„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Dieser Satz, daß das Sein von sich nicht lassen kann und will (vgl. Lütkehaus 1999, S.722), enthält die gleichermaßen dringliche wie verfehlte Fragestellung des Buchs „Nichts“ (1999) von Ludger Lütkehaus. Zum einen wird das Sein in diesem Satz als ein bedürftiges Subjekt inszeniert, das weder von sich lassen kann noch will. Zum anderen aber ist das Sein in seiner durch Hamlet geprägten Fragestruktur „Sein oder Nicht-Sein?“ und als seit Leibniz verschieden variierte „Grund-Frage“: Warum ist überhaupt etwas und nicht Nichts?, nur ein Abstraktum, so wie auch das Nichts nur ein Abstraktum ist.

Je nach Profession bildet dabei mal das Sein (Ontologen) und mal das Nichts (Nihilisten) die höchste Form der Abstraktion, als „Totalabstraktion“, die von allem abstrahiert: auch vom konkreten bedürftigen Subjekt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.522f., 607, 661) Wenn etwas nicht von sich lassen kann und will, ist es gewiß nicht das ,Sein‛ und schon gar nicht das ,Nichts‛, demgegenüber, als Nicht-Sein, das Sein nur als Nicht-Nichts minimalbestimmt ist, sondern eben jenes bedürftige Subjekt.

Warum also diese seltsame Formulierung, in der Lütkehaus dem Sein Prädikate zuweist, die ihm gar nicht zukommen, als könnte es Akte verzweifelter Selbstbehauptung vollziehen, wie wir sie nur von einem um seine Existenz ringenden Shakespeareschen Hamlet kennen? Die Antwort liegt wohl, wie ich vermute, in Lütkehausens eigener Biographie, und diese Antwort liefert zugleich das Grundmotiv für das 758 Seiten starke Buch, das im Titel den „Abschied vom Sein“ mit der Hoffnung auf ein „Ende der Angst“ verknüpft.

Elf Jahre vor dem Mißbrauchsskandal in reformpädagogischen und kirchlichen Einrichtungen läßt Lütkehaus eigene Mißbrauchserfahrungen zu Wort kommen: „Am gnadenlosesten aber hat das Christentum sich hier an denen vergangen, von denen es behauptete, daß sie ihm am meisten am Herzen liegen: den Kindern. Das, um für einen Moment ganz unchristlich zu sprechen, ist dem Christentum nicht zu verzeihen.“ (Lütkehaus 1999, S.33)

Zunächst ist diese Bemerkung noch so allgemein gehalten, daß sie bloß als ein historischer Hinweis auf eine verhängnisvolle Seite des Christentums zu verstehen sein könnte, das mit seiner Erbsündenlehre sogar unschuldigen Neugeborenen mit ewigen Höllenstrafen droht, worauf ja auch Lütkehaus selbst viele hundert Seiten später gegen Ende des Buchs noch einmal explizit hinweist:
„Ja, dem Gottesfreund Augustinus ist so sehr an der Bevölkerung, wenn nicht Überbevölkerung der real existierenden Hölle gelegen, daß er selbst die früh verstorbenen Kinder, die nicht getauft wurden, nicht getauft werden konnten: die tatsächlich nur von einem Mangel, einem Glaubensmangel, einem privaten Nichts geschlagen sind, den ewigen Höllenstrafen überantwortet.“ (Lütkehaus 1999, S.705)
Doch tatsächlich bezieht sich Lütkehaus nicht einfach nur auf historische Daten, sondern er besteht darauf, daß wir es hier mit persönlichen Erfahrungen eines heutigen Zeitgenossen zu tun haben. Denn wer, wie Lütkehaus schreibt, „zu so harschen Urteilen“ über das Christentum gelangt, „wird wohl seine Ursachen, wenn nicht Gründe dafür haben ‒ nur daß eben alles Denken seine Genealogie hat, nicht als Jungfernzeugung eines Heiligen Geistes entsteht, ja gerade aus seiner Genealogie seine Legitimität bezieht: Wovon man sprechen will, darüber muß man eine Erfahrung haben. ... Begriffe ohne Anschauungen bleiben nun einmal leer ‒ wie freilich auch persönliche Anschauungen ohne korrektive Begriffe blind.“ (Lütkehaus 1999, S.33f.)

Gleich zwei philosophische Autoritäten, Wittgenstein und Kant, zieht Lütkehaus heran, um die Dimension der Erfahrung als unverzichtbare Grundlage aller unserer Urteile ins Spiel zu bringen. Hier spricht ein Zeuge; ein Augenzeuge. Womöglich gar ein Opfer.

Dabei kann ruhig offen bleiben, worin genau die Mißbrauchserfahrung von Lütkehaus besteht; ob sie ,nur‛ eine geistig-seelische oder auch eine körperliche Dimension hatte. Wer wie der Autor von „Nichts“, der sich mit einem „Abschied vom Sein“ das „Ende der Angst“ erhofft, in einem engen katholischen Milieu aufgewachsen ist, wird sehr wohl auch dann, wenn er vom priesterlichen Zugriff auf den Körper von Kindern beiderlei Geschlechts verschont geblieben ist, gelernt haben, was es bedeutet, unter ständigem Sündenverdacht zu stehen. Dazu reichte schon ein Blick in den Beichtspiegel, den jedes Kind in seinem Gebetsbuch einsehen konnte, wenn es zur Beichte ging, um daraus zu lernen, was es zu beichten hatte. Denn von sich aus konnte es das ja nicht wissen. Das richtige Sündenbewußtsein mußte ihm erst beigebracht werden.

Wovon kann und will es also nicht lassen, das ,Sein‛, über das sich Lütkehaus beschwert, dabei sehr wohl wissend, wessen Diktion er hier reproduziert? Dieses Sein, das bedauerlicherweise einfach nicht lassen kann von dem, was ist, ist sündhaft, denn was ist, ist schlecht. Es kann nicht lassen von dem, was lebt. Aber alles animalische Leben ist Fleisch (obwohl die christlichen Fastenregeln das anders sehen); und Fleisch ist Begierde, Geilheit, der ewigen Höllenstrafe verfallen. Ja, so ist es: wir selbst sind es, die vom Fleisch, das wir sind, nicht lassen können! Davon ist hier die Rede, von uns, von unserem Fleisch, wenn vom Sein die Rede ist.

Der Mensch, der in seinem Sein ursprünglich gottgleich, Gottes Ebenbild gewesen ist und keine Krankheit, keinen Tod kannte, ist mit seiner Vertreibung aus dem Paradies zu einem Sein minderer Qualität verurteilt worden. Das eigentliche Sein ist von nun an bei Gott, der das mindere Sein gnädigerweise kontinuierlich mit Seinem Sein umfaßt. Die Ebenbildlichkeit des Menschen degeneriert zum Schein. Sie ist nur noch das minderwertige Abbild des göttlichen Originals.

Das ist also der Kern der Mißbrauchserfahrung, die Lütkehaus als tägliche Erfahrung seinem Begriff vom „Nichts“ zugrundelegt. Deshalb kann er vom Sein und vom Nichts, vom Sein als Nicht-Nichts und vom Nicht-Sein des Nichts philosophieren, weil er nämlich diese Anschauung als gelebte Praxis der christlichen Erbsündenlehre vor Augen hat. Als die reinen Abstrakta, die Sein und Nichts für sich genommen sind, als Totalabstraktionen von allem, was das Verhältnis von Mensch und Welt konkret bedeutet, gäbe es weder Grund noch Anlaß, nur einen Tag oder auch nur eine Stunde, geschweige denn ein solches dickes Buch darauf zu verschwenden. Erst der kirchliche Mißbrauch gibt diesen Begriffen Bedeutung.

Auch deshalb unterscheidet Lütkehaus zwischen Nihilismus und Annihilismus. Das Christentum ist nicht einfach nihilistisch. Es annihiliert!

Denn dieses mindere Sein, das der Mensch ist, will trotzig an sich festhalten. Es will seltsamerweise einfach nicht von sich lassen, von sich und seinem Elend. Es zieht die Misere seines Fleisches der Heimkehr ins göttliche Sein vor. Irgendwas stimmt also nicht mit der christlichen Lehre von der Erlösung. Was hat es mit dem falschen Schein einerseits und mit dem wahren Sein andererseits tatsächlich auf sich? Darum soll es in den folgenden Blogposts gehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen