um den perfekten Arbeiter und wurde dann im Verlauf des 19. Jhdts. um die ethische Dimension erweitert, insofern die technische Norm der Maschine zunehmend als eine moralische Norm verstanden wurde. Die fehlerfreie Maschine wurde zunehmend zum Ideal einer menschlichen Fehlerfreiheit stilisiert.

Die Autorin zeichnet die Anfänge und die Veränderungen dieses ambivalenten Verhältnisses von Mensch und Maschine bis in unsere Gegenwart und den aktuellen Hype um eine KI hinein nach, auf die wieder dieselben Hoffnungen und Versprechen projiziert werden wie schon auf die ersten Dampfmaschinen und mechanischen Webstühle. Und die auf nur allzu absehbare Weise wiederum scheitern werden. Denn schon die klassischen Maschinen hatten die an sie gerichteten Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt. Das gilt um so mehr für die KI, als diese als transklassische Maschine nicht nur mit den klassischen, sondern auch mit völlig neuartigen Paradoxien belastet ist, wie sie mit der Figur des fehlerhaften Menschen und der angeblich fehlerfreien Maschine notwendigerweise verbunden waren und jetzt in gesteigerter Weise mit der KI verbunden sind.

In diesem ersten Blogpost zu Heßlers Buch gehe ich auf die Paradoxien einer Anthropologie ein, die den Menschen als Mängelwesen (Arnold Gehlen) definiert und wie sie die Ingenieure seit Anfang des 19. Jhdts., lange vor Gehlen, vertraten, dabei aber gleichwohl, bis in die 50er und 60er Jahre des 20. Jhdts. hinein, obwohl selbst fehlerhafte Menschen, den Anspruch erhoben, perfekte Maschinen konstruieren zu können. Ich habe in Heßlers Buch insgesamt sechs solcher Paradoxien gezählt.

1. Paradox der Selbstbeurteilung

Fehlerhafte Menschen, die perfekte Maschinen bauen, sind gleich schon das erste Paradox: „Dies ist eine der unreflektierten Paradoxien der Figur fehlerhafter Menschen: dass diejenigen, die die Fehlerhaftigkeit definieren, selbst unter ihre Beschreibung fallen.“ (Heßler 2025, S.32)

Das Paradox bezieht sich vor allem auf Ingenieure, die perfekte Maschinen bauen wollen. Menschen, die so denken, sind unfähig zur Selbstkritik. Sie denken ihre Aufgabe ausschließlich von der Maschine her. Der Mensch ist nur ein Störfaktor, und es wurde tatsächlich immer wieder ineins mit der Ausschaltung des Störfaktors auch die Abschaffung des Menschen gefordert. Wenn auch zunächst nur auf dem Weg der ,Freistellung‛ von Arbeiterinnen und Arbeitern, dann aber auch als generelle, auf alle Menschen bezogene Forderung.

2. Paradox der Entscheidungsfreiheit

Wer die Wahl hat, muß sich entscheiden. Wer sich entscheidet, muß Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Wo wir keine Wahl haben, gibt es auch nichts zu entscheiden. Wo es nichts zu entscheiden gibt, gibt es auch keine Verantwortung.

Nun versuchen aber Menschen spätestens seit den 40er und 50er Jahren des 20. Jhdts., komplexe Probleme, die den einfachen Menschenverstand überfordern, an Computer auszulagern. Aber zu einer Zeit, in der Computer noch nach einfachen mechanischen Kriterien funktionierten, also strikten Regeln (Algorithmen) unterworfen waren, gab es für sie keine Wahl. Sie waren nicht frei, sich anders zu entscheiden, als es ihnen ihre Algorithmen vorschrieben. Menschen versuchten also, die Entscheidungsverantwortung an Maschinen abzugeben, die über keinerlei Entscheidungsfreiheit verfügten. (Vgl. Heßler 2025, S.51)

3. Paradox der industriellen Automation

Dieses Paradox besteht in dem Versuch, das Problem der Überforderung der Menschen durch eine hohe Arbeitsbelastung ineins mit dem Problem der fehlenden Zeit für sinnvollere (kreative) Tätigkeiten mittels zunehmender Automation der industriellen Produktion zu lösen. Einerseits wird die industrielle Produktion technisch immer aufwendiger und komplexer und verdrängt den Menschen aus ihr, andererseits greift die Technisierung auch auf die anderen Lebensbereiche des Menschen über und ,kolonisiert‛ sie, bis die Menschen immer weniger selbst tun können und zu Ersatztätigkeiten wie Konsum und Freizeitgestaltung greifen. (Vgl. Heßler 2025, S.72f.)

4. Paradox des ,Übermenschen‛ bzw. der Evolution

Wir kennen den Übermenschen von Nietzsche her. Nietzsche dachte dabei an den nächsten Schritt in der Evolution: der Übermensch löst den Menschen ab. Der Mensch stirbt aus. Die US-Amerikaner machten daraus Superman, den wir nicht der irdischen Evolution verdanken, sondern der von einem anderen Planeten kommt. In dieser Denktradition steht auch die sogenannte Singularität, eine gottähnliche Super-Intelligenz, die letztlich auch den Menschen abschafft.

Hier vermischen sich menschliche Evolution und technische Evolution, und was die Entwicklungsfähigkeit anlangt, läuft die Maschine dem Menschen, der sich im Vergleich zu ihr als entwicklungsunfähig erweist, den Rang ab, „wobei“, so Martina Heßler, „paradoxerweise ja gerade die Menschen für die technische Evolution verantwortlich waren“. (Vgl. Heßler 2025, S.157f.; zur Evolution vgl. S.152, 160, 164, 198f., 213, 229, 233)

5. Paradox der Reparaturbedürftigkeit

Heßler spricht hier nicht von einem Paradox, sondern von „Ironie“. Ich vermute, weil die keineswegs fehlerfreien Maschinen auf fortwährende Wartungs- und Reparaturdienste durch fehlerhafte Menschen angewiesen sind. Darüberhinaus richtet sich aber die Ironie auch auf die wechselseitige ‚Spiegelung‛ eines immer schon paradoxen Mensch-Maschineverhältnisses, insofern Werkzeuge jetzt nicht mehr nur Werkzeuge sind, also Verlängerungen unserer vorhandenen natürlichen Organe, sondern diese durch neuartige Organe ergänzt und sogar ersetzt werden. Cyborgs sind letztlich ihrer menschlichen Natur enteignete Menschen. Was bedeutet, daß nicht nur die immer komplexer werdenden Maschinen gewartet und repariert werden müssen, sondern auch der Cyborg selbst. Denn Technik geht nun mal kaputt, und das um so schneller, je komplizierter sie ist. (Vgl. Heßler 2025, S.173)

Ist es schon angesichts der komplexen maschinellen Infrastruktur außerhalb des menschlichen Körpers zunehmend schwierig, einen Fehler zu finden, steigert sich die Problematik bei defekten Technologien innerhalb des Körpers. Cyborgs sind entgegen der landläufigen Ansicht keineswegs glückliche geschweige denn ,bessere‛ Menschen.

6. Paradox der antiquierten Versprechungen

Von den mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Versprechungen einer bequemeren und sichereren Welt war eingangs schon die Rede gewesen: „... die gegenwärtigen Versprechen basieren noch immer auf den Idealen einer mechanischen Maschine, die die chaotischen, fehlerhaften Menschen einhegen soll. Dies erweist sich jedoch als antiquiert, denn die neuartigen KI-Maschinen können die Versprechen, die aus einem mechanischen Zeitalter stammen, gar nicht einlösen.“ (Vgl. Heßler 2025, S.200)

Davon, warum das so ist: warum KI-Maschinen noch weniger als ihre mechanischen Vorgänger das Versprechen einer (für den Menschen) perfekten Zukunft einlösen können, wird im nächsten Blogpost die Rede sein.

Montag, 21. April 2025

Ich suche Menschen: 15 Jahre Erkenntnisethik

Vor fünf Jahren beendete ich meinen Blog in der Absicht, mich in ein Offline-Leben zurückzuziehen. Daraus wurde dann aber nur eine einjährige Pause, und 2022 setzte ich den Blog wieder fort. Allerdings anders als zuvor. Ich gab den wissenschaftlichen Anspruch des Blogs auf. Ich schreibe keine meist fachwissenschaftlich angebundenen Rezensionen mehr, sondern nur noch Kommentare zu Büchern, die ich lese, darunter hin und wieder auch Comics. Ich verfolge mein eigenes Projekt, das mehr als früher darin besteht, meine Beziehung zu den Menschen ins Zentrum zu stellen. Ich will klären, was mir wichtig ist am Menschen. Ich will wissen, was mich als Mensch ausmacht. In den letzten Jahren ging es mir hauptsächlich um die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du.

Außerdem postete ich Gedichte. Ich kam zu der Einsicht, daß mit „Erkennt­nis­ethik“ nicht nur eine philosophische Anthropologie in der Nachfolge von Helmuth Plessner gemeint sein konnte. Es ging nicht einfach nur um die allgemeine Frage nach unserer Lebensführung. Ich habe jetzt ein Alter erreicht ‒ und die 15 Jahre „Erkennt­nis­ethik“ haben den Weg dazu bereitet ‒, wo ich dies vor mir selbst eingestehen kann: ich schreibe um zu überleben. Wenn ich aufhöre zu schreiben, höre ich auf zu leben.

* * *

Etwas hat sich in dem Umfeld, in dem ich meinen Blog schreibe, grundsätzlich geändert. In den letzten 15 Jahren hatte ich mich immer wieder gegen die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ gewandt, der des Denkens nicht mächtige KI-Möchtegernforscher zutrauen, dem Menschen irgendwann das Denken zu ersparen, weil sie es besser kann. Manchmal denke ich, daß sie es schon geschafft hat.

Inzwischen mag die KI zwar das Denken noch nicht ganz abgeschafft haben, aber Autorinnen und Autoren hat sie jetzt den Rang abgelaufen und ,generiert‛ selber Texte. Denken kann sie immer noch nicht, aber schreiben schon. Das nächste, was sie abschaffen wird, ist die menschliche Leserschaft, die ja schon längst auch die menschliche Textproduktion nicht mehr zu bewältigen vermag. Damit überhaupt noch gelesen wird, bedarf es also einer KI. ChatGPT braucht keine menschlichen Leserinnen und Leser. Sie liest sich selbst und produziert auf dieser Grundlage Texte, die sie wiederum selbst liest usw. Sie nimmt uns also nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen ab. Ich selbst habe schon Kommentare von ChatGPT bekommen und zunehmend taucht diese KI auch in der Sta­tistik meines Blogs auf.

Für wen schreibe ich also meinen Blog? ‒ Für mich selbst. Ich bin Autor und Leser meiner Texte in Personalunion.

* * *

Was also unterscheidet mich noch von ChatGPT? ‒ Vielleicht folgendes: In den letzten drei Jahren habe ich mir für meine Lektüre, statt neue zu kaufen, zunehmend Bücher aus meinem Regal geholt. Oft waren Bücher dabei, von denen ich glaubte, sie noch nicht gelesen zu haben und in denen ich Unterstreichungen und Rand­bemerkungen vorfand, die das Gegenteil belegten. Nach den Erscheinungsjahren zu urteilen, lag die Erstlektüre oft 30 bis 40 Jahre zurück, und ich hatte sie komplett vergessen. Anhand dieser Markierungen, insbesondere der Randbemerkungen, fiel mir auf, wie sehr ich mir in all diesen Jahren in meinem Denken treu geblieben bin, aber auch, wo sich nun die zweite Lektüre palimpsestartig über die Erstlektüre legt, manchmal sogar in einer dritten Schicht, daß ich doch über die früheren Denkschichten hinausgewachsen bin. Ich bin kein Hamster im Rad gewesen und nicht im Vorwärtshasten auf der Stelle verharrt. Das finde ich tröstlich.

Diese oft bis zu vierzig Jahre umfassende Denkgeschichte verlief ganz offensichtlich weitgehend unterhalb meines reflektierenden Bewußtseins. Deshalb hatte ich zwar keine Erinnerung an diese Lektüren, aber sie waren nicht wirkungslos geblieben.

* * *

Meine Beziehung zu den Büchern in meinen Regalen war immer auch recht ambivalent gewesen. Einerseits erwarb ich ständig neue Bücher, auf die ich neugierig war, die ich dann aber nicht las, weil ich sie, wie sich herausstellte, noch nicht verstehen konnte. So z.B. die drei Vernunftkritiken von Immanuel Kant. Oft fragten mich Bekannte, die vor meinen Regalen standen, ob ich die auch alle gelesen hätte. Eine typische Frage von Nichtlesern, die nicht verstehen können, daß es darauf gar nicht ankommt. Daß es oft wichtiger ist, ein Buch zu haben, als es zu lesen. Vor mir selbst habe ich mich immer damit getröstet, daß ich später mal, als Rentner, in einem Sessel vor einem Kamin sitzen würde, und alle die Bücher lese, die bis dahin ungelesen im Regal gestanden hatten. Auch Kant.

Das war die eine Seite meiner Bücherbeziehung. Die andere Seite war, daß ich Sorge hatte, im Leben zu kurz zu kommen. Daß mich die Bücher davon abhalten könnten, eine Freundin zu finden. Damals, als ich jung war, gab es noch keine social media, und Bücher galten als eine Droge, Lesen als eine Suchterscheinung. Bücherkritiker warnten vor „Eskapismus“. Michael Ende hatte ein Buch darüber geschrieben und nannte es „Die unendliche Geschichte“.

Tatsächlich war ich in den 1980ern eine Zeitlang versucht, mich all meiner Bücher zu entledigen, sie auf dem Flohmarkt zu verramschen oder so. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Stattdessen lernte ich, Bücher so zu lesen, daß ich nicht jedesmal blind alles glaubte, was darin stand. Ich lernte, Bücher so zu lesen, daß ich meinen Verstand beim Lesen nicht ausschaltete, sondern mitdachte. Auf diese Weise sind sie für mich in einer für mich schwierigen Zeit zu meinen Lebensrettern geworden.

* * *

Und deshalb bleibe ich ihnen treu, in einer Welt, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche so umgestaltet hat, daß ich die Menschen nicht mehr wiedererkenne. Sie sind mir fremd geworden. Früher einmal hatte ich verstehen wollen, was es mit dem Menschen auf sich hat, weil ich ein Mensch unter Menschen sein wollte. Heute versuche ich nur noch, die Erinnerung daran zu bewahren, was Menschen einmal gewesen sind. In der Hoffnung, daß sie es irgendwann wieder sein werden.

PS (Ostermontag): Als ich diesen Blogpost vor etwa einem Monat schrieb, war mir noch nicht bewußt gewesen, daß der 15. Jahrestag auf einen Ostermontag fallen würde. Deshalb eine Klarstellung zum Blogtitel: es geht bei diesem Klassikerzitat nicht um eine Anspielung auf die Suche nach Ostereiern. Es sei denn die Leserin, der Leser, sieht das anders.

Samstag, 5. April 2025

Unterschied


Es schmerzt oft das, was blüht.
Selbst das Glück: es macht uns weinen.
Das ist es, was geschieht,
wenn wir zu lieben meinen.

Was ist der Unterschied
zwischen Hoffnung und Verzweiflung?
Er ist das, was geschieht
zwischen Saat und Ernte:
Reifung.

Montag, 24. März 2025

Karl Löwith: „(Die Welt) bleibt immer sie selbst: übermenschlich und absolut selbständig.“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928/62)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Im Vorwort zur Neuauflage seiner Habilitationsschrift (1962) distanziert sich Karl Löwith von ihr und schreibt, sich auf sich selbst als dritte Person beziehend: „Würde er das Thema heute von neuem bedenken, so geschähe es nicht mehr in der Vereinzelung auf die formale Struktur des Verhältnisses von ‚Ich‛ und ‚Du‛, sondern in dem weiteren Zusammenhang mit der umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt, innerhalb dessen Mitwelt und Umwelt nur relative Welten sind.“ (Löwith 1962/81, S.14; Hervorhebungen KL)

Löwith verweist seine Leser auf seinen Aufsatz „Welt und Menschenwelt“ (1960), in dem er die in seiner Habilitationsschrift vorgenommene Rangfolge von nichtmenschlicher und menschlicher Welt umkehrt: das Primat hat jetzt nicht mehr die Menschenwelt, sondern die nichtmenschliche Welt. Das ist die wirkliche, die eigentliche Kehre, auf die ich schon im ersten Blogpost dieser neunteiligen Reihe hingewiesen habe. Dazu passen die zahlreichen Widersprüche und Unstimmigkeiten in Löwiths Habilitationsschrift. Löwith hatte es auf seinem weiteren Weg nicht dabei belassen können; aber anstatt seinen Ansatz zur Wechselbeziehung von Ich und Du weiterzuentwickeln und nach und nach von seinen Widersprüchen und Unstimmigkeiten zu bereinigen, hat er sich letztlich vollständig von ihm abgewandt.

Das Zitat im Titel dieses Blogposts stammt aus dem Aufsatz. (Vgl. Löwith 1960/81, S.328)

* * *

In seiner Habilitationsschrift hatte Löwith also noch zwischen der nichtmenschlichen Welt und der Menschenwelt dahingehend differenziert, daß der eigentliche Widerstand gegen das menschliche Bewußtsein, der bei Plessner zum Hiatuserlebnis führt, nicht von der Naturwelt, sondern von der Menschenwelt ausgeht. In seinem Aufsatz „Welt und Menschenwelt“ (1960) (Löwith 1981, S.295-328), dessen Titel mit dem Titel des ersten Bandes seiner gesammelten Schriften, „Mensch und Menschenwelt“ (1981), in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis steht, sieht Löwith das anders. Ausgehend von dem Staunen der alten Griechen angesichts einer Weltordnung (Kosmos), die unabhängig vom Menschen ihren eigenen Bestand hat und ihren eigenen Gang geht, vertritt Löwith jetzt nicht mehr die Auffassung, daß die Menschen „privativ“ aufgrund des Widerstands ihrer Mitmenschen, sondern vom Staunen über den Kosmos zur Selbsterkenntnis gelangen ‒ und zwar gerade weil dieser Kosmos nicht menschlich ist:
„Jedermann kennt die ,Welt‛, und man bewegt sich alltäglich in ihr, aber eines Tages fragt man sich erstaunt, was Welt und Mensch sind und was es heißt, sich als Mensch in der Welt vorzufinden. Das allererste Phänomen, das ein Erstaunen hervorruft, ist aber natürlicher Weise nicht der erstaunende Mensch, sondern die erstaunliche Welt, weil die natürliche Blickrichtung ein Ausblick ist, der nach außen geht, und nicht die Reflexion auf uns selbst, die als eine Rückwendung die Zuwendung zu dem voraussetzt, was wir nicht selbst sind.“ (Löwith 1960/81, S.315)
Die Rede von der „Mitwelt“, wie sie die Habilitationsschrift dominiert, verschleiert nämlich, daß die Menschen in ihr nur um ihresgleichen und um sich selbst kreisen. Diese ‚Welt‛ ist allererst die Lebenswelt, in der wir zeitlebens befangen sind und aus der uns nur ein Hiatuserlebnis im Plessnerschen Sinne herauszureißen und mit unserer Begrenztheit zu konfrontieren vermag.

In diese Richtung zielt also Löwith zufolge auch das Staunen der alten Griechen. Diese Griechen interessierten sich nicht für das Worumwillen der alltäglichen Lebenspraxis: „Für die Griechen, die im Sehen und Schauen lebten ‒ ,okular‛ wie es York von Wartenburg von seinem christlichen Standpunkt aus nennt ‒, bezeugte dagegen diese Möglichkeit des ‚theorein‛ die höchste menschliche Daseinsweise und Tätigkeit. Sie ist die höchste, weil sie die von allen praktischen Zwecken freieste ist: ein freimütiger Anblick der Welt und alles dessen, was an ihr und in ihr erscheint. Die Stimmung der philosophischen Theoria ist das erstaunende Schauen.“ (Löwith 1960/81, S.316)

Löwith zufolge kommt der „theoretische() Charakter der Metaphysik“ (vgl. Löwith 1960/81, S.316) ursprünglich von der sinnlichen Wahrnehmung der physischen Welt: „Als eine Vorstufe der reinen Einsicht begreift er (Aristoteles ‒ DZ) das sinnlich wahrnehmende Sehen, sofern es um seiner selbst willen geübt und geschätzt wird und nicht nur der praktischen Umsicht dient.“ (Löwith 1960/81, S.316)

Was Löwith hier nicht erwähnt, ist, daß die „reine Einsicht“ der Metaphysik wiederum selbst zu einer Abwendung des Blicks von der Welt, wie sie ist, führt. Denn die Metaphysik konstruiert sich ihre eigene Welt, begrenzt durch eine kontemplative Schau, die alles Empirische geringschätzt, weil es eben mit den alltäglichen Mitteln und Zwecken und mit diesen wiederum mit der Sinnlichkeit kontaminiert ist. In der Metaphysik wird das Denken zum Selbstzweck und tritt an die Stelle der sinnlichen Wahrnehmung.

Hier gilt, daß das Denken erst dort beginnt, wo wir nichts mehr wollen: „Die praktische Voraussetzung der Theoria als philosophischer Einsicht um der Einsicht willen ist also, daß diejenigen Bedürfnisse, die gemeinhin die dringendsten und nötigsten sind, schon befriedigt sein müssen, um sich mit dem, was von ihnen aus beurteilt das Überflüssige, Nutzlose und Zwecklos ist, in Freiheit beschäftigen zu können.“ (Löwith 1960/81, S.317)

Löwith referiert hier nicht einfach eine Position der griechischen Antike, die historisch für überwunden gelten könnte, sondern an der es festzuhalten gilt: „Diese Besinnung auf den ursprünglichen Sinn der Theorie und ihres Verfalls in eine konstruierende Spekulation und Ideologie soll zugleich ihre mögliche Wiederherstellung nahebringen. ... in der Überzeugung, daß die Griechen eine Entdeckung machten, die ‒ wie jede Entdeckung ‒ für immer wahr bleibt, auch wenn sie verschüttet und wieder vergessen wird oder in Mißkredit fällt, weil es keine Philosophen mehr gibt, die noch das gute Gewissen zur Betrachtung der Welt haben.“ (Löwith 1960/81, S.314)

Die Menschenwelt spielt nur noch am Schluß des Aufsatzes, im letzten Satz, eine Rolle. Als Mahnung an Löwiths Zeitgenossen, aber auch als Warnung auf die Zukunft des Menschen bezogen: „Angenommen, es könnte dem Menschen gelingen, die Welt der Natur wie seine Umwelt zu beherrschen und Bacons Gleichung von Wissen und Macht zur Vollendung zu bringen, so wäre der Mensch nicht mehr Mensch und Welt nicht mehr Welt.“ (Löwith 1960/81, S.328)

Aber 65 Jahre danach muß festgestellt werden, daß seine Warnung verfehlt gewesen ist. Zwar haben wir inzwischen einen technologischen Stand erreicht, mit dem wir gut 2300 Jahre nach Archimedes den Planeten aus den Angeln gehoben haben, aber wir sind auch weiter denn je von Bacons Vision, die „Gleichung von Wissen und Macht“ zu vollenden, entfernt. Mit jeder neuen technologischen Innovation vermehren wir lediglich den längst eingetretenen Kontrollverlust über unsere Welt.

Aber gerade deshalb bleibt Löwiths Einsicht in die Relevanz einer nichtmenschlichen Welt für unsere Menschlichkeit überlebenswichtig. Löwith hatte seine Kehre zu Beginn der 1960er Jahre vollzogen. Heute steht sie für uns alle auf der Tagesordnung.

Sonntag, 23. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwith weist mehrfach in seiner Habilitationsschrift darauf hin, daß es keinen Widerstand von leblosen Dingen oder von Naturdingen gegen den Willen des Menschen geben kann; anders als Plessner, der den Hiatus als Brechung eines auf die Welt schlechthin, also auch auf die nichtmenschliche Welt gerichteten Willens beschreibt. (Vgl. Löwith 1928/81, S.59f., 81, 119f.) Mit diesem Hiatus meint Plessner eine Kluft, die sich durch die Brechung des Intentionsstrahls zwischen Mensch und Welt öffnet. Tatsächlich spricht Plessner der menschlichen Welt, der „Mitwelt“, ein eigenes „Substrat“ ab. (Vgl. „Stufen des Organischen“, S.302) Nur die einzelne menschliche Person vereint Außenwelt (Körper) und Innenwelt (Seele) in einem Substrat: dem Körperleib.

Wenn aber bei Löwith von einem menschlichen Substrat die Rede sein kann, dann nur in Bezug auf unsere Mitmenschen: „Zunächst kommt des andern Selbständigkeit nur ‚wider-willig‛, d.h. fremder Eigenwille wider den eigenen Willen zum Ausdruck. Als Kind beansprucht einer etwas von seinen Eltern, als Untergebener von seinen Vorgesetzten, als Mann von seiner Frau und umgekehrt. Ausdrücklich bewußt wird in diesen primären Willensverhältnissen die Selbständigkeit des einen und andern erst dann, wenn dem eigenen Anspruch nur un-vollkommen entsprochen oder ausdrücklich wider-sprochen wird. Die darin erfahrene Selbständigkeit ist somit privativ, in Rücksicht auf den eigenen unerfüllten Anspruch bestimmt. Sie zeigt sich nicht so sehr als eine ursprünglich freie Selbständigkeit des andern denn als unfreiwillige Abhängigkeit meiner selbst vom andern.“ (Löwith 1928/81, S.152)

,Privativ‛ meint also, da wird jemand der Erfüllung seines Anspruchs ,beraubt‛, was einem Hiatuserlebnis gleichkommt. Dieser am Mitmenschen erfahrene Hiatus führt also wie bei Plessner zur Reflexion des eigenen Bewußtseins als Selbstbewußtsein (außer natürlich bei Donald Trump): „Durch den Widerstand des andern gegen mich auf mich selbst zurückgebracht (), kann ich dazu gebracht werden, auf die darin zum Ausdruck gekommene Selbständigkeit des andern nun freiwillig Rück-sicht zu nehmen und damit zugleich selbst eine freie Selbständigkeit zu gewinnen; denn solange ich mich seiner Selbständigkeit widersetze und sie mir nicht frei begegnen kann, bin ich selbst, wider Willen, aber eigentlich gerade zufolge meines anspruchsvollen Gegenwillens, von ihm abhängig.“ (Löwith 1928/81, S.153)

Anders als bei leblosen oder natürlichen Weltobjekten (Gegenständen) führt mich Löwith zufolge der Gegenwille meiner Mitmenschen nicht nur zum Bewußtsein meiner selbst, sondern auch zur Erkenntnis meiner mit einem eigenen Willen ausgestatteten Mitmenschen. Das macht auch die Problematik einer theologischen Deutung des Du deutlich. In der Theologie geht es, wie Löwith schreibt, nur darum, „daß es dem eigenen Willen nach nicht auf den eigenen Willen ankommt“. (Vgl. Löwith 1928/81, S.151) Wo es aber auf den eigenen Willen nicht ankommt, können sich Ich und Du nicht als frei wollende Subjekte begegnen. Sie können sich nicht als einander „ebenbürtige“ Selbstzwecke anerkennen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.153) Der Gottesbezug ermöglicht also, anders als Martin Buber meinte, nicht die freie Wechselbeziehung zwischen Ich und Du, sondern verhindert sie.

Diese Kritik an der Theologie, die Löwith im Rahmen seiner Diskussion von Kants Moralphilosophie äußert, ähnelt meiner Kritik am Monotheismus hinsichtlich seiner Geringschätzung des menschlichen Willens. Deshalb muß ich jetzt doch auch mal Kants Moralphilosophie kritischer lesen als bisher. Bislang hatte ich Kant immer als Befreier des Menschen aus religiösen Abhängigkeiten gelesen. Alles soll Kant zufolge auf den Willen des Menschen ankommen, wobei ich über die Einschränkung hinwegsah, daß es ihm dabei vor allem um den guten Willen ging. Ich verstand diesen guten Willen angesichts des menschlichen Hangs zum radikal Bösen als eine notwendige Einschränkung.

Dennoch muß ich zugeben, daß Kant den guten Willen mit der Bereitschaft gleichsetzt, sich dem moralischen Gesetz unterzuordnen; einer Pflicht, die sich besonders gegen jede auch noch so gutartige eigene Willensregung richtet und der wir Kant zufolge nur dann genügen, wenn wir gegen unseren Willen, sprich: gegen unsere Neigungen handeln. Diese Einstellung unterscheidet sich nicht von dem jüdisch-christlichen Hauptgebot der Gottesverehrung, das dem Menschen genau dieselbe Haltung Gott gegenüber abverlangt. Ob es sich also um das moralische Gesetz oder um Gottes Willen handelt: beides läuft auf völlige Unterwerfung hinaus.

Löwith bringt diese ,Zweideutigkeit‛ der Kantischen Moralphilosophie auf den Punkt, wenn er von der „Definition der Pflicht als eines Selbstzwangs“ spricht. Das „natürlich-sinnliche Geneigtsein“ wird von Kant als etwas „Fremdes (Heteronomes)“ denunziert. (Vgl. Löwith 1928/81, S.157; Hervorhebungen KL) Mit anderen Worten: „(D)ie Natur des Menschen“, eben sein Wille, wird „gegen deren Natur“ bestimmt, also gegen sich selbst gerichtet. (Vgl. ebenda) Das, so Löwith, sei die „Wurzel aller wesentlichen Differenzen des Menschen mit sich selbst und mit andern“. (Vgl. ebenda) ‒ Und Löwith hat Recht!

Kant ist also meiner Ansicht nach entgegenzuhalten, daß die moralische Pflicht immer dort gilt, wo wir mit unseren Neigungen anderen Menschen schaden. Wo wir aber unserer Neigung gemäß andere Menschen respektieren und ihnen in Bedrängnis helfen, so tut das unserer Würde keinerlei Abbruch.

Deshalb ist es zwar richtig, daß der Mensch ein Selbstzweck ist, was seinen höchsten Wert, seine Würde ausmacht. Es ist aber nicht richtig, daß es unsere eigentliche Bestimmung sei, uns selbst Zwecke zu setzen. Die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, bildet eine Potenz unseres Intellekts, also unseres Verstandes. Das gilt auch für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke. Wenn diese Zwecke aber nun nicht unserem Willen entsprechen, was für unseren Verstand durchaus rational sein kann, dann handeln wir, trotz aller rationalen Verstandesgründe, gegen unseren Willen, was letztlich darauf hinausläuft, den Willen gegen sich selbst zu richten.

Auch das gilt für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke, denn auch diese widersprechen unserem Willen, wenn wir gegen sie handeln. Nur daß dieser Wille dann eben nicht ,gut‛ ist. Unsere Neigungen sind keineswegs aus einem Stück, sondern vielfältig und uneins. Aber es ist eben nicht die Aufgabe des Verstandes, Zwecke zu setzen, die unserem Willen widersprechen, sondern es ist seine Aufgabe, allererst Zwecke zu finden, die unserem Willen entsprechen, und sie uns dann erst zu setzen. Das meinte Jacotot, als er den Menschen als einen Willen definierte, dem eine Intelligenz dient.

Solchen rationalen Zwecksetzungen geht aber noch ein Schritt voraus. Allererst müssen wir herausfinden, was wir überhaupt wollen!

Dazu habe ich mich in diesem Blog schon an anderer Stelle geäußert. Eine unverzichtbare Voraussetzung für unserem Willen entsprechende Zwecksetzungen ist Selbsterkenntnis; also die von Löwith so vehement abgelehnte Selbstbefragung und Selbstkritik. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130) Denn unser Wille ist auf so vielfältige Weise gebrochen, und er ist in so vielfältige Willensregungen zersplittert, daß wir unseren eigenen Willen meist gar nicht kennen. Auch hier ist es wieder Aufgabe des Verstandes, herauszufinden, wer wir sind und was wir wollen.

An dieser Stelle wird auch nochmal deutlich, inwiefern wir es bei Plessners Bestimmung des Menschen als „Körperleib“ mit einem Fortschritt gegenüber der Kantischen Moralphilosophie zu tun haben. Denn auch Kant bestimmt den Menschen als ein „Doppelwesen“, leitet daraus aber eine Dialektik in Richtung auf die Vernunft als letzter Zweckbestimmungsinstanz ab; eine Dialektik also, wie sie der spekulativen Dialektik von Hegel entspricht, weg von der Sinnlichkeit hin zum Geist: „Nur die vernünftige Natur, aber weder rein natürliches noch rein vernünftiges Dasein ,existiert als Zweck an sich selbst‛. Der Mensch ist also prinzipiell aus der Dialektik zweier Standpunkte zu betrachten, erstens, sofern er zur Sinnenwelt gehört, d.h. ,unter den unteren Kräften und Gesetzen‛ seiner eigenen Natur steht, und zweitens, sofern er zur intelligiblen Welt gehört und unter dem Gesetz der Freiheit steht ().“ (Löwith 1928/81, S.161f.)

Plessner verzichtet auf eine solche Dialektik. Was Löwith im letzten Zitat „vernünftige Natur“ nennt, also ein Komposit aus Vernunft und Natur, bezeichnet Plessner als „Körperleib“, auf dessen Grenze stehend sich der exzentrisch positionierte Mensch neutral gegenüber Sinnlichkeit (außen) und Intellekt (innen) verhält.

Löwith bringt Kant hinsichtlich des gegen den „Egoismus der selbstsüchtigen Neigung“ gerichteten „Selbstzwangs“ der Pflicht in folgender Textstelle auf den Punkt: „Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes schränkt also zweifach ein: 1. das natürliche Geneigtsein des Ich, sich seinen eigenen Naturneigungen zu überlassen, und 2. das natürliche Geneigtsein des Ich, die andern als Mittel für sich selbst zu gebrauchen.“ (Löwith 1928/81, S.173)

Das „natürliche Geneigtsein des Ich“ ist selbstverständlich nichts anderes als der Wille, der darüberhinaus ein Konstrukt bildet, in dem, wenn alles gut verläuft, wir unsere lebensbegleitenden Erfahrungen zu einer Gesamtgestalt formen, die ich an anderer Stelle schon mal als Gefühlshaushalt beschrieben habe. Im Willen kommen alle unsere zersplitterten, vielfältigen Willensregungen zusammen und bilden eine Rangordnung aus Bedürfnissen, Begehrungen und Befindlichkeiten.

Deshalb ist der Selbstzwang des moralischen Gesetzes, das prinzipiell unser „natürliches Geneigtsein“ einschränkt, weil es blind ist für unsere Individualität, eine Gefahr für unsere Emanzipation zu einer selbstverantworteten individuellen Lebensführung. So wie schon Kant die Religion nur für diejenigen als notwendig erkannte, die sich nicht dem Selbstzwang der autonomen Pflichterfüllung unterwerfen können oder wollen, ist letztlich auch Kants pflichtgemäßer Selbstzwang nur immer dort nötig, wo wir nicht fähig sind, uns als Du eines anderen Ich und das andere Ich in unserem Du zu erkennen, und in der Gefahr sind, ihm zu schaden. Grundlage dieser Pflichterfüllung ist aber unsere Fähigkeit, in der Begegnung mit anderen unsere wechselseitige Verwiesenheit aufeinander zu erleben, zu empfinden und zu reflektieren.

Und das ist dann nicht mehr Pflicht, sondern Liebe.

Samstag, 22. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwiths begriffliche Trennung zwischen ,Individuum‛ und ,Person‛ führt, da er das Individuum als nur für selbst verantwortliches Ich setzt, nicht nur dazu, wie wir im vorangegangenen Blogpost gesehen haben, daß er mit einem Gewissensbegriff nichts anfangen kann, sondern auch dazu, daß er es als völlig kommunikationsunfähig setzt: „Ebensowenig wie einer ,mit‛ den andern allgemein sprechen kann ‒ sondern nur mit einem unter andern ‒ spricht man eigentlich mit einem andern, wenn man ihn nicht als zweite Person, sondern als ihn selbst, als ein selbständiges Individuum anredet. Einen andern als anderes Ich ansprechend, beansprucht man vom andern den Verzicht auf gesprächsmäßige Erwiederung.“ (Löwith 1928/81, S.130; Hervorhebungen KL)

„Erwiederung“ ist kein Rechtschreibfehler, sondern soll zum Ausdruck bringen, daß hier nicht der Widerspruch mit einem einfachen ,i‛ gemeint ist, sondern die aufmerksame Wiederholung des Gesagten mit ,ie‛, mit der der Gesprächspartner zeigt, daß er verstanden hat. Aber es ist eben doch widersinnig (mit nur einem einfachen ,i‛), daß die Person kein kommunikationsunfähiges Individuum sein soll und umgekehrt das Individuum keine kommunikationsfähige Person. Diese künstliche Entgegensetzung wirft ein eher schräges Licht auf die Herleitung der Person von der ,persona‛, von der in dieser Funktion nichts mehr bleibt als die ,Rolle‛, die sie ‚spielt‛. (Vgl. Löwith 1928/81, S.100ff.)

Noch widersinniger scheint mir aber Löwiths Weigerung zu sein, das Du als ein Ich zu verstehen, denn wer sonst sollte verstehen, was Ich ihm zu sagen hat? Denn daß es keine zwei Ich geben kann, ist weder von der Sache noch von der Logik her zwingend. Dem Ich geht nichts von seiner Kommunikationsfähigkeit verloren, wenn es einem anderen Ich begegnet, das ebenso einzig ist, sobald beide Du zueinander sagen. Tatsächlich kann nur, wer Ich sagt, zum Du werden. Wenn Ich und Du in einer ebenbürtigen, auf Gleichheit beruhenden Wechselbeziehung zueinander stehen, dann muß das Ich immer schon Du und das Du immer schon Ich sein.

Es kommt sogar noch schlimmer. Daß die Erwiederung keine Erwiderung sein soll, beinhaltet auch, daß Löwith jeden Versuch einer „Selbstbefragung und Selbstkritik“ für ein Gespräch in „freier Entsprechung“, freundlich gesagt, für unproduktiv hält. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130) ‒ Deshalb hat Löwith auch etwas gegen die innere Zwiesprache.

Löwith ist für die Absurdität, die freie und gleiche Wechselwirkung in der Zweierbeziehung ohne Selbstbefragung und Selbstkritik zu denken, so unempfindlich, daß er die Rede des einen an den andern mit ,Hörigkeit‛ gleichsetzt (vgl. Löwith 1928/81, S.132), im Sinne des widerspruchsfreien ,Hörens‛ auf das Gesagte. Daß er glaubt, diese Vokabel im positiven Sinne verwenden zu können, läßt sich nicht mehr mit einem harmlosem Wortspiel entschuldigen. Da will einer unbedingt zugunsten einer wechselseitigen Entsprechung, bei der die andere Seite nicht Ich sein darf, jeden potentiellen Widerspruch in der Erwiderung ausmerzen und an deren Stelle die Erwiederung setzen: „Um sich von einem andern etwas sagen lassen zu können, muß man sich selbst die Gegenrede untersagen können. Indem sich einer selbst die dem Gespräch immanente Tendenz zur Gegenrede untersagt, ermöglicht er sich die freie Begegnung des andern in dem, was dieser, als ein anderer, einem selbst zu sagen hat.“ (Löwith 1928/81, S.132)

So wird eine aus der Sache des Zuhörens heraus durchaus begründbare Grundhaltung, die zugewandte Hingabe an den anderen Menschen, in etwas Monströses verwandelt. Zuhören bedeutet allererst, durch die Differenz des Gesagten hindurch auf das Gemeinte zu achten, denn es gibt keine eins-zu-eins-Entsprechung von Meinen und Sagen, so wenig, wie einmal Gesagtes dadurch, daß man es wiederholt, noch dasselbe meint wie zuvor. Besser wäre es dann, zu schweigen und sich ganz aufs Zuhören zu beschränken, was Löwith dann auch tatsächlich vorschlägt: „Das eigentlich hörende Schweigen ist also eine ausgezeichnete Weise, dem andern zu entsprechen. Es entspricht dem andern widerspruchsfrei.“ (Löwith 1928,81, S.132; Hervorhebung KL)

Wie wenig konsistent Löwith argumentiert, zeigt sich, wenn er Zuhören und Verstehen als eine Übersetzungsleistung kennzeichnet: „Nun ist aber schon jedes Anhören und Verstehen der Rede eines andern, als der eines andern notwendig ein ‚Übersetzen‛ in die eigene Sprache.“ (Löwith 1928/81, S.133; Hervorhebungen KL)

Da sprechen also zwei Gesprächspartner eben doch verschiedene Sprachen, so daß, was gesagt wird, von der einen Sprache in die andere übersetzt werden muß, was Löwith an einer früheren Stelle schon einmal anders dargestellt hatte: daß nämlich zwei Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, nicht miteinander sprechen könnten. (Vgl. Löwith 1928/81, S.120) Bei einer solchen Übersetzungsleistung, wie sie das Zuhören erfordert, kann aber wohl kaum mehr von einer eins-zu-eins-Übernahme des Gehörten die Rede sein.

Allerdings schwächt Löwith dieses Zugeständnis an die Eigenleistung des Hörenden gleich wieder ab, und es bleibt deshalb für seinen denkfeindlichen Standpunkt folgenlos, denn Löwith zufolge handelt es sich bloß um ein „zumeist ganz unausdrückliches Übersetzen“ (vgl. Löwith 1928/81, S.133; Hervorhebung DZ); sprich: die Übersetzungsleistung vollzieht sich ohne jede kritische Anstrengung des Begriffs.

Philosophie- und Schriftkritik

Angesichts dessen, daß Löwiths eigene Begriffe bei genauerem Hinsehen nicht standhalten, verwundert es, wenn er nun seinerseits meint, die philosophische Arbeit am Begriff kritisieren zu müssen. Er vergleicht die philosophischen Begriffe mit „Zauberformeln“, weil sie darauf abzielen, Begriff und Sache miteinander eins zu eins gleichzusetzen (vgl. Löwith 1928/81, S.133), kritisiert sie also für etwas, was er selbst macht. Auch er verhindert das eigenständige Nachdenken des Hörenden, indem er ihn darauf verpflichtet, nichts anderes zu denken als exakt das, was der Redende sagt (vgl. Löwith 1928/81, S.134), nicht anders also, als würden Zauberformeln ausgetauscht. Heutzutage würde man nicht von Zauberformeln, sondern von Algorithmen sprechen, was auf dasselbe hinausläuft.

Zunächst Löwiths Kritik an Hegel, pars pro toto für die Philosophie: „Dieser Widerspruch, dem Begriff eine eigenständige Ausprägung zu geben und ihn doch noch für andere zum eigenen Nachdenken mitzuteilen, kennzeichnet Hegels Begrifflichkeit in ihrem Anspruch, die Sache selbst in selbständigen Begriffen einzubegreifen.“ (Löwith 1928/81, S.134)

Löwith überträgt dann diese Kritik auf die Schrift als kulturellem Artefakt. Auch in schriftlich fixierten Texten, so Löwith, werden dem „mündlichen Gedankenaustausch“ (Löwith 1928/81, S.134) zwischen Zweien in seiner offenen Prozeßhaftigkeit verselbständigte Begriffe entgegengesetzt, so daß sie dem Anspruch auf Unmittelbarkeit im Reden, Hören und Verstehen nicht entsprechen können. Auch diese Kritik ist nicht stimmig zuende gedacht, denn eine solche Unmittelbarkeit in der Mündlichkeit gäbe es nur, wenn es auch eine eins-zu-eins-Entsprechung von Reden und Hören gäbe. Gerade das aber wäre wiederum das Gegenteil einer offenen Gedankenentwicklung.

Noch einmal Löwith fern jeder Hörigkeit: „Im Gespräch verbietet sich ganz von selbst die Idee, einem andern eine Wortbedeutung in terminologischer Abgeschlossenheit zu übermitteln. Der anspruchsvolle Sinn des Wortes ist: dem daraufhin Angesprochenen einen ,Anstoß‛ zu geben, damit er selbst daran mitbilde. Das zuhörende Verstehen ist ebenso wie das Ansprechen eine gegenseitige Anregung der zum Hören und Sprechen bereitliegenden ,Sprachkraft‛.“ (Löwith 1928/81, S.134f.) ‒ Reden und Hören als gegenseitige Anregung sind aber etwas anderes als eine eins-zu-eins-Übertragung von Inhalten zwischen zwei Personen im Sinne einer Erwiederung. Letzteres wäre nämlich terminologische Geschlossenheit.

Löwith setzt also seine Kritik an den philosophischen Begriffen mit einer Kritik an der Verabsolutierung schriftlicher Texte fort. (Vgl. Löwith 1928/81, S.135ff.): „Die mögliche Verabsolutierung der begrifflichen Bestimmung von etwas gründet in der Auflösung der ursprünglichen Wechselrede zum Schreiben des einen und Lesen des andern.“ (Löwith 1928/81, S.135)

Löwith hätte eigentlich schon von Schleiermachers Hermeneutikbegriff her wissen können, daß es, was das individuelle Allgemeine betrifft, keinen Unterschied zwischen mündlicher Rede und schriftlichem Text gibt. In beiden Textformen sind Individuelles und Allgemeines, als Textur, so miteinander ,verwoben‛, daß weder Wörter noch Begriffe jemals endgültig auf eine mit sich identisch bleibende Bedeutung festgelegt werden können. Von einer Verabsolutierung des Begriffs kann also nur dort die Rede sein, wo dieser Umstand ignoriert wird, nicht selten deshalb, weil Selbstbefragung und Selbstkritik unterbunden werden sollen.

Auch ein eindeutig definierter Begriff franst an seinen Rändern in Regionen des Unbegrifflichen aus.

***

Insofern Löwith das Richtige meint, nämlich „die Freiheit der es (das Sprechen ‒ DZ) ausdeutenden Entsprechung eines Hörenden und Sprechenden“ (vgl. Löwith 1928/81, S.135), bezieht er sich scheinbar zurecht auf Wilhelm von Humdboldt, auf den er sich mit folgendem Zitat beruft: „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie denselben Begriff denken, sondern () dadurch, daß in jedem entsprechende Begriffe, aber nicht dieselben hervorgehen.“ (Zitiert nach Löwith 1928/81, S.135; Hervorhebungen WvH oder KL)

Aber das Recht, sich auf Humboldt zu berufen, hat er sich mit seiner beharrlichen Weigerung, Gesagtes auf sein Gemeintes hin kritisch zu prüfen, bis hin zur völligen Unterwerfung (Hörigkeit) des Zuhörenden unter die Autorität des Sprechenden, verwirkt. Mich verblüfft die Naivität, mit der Löwith das einander ,Entsprechen‛ von Begriffen, von dem in dem Humboldt-Zitat die Rede ist, auf sein eigenes Konzept der eins-zu-eins-Entsprechung überträgt. Daß es bei diesen einander entsprechenden Begriffen, wie Humboldt ausdrücklich festhält, eben nicht um dieselben Begriffe gehen soll, hatte Löwith ja schon zuvor mit Verweis auf eine unserem Verstand entzogene unbewußte Übersetzungsleistung aus dem Weg geräumt (vgl. Löwith 1928/81, S.133), die, folgt man Löwith, einer eins-zu-eins-Entsprechung nicht nur nicht widerspricht, sondern diese sogar ermöglicht.

Freitag, 21. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)


Löwith macht die subjektiven Gewißheiten, zu denen gleichermaßen soziale, empirische und kognitive Gewißheiten zählen, also beide Weltdimensionen, die nichtmenschliche wie die menschliche Welt, umfassen, von dem unmittelbaren Einverständnis zwischen Zweien abhängig: „Nur Einer kann dem Anspruch eines andern, ihn selbst oder etwas (anderes) wahrhaft erkannt zu haben, wirklich entsprechen, sei es, indem er seiner Ansicht widerspricht oder auch zustimmt. ... Um erfahren zu können, ob seine Antwort der Sache entspricht, bedarf der eine eines andern.“ (Löwith 1928/81, S.82)

Damit ist vom Ansatz her die subjektive Gewißheit generell von einem intersubjektiv ermittelten Konsens abhängig. Damit schließt Löwith aus, daß es so etwas wie ein Zwiegespräch mit sich selbst geben könnte, wie wir es von Hannah Arendt als Gewissensprüfung kennen. Das bringt Löwith auch noch einmal explizit in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Rein für sich kann sich einer wahrhaft objektiv weder vor etwas noch zu sich selbst bringen. Bespräche einer etwas, es rein für sich durchdenkend, so spräche er in Wirklichkeit nicht ungestört mit der Sache, sondern nur mit sich selbst.“ (Löwith 1928/81, S.83)

An anderer Stelle bezeichnet Löwith die Zwiesprache mit sich selbst als „dialektisches Scheingespräch“. (Vgl. Löwith 1928/81, S.83) Daß damit nicht nur ein absichtslos vor sich hin brabbelndes Selbstgespräch, sondern auch die ethische Dimension einer inneren Zwiesprache gemeint ist, ergibt sich aus folgendem Zitat: „Eigentlich kann nur der zu andern Sprechende als verantwortlich bestimmt werden. Vor sich selbst kann man nur quasi-verantwortlich sein, denn die Verantwortung beruht wie das Reden gerade darauf, daß man sich selbst einem andern zur Rede stellt.“ (Löwith 1928/81, S.129); Hervorhebungen KL)

Verantwortung vor sich selbst als einer anderen, ein Gewissen, gibt es also für Löwith nicht.

Donnerstag, 20. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Ich beginne diesen Blogpost mit einem längeren Zitat aus Löwiths Habilitationsschrift, das auf den ersten Blick meinem Konzept von Ich = Du entspricht und mich wahrscheinlich vor dreißig Jahren bei meiner ersten Lektüre des Textes nachhaltig beeindruckt hatte:

„Und weil ,Du‛ für mich der Nächste bist, sind alle anderen ‒ im Vergleich zu Dir ‒ Fernere, Anderweitige, Andere in der ,dritten‛ Person. ... Entsprechend hat das ‚wir beide‛ eine grundsätzlich andere Bedeutung als das allgemeine ,wir‛, z.B. auch der wissenschaftlichen Anrede. Das Zu-zweit-sein bedeutet keine quantitative Verringerung des zu-dritt-, viert- usw. -seins, sondern eine daraus nicht abzuleitende qualitative Steigerung des Miteinanderseins. Die ,dritte‛ Person und d.h. zugleich jede weitere Person unterscheidet sich von der zweiten Person grundsätzlich deshalb, weil nur eine Person in zweiter Person sich mit der von allen anderen unterschiedenen ersten Person vereinigen kann ... Eigentlich mit-einander sind nicht ,wir‛, und noch weniger ist ,man‛ miteinander, sondern ausschließlich ,wir beide‛, ,Du und Ich‛, können miteinander sein. ... Ein anderer bist ,Du‛ also nicht in der Bedeutung des lateinischen ‚alius‛, sondern im Sinne des ,alter‛ oder ,secundus‛, der mit mir als ein ,alter ego‛ alternieren kann (). ... Du bestimmst mich stets als Ich. Eigentliche ,Kommunikation‛ () gibt es nicht nur deshalb nur zu zweit oder ,unter vier Augen‛, weil darin ein jeder ‚als Einzelner‛ zu Wort kommt, sondern ebensosehr deshalb, weil der Einzelne nur als der Eine von Zweien, im Reden und Antwortstehen, aber nicht vor sich selbst aus sich heraus kommt. ... Am ursprünglichsten ,mit‛ einem andern ist einer dort, wo das bloß Mithafte des einen für den anderen in einem ebenbürtig-einheitlichen Einander als einem ausschließlichen Verhältnis von mir zu Dir, von ,bin‛ und ,bist‛, verschwindet.“ (Löwith 1928/81, S.70f.)

Trotz dieser offensichtlichen Nähe zu meinem eigenen Konzept gibt es eine durchaus schwerwiegende Differenz dort, wo in diesen ansonsten mit meinem Ich = Du-Konzept übereinstimmenden Textstellen nirgends ausdrücklich festgehalten wird, daß auch Du Ich ist. Anstelle einer solchen klaren Feststellung verwendet Löwith rätselhafte lateinische Vokabeln, ,alter‛ und ,secundus‛, als wäre damit im Unterschied zu ‚alius‛ alles wesentliche gesagt. Tatsächlich aber verdecken diese Vokabeln nur, daß Löwith an an­deren Stellen dem Du immer wieder seinen Ich-Status verweigert. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130, 154 u.ö.)

Löwith hebt in dem Zitat vor allem die eine Richtung von Ich zum Du hervor: „von mir zu Dir“ oder auch, scheinbar umgekehrt: „Du bestimmst mich stets als Ich“. Beides läuft auf die Feststellung hinaus, daß Du, da es ja Löwith zufolge kein Ich ist, immer schon mein Du ist, also das Du eines Ich, dem es possessiv zugeordnet wird, ohne selbst als Ich gemeint zu sein; wie etwa in folgenden Textstellen:
„,Du‛ (bist) meine ganze eigentliche Welt () ...“ (Löwith 1928/82, S.64; Hervorhebung DZ); „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“ Löwith 1928/82, S.71; Hervorhebung DZ) ‒ Auch die von Löwith aufgeführten Paarbeispiele laufen auf Besitzverhältnisse hinaus: Vorgesetzter/Untergebener (vgl. Löwith 1928/82, S.70), Eltern/Kind, Ehemann/Ehefrau (vgl. Löwith 1928/82, S.91) und die damit verbundene Problematik des Personbegriffs (vgl. Löwith 1928/82, S.67f.).
Obwohl Löwith an zwei Stellen auf die im Kantischen Sinne ‚Zweckfreiheit‛ der Ich=Du-Beziehung verweist (vgl. Löwith 1928/81, S.73 u.S.87), dabei aber schon an der zweiten Stelle unter der Überschrift „Das zweckfreie Füreinandersein“ (vgl. Löwith 1928/81, S.87) diese Zweckfreiheit auf „etwas“ bezieht, „was außer ihnen selbst“ liegt, wird endgültig an einer dritten Stelle deutlich, daß von einer beidseitigen Zweckfreiheit keine Rede sein kann: „,Du‛ bist zunächst derjenige, in dem Ich mich behaupten kann.“ (Löwith 1982/81, S.91; Hervorhebung KL) Das ‚Du‛ wird also als Mittel für das ,Ich‛ verzweckt und ist für sich kein Selbstzweck.

,Du‛ ist demnach kein Selbstzweck, sondern bloß Mittel der Selbstbehauptung, der Selbstzweckhaftigkeit des Ich. Noch deutlicher wird das in folgenden Sätzen zum Ausdruck gebracht: „Die herrschende Ausdrucksform des Ich (ego) im andern (alter) ist die Verichlichung des andern im Begriff des Meinigen. ,Meine‛ Kinder, ,mein‛ Mann, ‚meine‛ Frau, ,mein‛ Freund, aber auch: ,mein‛ Feind, usw. ‒ in all diesen ‚Meinigen‛ bekundet einer das Seinige, seinen altruistischen Egoismus.“ (Löwith 1928/81, S.91; Hervorhebung KL)

Zwar scheint die Formulierung „Verichlichung des andern“ auf dessen Ich-Status hinzudeuten, aber Löwith bewegt sich hier bloß im Graubereich dialektischer Zweideutigkeiten. ,Verichlichung‛ kann genauso gut auf den Als-ob-Charakter des Ich-Status eines Du verweisen, was zu dem eigenartigen Begriff des altruistischen Egoismus paßt, mit dem Löwith die Dualität von Ich und Du in eine Alltagsdialektik überführt, die der Vorstellung von einer freien und gleichen Wechselbeziehung Zweier unangemessen ist. ,Verichlichung‛ wäre dann ein Effekt des Possessivpronomens ,mein‛. Wo Du der ,Meinige‛ ist, hat es Anteil an meinem ,Ich selbst‛. Ohne mich aber wäre Du weder selbst ein Ich noch auch nur ein Du.

Im gleichen Sinne dialektisiert Löwith auch den Begriff der Selbstzweckhaftigkeit so, daß sich die grundlegende Zweckfreiheit der Wechselbeziehung von Ich und Du in dem höheren Zweck der Ichsetzung auflöst: Ich und Du begegnen sich, damit das Ich, durch das Du gesetzt, sich behaupten kann. Gegen eine solche Dialektik hatte sich Emmanuel Levinas gewendet, als er sich weigerte, das „Antlitz“ dialektisch zu relativieren. Um das zu verhindern, setzte er es, also das Antlitz bzw. das Du, absolut.

Ohne Levinas direkt im Visier zu haben, dessen Bücher er noch nicht kennen konnte, kritisiert Löwith solche Absolutheiten: „Weil es aber für das Dasein im Miteinander, zumal es a priori geschichtlich unselbständig da ist, so natürlich ist, sich nicht bei sich selbst, sondern im andern zu suchen, ist andererseits die ,Unnatürlichkeit‛ des Altruismus nicht darin zu sehen, daß es unnatürlich wäre, für andere zu sorgen, sondern darin, daß es wider den ursprünglichen Richtungssinn der eigenen Ansprüche an den andern geht, diesen anderen von vornherein an ihm selbst, in seiner anspruchsvollen Selbständigkeit ‒ ohne Rücksicht auf einen selbst und die eigenen Ansprüche an ihn ‒ zu sehen.“ (Löwith 1928/81, S.91; Hervorhebungen KL)

Ich kann weder Löwith noch Levinas zustimmen: weder darf in der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du eines von beiden auf ein Mittel zu einem bestimmten Zweck reduziert werden noch darf eines von beiden absolut gesetzt werden. Beides führt zum selben Ergebnis: Du ist selbst kein Ich mehr. Denn auch bei Levinas ist das Antlitz stets ein Opfer dessen, was Ich ihm antut. Nicht das eine oder das andere ist ein Selbstzweck für sich oder umgekehrt ein Mittel für das jeweils andere, sondern die Wechselbeziehung läßt zwar Verschiedenheit im Miteinander zu und verleiht ihr sogar Raum, sich zu entfalten, darf aber als existenzielle Gleichheit nicht durch diese Verschiedenheit aufs Spiel gesetzt werden.

Schließlich hält es Löwith sogar für nötig, zur Beurteilung des einen (Ich) in seiner Bestimmtheit durch den anderen (Du) einen „Dritten“ einzuführen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.92). Dieses Dritte bildet also keine Referenz, wie ich sie im letzten Blogpost besprochen habe, sondern einen urteilenden Dritten. Wir haben es nicht mehr nur mit einer Mittel/Zweck-Verteilung innerhalb der Wechselbeziehung von Ich und Du zu tun, sondern auch mit äußeren Zwecksetzungen, die der urteilende Dritte in diese Zweierbeziehung hineinträgt. Die Zwei sind dann nicht mehr die Zwei.

Mittwoch, 19. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)


Wie schon am Ende des vorangegangenen Blogposts angekündigt, soll es in diesem Blogpost um die Referenz in der Zweierbeziehung zwischen Ich und Du gehen. Dabei geht es vor allem um die Menschenwelt, also um das soziale Dritte, und nicht um die nichtmenschliche Welt. Deshalb möchte ich vorweg kurz auf das Gendern in meinen Texten eingehen. Seit einiger Zeit experimentiere ich immer mal wieder mit Möglichkeiten, zu gendern, ohne dabei allzusehr mein eigenes Sprachgefühl zu verbiegen. Am besten gefallen mir gegenderte Formulierungen, wenn sie den Textfluß nicht unterbrechen. Was natürlich auf das Paradox hinausläuft: am besten, es fällt überhaupt nicht auf.

Ich könnte jetzt natürlich hingehen und nonchalant schreiben: die eine und der andere. Aber es handelt sich hier um eine zentrale Formulierung, die Löwith immer wieder verwendet, und ich sollte schon versuchen, so nah wie möglich bei seiner Ausdrucksweise zu bleiben. Was Personalpronomina betrifft, ist Gendern sowieso nicht angebracht. Er ist er und Sie ist sie, und bei Ich und Du gibt es von vornherein kein männlich und kein weiblich.

Um meine Kommentare zu Löwiths Habilitationsschrift nicht unnötig zu verkomplizieren, denn die Habilitationsschrift ist sowieso schon kompliziert genug, verzichte ich lieber ganz auf das Gendern.

Blasenbeziehungen

Das referentielle Dreieck besteht aus Zweien, die sich auf ein Drittes beziehen (referieren). Die Basis dieses Dreiecks besteht also aus Ich und Du: „Ist aber schon alltäglich die ,Welt‛, in der man selbst mit andern ist, wesentlich in der Mitwelt des Daseins inbegriffen, so geht die Welt vollends im einen und andern auf, wenn beide einander ihre ganze Welt bedeuten und nicht nur ,sozusagen‛, sondern faktisch eine ,Welt für sich‛ sind.“ (Löwith 1928/81, S.72f.)

Löwiths Definition enthält eine problematische Formulierung: Bedeutet dieses „faktisch eine Welt für sich“, daß die zwei eine Blase bilden, ohne Bezug nach ,außen‛, was noch dadurch verstärkt wird, daß Löwith nur die Lebenswelt, nicht aber die Naturwelt in Betracht zieht, oder bedeutet es, daß jeder Bezug nach ,außen‛ sich auf der Basis von Zweien vollzieht? Nur im letzteren Falle könnte von einem referentiellen Dreieck die Rede sein, und dann auch nur im umfassenden Sinne, wenn es sich nicht auf die rein menschliche Lebenswelt beschränkt. Wenn Löwith aber von dem „exklusiven Miteinandersein () von Ich und Du“ spricht, rutscht er in eine Blasenbeziehung ab. Solche Blasenbeziehungen, man denke an ,social media‛, haben jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren.

Im vorangegangenen Blogpost hatte ich schon darauf hingewiesen, daß es oft sinnvoll ist, sich sozialen Konsensen zu entziehen, wenn unsere ,Bauchgefühle‛ oder auch unser Verstand uns vor einem zweifelhaft bleibenden Mainstream-Konsens warnt. Löwith hält nichts von so einer Verstandesautonomie oder schlicht: Gewissen. ‒ „Rein für sich kann sich einer wahrhaft objektiv weder vor etwas noch zu sich selbst bringen. Bespräche einer etwas, es rein für sich durchdenkend, so spräche er in Wirklichkeit nicht ungestört mit der Sache, sondern nur mit sich selbst.“ (Löwith 1928/81, S.83) ‒ Deshalb bezeichnet Löwith die Zwiesprache mit sich selbst auch als „dialektisches Scheingespräch“. (Vgl. Löwith 1928/81, S.83)

Löwith zufolge neigt auch die „grundsätzliche“, also nicht scheinhafte „Dialektik von Ich und Du“ zu lebensweltlichen Zweideutigkeiten (vgl. Löwith 1928/81, S.92f.). Daran wird deutlich, daß er eine alltagspragmatische Verortung von Ich und Du vornimmt. Auf diese Weise verringert sich der Unterschied zu einem Gruppenverhalten (als Lebenswelt) bis zur Unkenntlichkeit. So auch im folgenden Zitat: „(I)hre“, nämlich von Ich und Du, „gemeinsame Antipathie gegen einen Dritten verstärkt ihre Sympathie zueinander ...“ (Löwith 1928/81, S.93) Hier kommt die soziale Beziehung zwischen Zweien nur noch negativ, als Antipathie gegenüber einem Dritten, zum Ausdruck. Ihr eigenes soziales Potenzial gerät aus dem Blick.

Dennoch: es gibt keine Zweiheit von Ich und Du, die sich über ein soziales Drittes vermittelt; denn, noch einmal negativ ausgedrückt: „... schon jedes bloße Dazwischenkommen eines ‚Dritten‛ modifiziert bereits das Verhältnis des einen zum andern ...“ (Löwith 1928/81, S.93) Mit anderen Worten: die Zweierbeziehung läßt sich nicht in eine Gruppensituation einbetten, ohne ihren Charakter als spezifische Sozialform zu verlieren.

Pirandellos Theaterstück

Damit kommen wir zu Löwiths Interpretation des Theaterstücks „Cosi é (se vi pare)“ (1917) von Luigi Pirandello. (Vgl. Löwith 1928/81, S.100ff.) In diesem Theaterstück wird von den zwei Formen des Dritten, der Wirklichkeit und dem Sozialen, nur das soziale Dritte thematisiert. Im Zentrum des Theaterstücks steht eine drei-Personen-Konstellation aus Ehefrau, Ehemann und Schwiegermutter (des Ehemanns), deren Zweier-Beziehungen, Ehemann/Ehefrau, Ehefrau/Mutter, Ehemann/Schwiegermutter von den Einwohnern einer kleinen Stadt mißtrauisch beäugt wird. Die drei sind neu in dem Dorf und bewohnen zwei Wohnungen: die Ehefrau und Tochter bewohnt eine Wohnung für sich, während die anderen beiden eine andere Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewohnen.

Die Einwohner wollen wissen, mit wem sie es bei den drei Personen zu tun haben, wobei diese drei Personen selbst sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wer die jeweils anderen beiden sind. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, daß es eine der drei Personen, die Ehefrau und Tochter, gar nicht gibt. Wenn also die drei Personen ein Dreieck bilden, so ist die dritte Ecke, die Ehefrau, imaginär.

Anders ausgedrückt: das referentielle Dreieck, dessen Basis aus zwei Personen besteht, die sich gemeinsam auf ein Drittes an der Spitze des Dreiecks beziehen, das entweder ein realer Gegenstand oder eine andere Person sein kann, ist ein imaginäres Dreieck. Damit wird nicht nur der Unterschied zwischen nichtmenschlicher Welt und Menschenwelt nivelliert, sondern auch das Soziale selbst, hier also die Zweierbeziehung, wird zweifelhaft. Sie entpuppt sich als Wahngebilde.

Dazu paßt aber Löwiths Interpretation von Pirandellos Theaterstück zunächst nicht. Löwith schreibt mit Bezug auf den Titel des Stücks: „,Sofern es euch so erscheint ‒ ist es so‛. Das heißt, zunächst ist einer so bestimmt, wie er einem (andern oder sich selbst) erscheint. Der Ton liegt nicht auf dem Erscheinen als einem ‚bloßen‛ Schein, sondern auf der Erscheinungsweise eines Seins.“ (Löwith 1928/81, S.102; Hervorhebungen KL) Tatsächlich liegt der „Ton“ aber auf dem unter dem Schein verborgenen Sein; denn nicht das Sein selbst ist zweifelhaft, sondern nur die Erscheinungsweise.

Löwith leitet den Personbegriff vom lateinischen „persona“ ab, das er mit „Maske“ übersetzt. (Vgl. Löwith 1928/81, S.100ff.) Auch die Maske wäre nutzlos, wenn da nicht jemand wäre, der sie trüge. Löwith unterlegt also der Phänomenologie eine Ontologie. Er begnügt sich nicht mit dem Schein. Mit dieser Einstellung gleicht Löwith den Dorfbewohnern, die sich nicht mit dem Schein zufrieden geben wollen. Dieser Umstand wird von Löwith nicht weiter reflektiert.

So kann das Verhältnis zwischen Sagen und Meinen gar nicht erst in den Blick kommen, das sich ja auch in der Konstellation von Maske und Maskiertem verbirgt: „Damit diese Frage (nach dem eigentlichen Sein ‒ DZ) einen konkreten Boden hat, muß einer () zunächst für einen andern schon irgendwie da sein, muß einem irgendwie ,erscheinen‛, was einer ,ist‛.“ (Löwith 1928/81, S.102) ‒ Oder auch: damit einer für einen anderen irgendwie da ist, muß er ,eine Rolle spielen‛. Er muß sich maskieren. Nur daß eben im Falle des Theaterstücks niemand für die zwei Personen da ist. Der Mutter fehlt die Tochter und dem Ehemann die Gattin. Ihre ,Masken‛ bzw. ihre Rollen, die sie spielen sind leer. Löwiths Frage hat also keinen konkreten Boden und ist deshalb falsch gestellt.

Letztlich haben wir es also mit einem imaginären referentiellen Dreieck zu tun, mit einem referentiellen Dreieck, dessen dritte Ecke es gar nicht gibt, also mit einer in sich geschlossenen Zweierbeziehung, Ehemann und Schwiegermutter und all die auf diese beiden bezogenen Aktivitäten der Dorfbewohner, sind gegenstandslos. Alle Masken, deren personale Identitäten (Ehemann, Ehefrau/Tochter und Schwiegermutter) die Einwohner zu lüften versuchen, sind leer, weil es keine Ehefrau gibt, die den Rollen, die Ehemann und Schwiegermutter spielen, Realität verleihen würde.

Welchen Zweck verfolgt Löwith also mit seiner ausführlichen Interpretation von Pirandellos Theaterstück? Eigentlich müßte alles auf eine Bestätigung des Plessnerschen Zweifels hinauslaufen, daß wir Menschen „nirgendwo“ und „nirgend­wann“ ‚Ich‛ sind. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.292; vgl. dazu im Gegensatz Löwith 1928/ 81, S.29) Aber Löwith wendet sich von seinem bisherigen Umgang mit seinem Thema, von Ich und Du, ab und anstatt den Menschen wie Plessner exzentrisch zu positionieren, soll die Zweierbeziehung jetzt bloß ein „Wahngebilde“ sein. (Vgl. Löwith 1928/81, S.109). Inwiefern dieses Wahngebilde etwas mit realitätshaltigen Wechselbeziehungen zwischen Zweien zu tun hat oder ob beides dasselbe ist ‒ daß nämlich Zweierbeziehungen immer Wahngebilde sind ‒, wird von Löwith seltsamerweise nicht weiter erläutert.

Löwith bereitet seine immerhin 18 Textseiten umfassende Auseinandersetzung mit dem Bühnenstück vor, indem er zuvor Zweierbeziehungen als einen geschlossenen Zirkel, also als eine Blasenbeziehung beschreibt. (Vgl. Löwith 1981, S.99) Das findet sein Gegenstück in der Bühnenszene, wo ein philosophisch gesinnter Dorfbewohner die Beziehung zwischen Ehemann und Schwiegermutter, wie schon erwähnt, als ein „Wahngebilde“ bezeichnet, dem der referentielle Bezug auf die Wirklichkeit abhanden gekommen ist, „weil sie sie (die Wirklichkeit ‒ DZ) selbst vernichtet haben in ihrer Seele ‒ versteht Ihr mich?“ ‒ Er fährt fort: „Weil er ihr und sie ihm ein Wahngebilde aufgebaut hat, welches dieselbe Richtigkeit hat und in welchem sie gänzlich leben, und zwar in vollkommener Einstimmigkeit.“ (Zitiert nach Löwith 1928/1981, S.109)

Das ist aber letztlich nur die Perspektive der Dorfbewohner auf die Zweierbeziehung in der imaginären Dreierkonstellation. Löwith verwendet im Verlauf seiner Interpretation für den Ehemann das Kürzel ‚P‛ und für die Schwiegermutter das Kürzel ‚F‛. Die nicht vorhandene Ehefrau ist bezeichnenderweise ‚X‛. Weil es in einem Bühnenstück schwierig ist, eine imaginäre Person real auftreten zu lassen, verfällt Pirandello auf den Trick, ‚X‛, also die Ehefrau, als eine willenlose Person darzustellen, die für sich selbst nichts anderes sein will, als was ‚P‛ von ihr als Ehefrau und ‚F‛ von ihr als Tochter denken: „Ein selbständiges Individuum ist sie nur körperlich, ihrer existentiellen Wirklichkeit nach existiert sie für zwei Personen. Außer diesem ihrem ‚Sein-für-Andere‛ hat sie kein ‚Ansichsein‛, ihr Ansichsein ist wirklich nur jene ,bloße Abstraktion von allem Sein-für-Anderes‛, mit welcher Hegel Kants Begriff vom ‚Ding-an-sich‛ kennzeichnet.“ (Löwith 1928/81, S.114)

Löwith transformiert die ethisch motivierte Frage nach der Qualität der Wechselbeziehung zwischen Zweien zunächst über die Frage nach der sozialen Struktur einer Gruppe angesichts einer für sie nicht nachvollziehbaren Wechselbeziehung zwischen Dreien in die erkenntnistheoretisch motivierte Frage nach der Wirklichkeit der Referenz in einem referentiellen Dreieck auf der Basis von Zweien. Diese Einschränkung des referentiellen Wirklichkeitsbezugs auf eine Zweierbeziehung ist schon an früherer Stelle angelegt, wo Löwith mit Bezug auf Dilthey die Widerständigkeit eines fremden Anderen nur unter unsresgleichen, also im Miteinander der Menschenwelt verortet und der nichtmenschlichen Naturwelt jede menschliche Relevanz abspricht. Da es definitionsgemäß kein widerständiges Weltding geben kann, kommt es letztlich zur Degradierung des referentiellen Dreiecks zu einem imaginären Dreieck, zu eben jenem sozialen ‚Wahngebilde‛ in Pirandellos Bühnenstück. Wo nur Menschen einander widerständig sein können, wird alles zur Illusion und das referentielle Dritte imaginär.

Pirandellos „Cosi é (se vi pare)“, sofern es euch so erscheint, ist es so, widerlegt also die Rangordnung, in der die Menschenwelt realitätshaltiger ist als die nichtmenschliche Naturwelt. Dilthey ist widerlegt. Und mit ihm Löwith.

Fazit

Folgt man Löwith, so kam es ihm mit Pirandellos Theaterstück vor allem auf die Frage an, inwiefern sich das Verhältnis zwischen Zweien zu einem Wahngebilde verselbständigen kann: „Die Geschichte eines jeden Verhältnisses artikuliert sich schematisch dreifach, nach Eintreten, Darinstehen und Heraustreten. Wechselseitig verfallen kann nur das schon bestehende Verhältnis, weil sich nur darin die ursprüngliche Initiative des einen und andern in das wechselseitige Verhältnis als solches verlegen kann. Die Initiative des Verhaltens, die in ein Verhältnis hinein und aus ihm herausführen kann, steht als Initiative bei jedem als einzelnem.“ (Löwith 1928/81, S.116)

Es kommt also auf das initiative Verhalten des Einzelnen an, ob eine Zweierbeziehung zustandekommt, die sich dann aber in ihrem Verlauf als Verhältnis bis hin zur Wahnhaftigkeit verselbständigen kann. Eine solche Zweierbeziehung hat nichts mehr mit sich begegnenden Gleichen als Ich und Du zu tun, die immer situativ in eine Wirklichkeit eingebettet ist, auf die hin, als ein Drittes, sie wechselwirken bzw. auf die sie gemeinsam referieren. In dem Wahngebilde, um das es in dem Theaterstück geht und in dem dem Ehemann und der Schwiegermutter die Referenz abhanden gekommen ist, haben wir es Löwith zufolge mit der ‚Initiative‛ des Ehemanns und mit der ‚Initiative‛ der Schwiegermutter zu tun, zu einander in ein Verhältnis zu treten, in dem sie um des Wohlbefindens des andern willen diesen in seinen Illusionen bestätigen und stärken. Dieses Worumwillen bestimmt ihr wahnhaftes Verhältnis zueinander. Mit Löwith gesprochen: beide haben beschlossen, in dieses Verhältnis zueinander einzutreten und dann hat sich dieses Verhältnis verselbständigt und sie können jetzt nicht mehr heraus, es sei denn, der geschlossene Zirkel, den das Verhältnis jetzt bildet, zerfällt von sich aus.

Allerdings hatte Löwith zuvor von der verabsolutierten Beziehung des Individuums auf sich selbst und von dem absoluten Verhältnis zwischen zwei Personen als Füreinander und Miteinander gesprochen und damit auch eine Wertung zugunsten des absoluten Verhältnisses verbunden. Wie paßt das jetzt zu einem verselbständigten Verhältnis zwischen Zweien, das sich jetzt als ein verabsolutiertes Wahngebilde erweist? Es fehlt im Text jede vermittelnde Erläuterung zwischen diesen beiden Sachverhalten.

Außerdem: Warum hat Löwith mit Pirandellos Theaterstück eine solche wahnhafte Zweierbeziehung ins Zentrum seiner Habilitationsschrift gestellt? Was will er uns damit sagen? Für mich bleiben die 18 Seiten, die so gar nicht in die Gesamtanlage seiner Habilitationsschrift passen, ein Rätsel. Sie haben wenig bis gar nichts mit Feuerbach oder mit Dilthey zu tun. Andere Geschichten hätten da nähergelegen, wie z.B. die Samaritergeschichte, mit der sich Martin Buber in seinem Buch über das dialogische Prinzip befaßt. Hätte sich Löwith ebenfalls mit ihr befaßt, hätte er folgendes Fazit aus dem Theaterstück nicht ziehen können: „Wenn aber der eine des andern Sprache nicht beherrscht, dann kommen sie einander auch gar nicht nahe; als Menschen von verschiedener Sprache können sie nicht wirklich miteinander, sondern nur beisammen sein.“ (Löwith 1928/81, S.120; Hervorhebung KL)

Das paßt zu dem Wahngebilde des Ehemanns und der Schwiegermutter, die nicht miteinander reden, sondern ‚nur beisammen‛ sind. Aber die Samaritergeschichte erzählt eine ganz andere Zweierbeziehung, in der der Samariter und der Jude nicht ein einziges Wort miteinander reden. Tatsächlich stehen Samariter und Juden in dieser Geschichte für Gruppen, die prinzipiell nicht miteinander reden. Dennoch tut der Samariter alles Notwendige, um den verletzten Juden zu beherbergen und zu versorgen. Es bedarf also keiner gemeinsamen Sprache, um das Wahngebilde einer alten Dauerfeindschaft zu überwinden, wenn es ganz elementar darum geht, einem Menschen in Not zu helfen. Diese Besonderheit gilt aber nur für zwei-Personen-Konstellationen und nicht für verfeindete Gruppen.