„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. März 2024

Ich = Du. Nachtrag

Ich hatte mich früher immer gefragt ‒ im Grunde seit dem Ende meiner Kindheit ‒, wie es kommt, daß ich Ich bin. Ich konnte diese Frage nicht mit meiner Geburt, als dem Beginn der Ich-sagenden Lebensform, die ich bin, beantworten. Es genügte mir nicht, mein, wie ich es empfand, einzigartiges, unvertretbares Ich auf das Zusammentreffen einer Samen- und einer Eizelle zurückzuführen. Selbst wenn ich alle Details, alle Daten, die mich betreffen, überblicken und wissen könnte, würde ihre vollständige Gesamtheit, ihr ,Big Data‛, nicht im geringsten erklären, warum ich als Ich ausgerechnet mit diesem Körper und mit dieser konkreten personalen Existenz verbunden war.

Deshalb könnte man mich auch nicht klonen, denn dieser Klon wäre wieder ein einzigartiges, unvertretbares Ich und nicht ich. Er wäre nicht dasselbe Ich im selben Körper, nur eben an einem anderen Ort; an einer anderen Raum-Zeit-Stelle. Wie kommt also dieser Klon zu diesem Ich, das wie ich unvertretbar einzigartig ist und deshalb so wenig ich ist, wie ich er bin?

Tatsächlich ist der einzige Unterschied zwischen ihm und mir nur ein marginaler und trotzdem alles entscheidender: er besteht in der Verschiedenheit seiner Raum-Zeit-Stelle zur Raum-Zeit-Stelle, die ich mit meiner physischen Präsenz ausfülle. Solange diese Raum-Zeit-Stellen nicht zu einer einzigen verschmelzen, können wir Du zueinander sagen.

Letztlich läuft die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, auf die Frage hinaus, warum überhaupt etwas ist. Das Nichts ist nur ein angehängtes Nichts; ein Wort ohne Inhalt. Ein überflüssiges Anhängsel, das viel Metaphysik impliziert. Also heiße Luft.

Aber auch die Frage nach dem Sein ist nur sinnvoll in Bezug auf ein Bewußt-Sein. Also auf ein Subjekt, Ich, das diese Frage stellt. Wer sonst sollte sie stellen?

Also richtet sich die Frage nach dem ,Warum‛ des Seins letztlich auf dieses Ich-Bewußtsein. Wie kommt es, daß ausgerechnet ich in diesem Körper stecke und nicht irgendjemand anderes? Das ist die Frage, mit der meine Kindheit endete, auf die dann auch prompt weniger erfreuliche Lebensphasen folgten.

Diese Frage kann eigentlich nur von jemandem beantwortet werden, der ebenfalls Ich sagen kann, ohne ich zu sein. Oder anders: diese Frage wird in dem Augenblick überflüssig, wo jemand, der Ich sagen kann, ihr oder sein Du in mir erkennen kann. In diesem Moment wird die Frage nach dem ,Warum‛ des Ich überflüssig, weil es erkennt, das der Sinn von Ich nicht in ihm selbst zu finden ist, sondern in jenem Ich, daß Du zu ihm sagt.

Meine Formel Ich = Du entspricht mehr oder weniger Martin Bubers Dialogischem Prinzip, das auf einer ähnlichen Verhältnisbestimmung von Ich und Du basiert. Allerdings kennt er nur diese zwei Grundworte Ich-Du und Ich-Es. Ich-Wir, also die ganze gesellschaftliche Dimension, wird von ihm dem Ich-Es subsumiert und nicht als eigenständiges Grundwort ausgeführt. Aber darauf werde ich in einem späteren Blogpost, in dem ich unsere Positionen nochmal genauer differenzieren werde, zurückkommen.

Das Dialogische Prinzip von Martin Buber und der Körperleib von Helmuth Plessner bilden letztlich Korrekturbegriffe zum „cogito ergo sum“ von Descartes, das, wie Keiji Nishitani schreibt, die „lebendige innere Verbindung“ der natürlichen Welt „zum Ich“ aufgelöst und zu einer Subjekt-Objekt-Spaltung geführt hat:
„Jedes Ich wurde wie eine einsame Insel, die auf einem Meer toter Materie trieb, und gezwungen war, in der Abgeschlossenheit ihrer selbst zu verharren. Das Leben verschwand aus der Natur und den natürlichen Dingen und hörte auf, das lebendige Band zu sein, das den Menschen und die Weltdinge im Grund zusammengehalten hatte.“ („Was ist Religion?“ (1986), S.52)
Das steckt hinter dem Mißtrauen gegen jede Form von ,Bewußtseinsphilosophie‛, wie sie Vertreter der Kritischen Theorie gehegt haben. Aber ihre Verbindung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse macht die Sache nicht besser. Der Decartessche ,Kartesianismus‛ ist einer der Hauptgründe für die Subjektvergessenheit, wie sie die Philosophie des 20. Jhdts. durchgängig geprägt hat. Es bedarf einer Phänomenologie der Unwesentlichkeit, um diese Aversion zu überwinden.

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