„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Das mindere Sein ist also der Schein, der von der europäischen Metaphysik und der Ontologie des 20. Jhdts. in platonischer und christlicher Tradition gegenüber dem eigentlichen, verborgenen, göttlichen Sein abgewertet wird. Dafür steht insbesondere auch Heideggers „Seinsvergessenheit“. Seit Schopenhauer wird der Scheincharakter der Welt auch mit dem Schleier der Maya aus den Upanishaden gleichgesetzt. Auf den letzten Seiten von Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ (verschiedene Fassungen von 1934-1977) heißt es über Dasa, den Protagonisten des indischen Lebenslaufs, der gerade aus einem langen intensiven Traum über ein mit Gattin, Sohn und Herrscherwürden ausgestattetes Leben erwacht (der Traum endet mit einer Schlacht, in der Dasa Frau und Kind und seine Herrscherwürde verliert und gefangen genommen wird):
„Er hatte weder eine Schlacht noch einen Sohn verloren, er war weder Fürst noch Vater gewesen; wohl aber hatte der Yogin seinen Wunsch erfüllt und ihn über Maya belehrt: Palast und Garten, Bücherei und Vogelzucht, Fürstensorgen und Vaterliebe, Krieg und Eifersucht, Liebe zu Pravati und heftiges Mißtrauen gegen sie, alles war Nichts ‒ nein, nicht Nichts, es war Maya gewesen! Dasa stand erschüttert, es liefen ihm Tränen über die Wangen, in seinen Händen zitterte und schwankte die Schale, die er soeben für den Einsiedler gefüllt hatte, es floß Wasser über den Rand und über seine Füße.“ („Das Glasperlenspiel“, 1996, S.603)
Hier ist der Kern dessen zusammengefaßt, was die Abwertung des Scheins beinhaltet, nämlich die Abwertung aller Begierden einschließlich des Begehrens als eines Nichts, mit dem nicht etwa das Nichts der Versenkung und der Bedürfnislosigkeit gemeint ist, sondern das nichtige Sein.

Nun gibt es aber eine geistige Disziplin, die genau diesen Schein ins Zentrum ihres Denkens stellt: die Phänomenologie. Zwar hatte noch Edmund Husserl in der Nachfolge von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und Kants transzendentaler Vernunftkritik den verschiedenen Erscheinungen ein Wesen zugeschrieben, das sich uns in der Meditation einzelner Phänomene erschließt. Aber der Schein ist hier nicht mehr das Falsche im Widerspruch zum wahren, eigentlichen Wesen dieser Phänomene. Dieser Schein ist vielmehr die Weise, wie sich diese Phänomene einem Bewußtsein ,geben‛. Der Schein ist das Für-sich des Bewußtseins. Aber das An-sich der Phänomene ist offenbar und nicht mehr verborgen. Sie zeigen sich. Der Schein ist die Weise, in der sie sich zeigen.

Ich ziehe es inzwischen vor, auch nicht mehr vom ,Wesen‛ zu sprechen, denn Husserl wollte damit das menschliche Bewußtsein und die damit zusammenhängenden Begierden und Begehrungen einklammern. Er interessierte sich mehr für ein Bewußtsein überhaupt, das über konkrete Bewußtseinsformen wie das des Menschen hinausgeht. Auch darin liegt eine Abwertung, zumindestens in dem Sinne, daß für ihn das menschliche Bewußtsein für eine philosophische Reflexion nicht in Betracht kam. Metaphysik war ihm trotz seines Aufrufs „Zurück zu den Sachen!“ wichtiger.

Lütkehaus ergreift in seinem Buch Partei für ein unschuldiges Nichts, das nichts gemein hat mit einer minderen Seinsform. Dabei geht er so weit, seinerseits jede „Wertlehre“, die höhere Güter gegen geringere Güter abwägt, als bloß „ontomorph“ abzuwerten. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.642) Letztlich aber verweisen Begriffe wie Moral, Mitleid oder Wille (ebenda) immer auch auf konkrete menschliche Bedürfnisse, die berechtigte Ansprüche an unsere Urteilskraft stellen. Wir dürfen sie nicht einfach als ontomorphe Kategorien des Seins abtun, denn sie bestimmen im vielfältigen Motivgefüge des Menschen das Humanum, das für jede substanzielle Menschenfreundschaft unverzichtbar ist. Dieses Humanum hat auch mit einem abstrakten, dem Nichts gegenübergestellten Sein, das genauso abstrakt ist wie dieses Nichts, nicht das geringste zu tun. Mit Moral, Mitleid und Begehren geht es um konkrete Menschlichkeit. Wir befinden uns mit diesen Begriffen auf der subjektiven Ebene des Scheins: der Empfindsamkeit.

Wenn Helmuth Plessner für seine philosophische Anthropologie Nietzsches Begriff der zweiten Naivität in Anspruch nimmt, dann u.a. weil mit ihr der Scheincharakter des menschlichen Weltverhältnisses rehabilitiert wird. Auch Lütkehaus findet im langen Nietzschekapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.274-381) Formulierungen, die auf eine zweite Naivität verweisen, in der das gebrochene menschliche Bewußtsein in ein neues Verhältnis zur Welt eintritt: „Wenn die Wahrheit und zumal diese Wahrheit Verzweiflung, Tod und Vernichtung bedeutet, dann werden allein Kunst, Illusion, Wahn, selbst Lüge ‒ alle Formen des Scheins werden von Nietzsche angesichts der Wahrheits- als Todesdrohung zusammengefaßt ‒ zum Garanten des Lebens. ... Dann muß der ,Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung‛, ja zur ,Unwissenheit, Ungewißheit, Unwahrheit () für ,tiefer und ursprünglicher‛ als der ,Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit‛ gehalten werden ().“ (Lütkehaus 1999, S.314)

Wenn man mal von dem Plädoyer für Unwissenheit absieht, entspricht diese zweite Naivität dem, was ich in Abgrenzung zu Husserl als Phänomenologie der Unwesentlichkeit oder schlichter als unwesentliche Phänomenologie bezeichnen möchte. Plessner sah in dieser Naivität eine positive Möglichkeit des Menschseins, daß wir nämlich im Wissen um die Illusionen diese Illusionen transformieren können. Es geht dann nicht mehr darum, ob sie wahr sind, sondern ob sie Sinn machen.

Lütkehaus bezweifelt hingegen mit seinem Verweis auf Nietzsche, daß man „im Wissen um die Illusionen für die Illusionen sprechen (kann)“. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.316) Ich glaube aber mit Plessner, daß sie uns tatsächlich die Chance bieten, uns mit ihrer Hilfe, im Sinne eben einer zweiten Naivität, uns in einer Welt einzurichten, die ‒ obwohl Bewußtseinskorrelat und deshalb ,für uns‛ ‒ ,an sich‛ nicht länger unsere Heimat ist.

Eine Phänomenologie der Unwesentlichkeit führt den Schein auf ein Subjekt zurück, das um den von ihm selbst produzierten Scheincharakter der Welt, um ihr Für-sich, weiß. Dieses Subjekt wird nicht länger versuchen, auf der Objektseite ein an sich seiendes Wesen ausfindig zu machen. Es wird das Fürs-Bewußtsein-sein der Objekte, ihr Für-sich, als Gabe verstehen, die es ihm erlaubt, in einer fremden Welt sein Leben zu führen.

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