„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 5. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Ich bezeichne mich selbst als einen aufgeklärten Nihilisten. Dabei geht es mir nicht um eine metaphysische Verhältnisbestimmung von Sein und Nichts, ausgehend von der Grundfrage was besser sei, Sein oder Nicht-Sein, sondern ganz im Gegenteil um eine Absage an jede Form von Letztbegründungsversuchen. Letztbegründungen sind Sache der Metaphysik, einer philosophischen Disziplin, mit der ich nie etwas habe anfangen können. Aufgrund der Plessnerschen Verortung des menschlichen Selbstbewußtseins im Nirgendwo, einer Absage an jede letztgültige Identitätsbestimmung des Menschen, sind wir besonders anfällig für ein nicht selten zur Sucht ausartendes Verlangen nach Identität.

Sich dem zu widersetzen impliziert tatsächlich einen gewissen Nihilismus. Deshalb spreche ich von einem aufgeklärten Nihilismus; ,aufgeklärt‛ deswegen, weil es hier um die Überwindung eines irrationalen Sogs unseres Denkens geht. Denn das Denken, das ja eigentlich für Rationalität steht, hat in sich die Tendenz, sich vom Gegenstand abzuwenden, indem es ihn in eine Dialektik überführt, die die ,Sache‛, um die es im phänomenologischen Sinne gehen sollte, auf der Suche nach ihrem letzten ,Grund‛ letztlich in ihr Gegenteil wendet.

Arthur Schopenhauer, dessen Schriften Ludger Lütkehaus neu herausgegeben hat, hat entdeckt, daß die Frage nach dem zureichenden Grund für Alles überhaupt eigentlich nur eine sinnvolle Antwort haben kann: den Willen. Der Wille ist der Grund von allem und selber völlig grundlos. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und „nicht lieber gar nichts“, läßt sich angesichts der Grundlosigkeit des Willens nicht mehr stellen: „Und eben das ist die Antwort.“ (Lütkehaus 1999, S.210)

Damit hat Schopenhauer dem menschlichen Begehrungsvermögen die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihm gebührt. Für das menschliche Bewußtsein gibt es nur Motive, und es sucht sich entsprechend seine Gründe, getreu der Jacototschen Formel: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Ranciére 2007, S.66)

Der Wille des Menschen ist zumindestens teilweise, in Form der physiologisch bedingten Bedürfnisse, ein Naturphänomen. Zu einem anderen Teil entspricht er als Bewußtseinsphänomen, ebenfalls nur teilweise, der Lebenswelt. Beide, Naturphänomene und Lebenswelt, sind auf ihre Gründe hin nicht befragbar. Das Leibnizsche „Prinzip des zureichenden Grundes“, demzufolge sich ohne zureichende Begründung „keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.131), ist auf den Willen nicht anwendbar, weil er Schopenhauer zufolge selbst allem, was ist und geschieht, zugrunde liegt. Und der zureichende Grund ist, was Naturphänomene und Phänomene der menschlichen Lebenswelt betrifft, eine Binse, da alles was in der Natur und in der Lebenswelt geschieht, sowieso immer schon ,begründet‛ ist aufgrund des einfachen Umstands, daß es faktisch da ist und faktisch einfach geschieht. Tatsächlich aber ist diese Faktizität bloße Kontingenz und hat mit einem wohldurchdachten Begründungszusammenhang nichts zu tun.

Daß in der Natur alle natürlichen Dinge gleichermaßen kontingent wie wohlbegründet einfach ,da‛ sind, läßt sich anhand der Evolutionstheorie verdeutlichen. Darwins Evolutionstheorie hatte aus naturwissenschaftlicher Perspektive das Manko, daß sich zwar die evolutionären Prozesse immer gut auf Bedingungen in der Vergangenheit zurückführen lassen, also in diesem Sinne wohlbegründet sind, daß aber Voraussagen über die künftigen evolutionären Schritte unmöglich, diese also letztlich grundlos sind; solange jedenfalls, wie sie noch in der Zukunft liegen. Das wirkt sich auch auf die schon in der Vergangenheit liegenden ,Gründe‛ aus, die man ja kennt. Denn da auch sie, bevor man sie kannte, nicht hatten vorhergesehen werden können, bleiben sie kontingent und die Evolution hätte auch eine andere Richtung nehmen können. Ohne nachprüfbare, weil nicht-kontingente Voraussagen ist die Evolutionstheorie aber keine vollständige, auf Kausalität beruhende Naturwissenschaft.

Evolutionäre Faktoren sind immer nur Anlässe für Entwicklung überhaupt. Andere Antworten auf diese Anlässe wären möglich gewesen. Deshalb hat alles, was faktisch ist, seinen Grund, nur eben keinen zwingenden, und tatsächlich hat alles natürliche Leben sogar unendlich viele Gründe. Alles, was in der Evolution zuvor geschehen ist, hat zum gegenwärtigen Leben in allen seinen Erscheinungsformen geführt. Auf kontingente Weise. Wenn alles in der Natur überdeterminiert ist, ist alles in der Natur kontingent.

Ähnliches gilt für die Lebenswelt. Sie ist, anders als Habermas meinte, nicht der Raum der Gründe, sondern der Raum des Sinns. Ähnlich wie die Welt der alten Griechen voll von Göttern war, ist unsere Lebenswelt voll von Sinn. Sie liefert als unbewußte Dimension des menschlichen Bewußtseins die Motive unseres Handelns, die sich mit unseren biologischen Bedürfnissen so eng verbinden, daß wir nicht in der Lage sind, sie auseinanderzuhalten. Das menschliche Bewußtsein ist durch sein Verhältnis zur Welt bestimmt. Aber zur Lebenswelt haben wir kein bewußtes Verhältnis. Wir können uns zu ihr nicht verhalten. Sie ist für unsere Fragen nach den Gründen und natürlich nach dem letzten Grund oder besser dem Sinn unseres Lebens nicht zugänglich. Deshalb ist sie auch der Raum der Sinnunbedürftigkeit. In der Lebenswelt sind Sinnfragen schlichtweg überflüssig.

Zurück zum Willen. Julius Bahnsen (1830-1881) beschreibt Lütkehaus zufolge den Willen als mit sich selbst entzweit. (Vgl. Lütkehaus, S.264) ‒ Damit spricht er das Problem eines Willens an, der sich gegen sich selbst richtet. Der christliche Begriff der Sünde basiert auf dieser Entzweiung des Willens mit sich selbst. Wenn Lütkehaus in diesem Zusammenhang aber von „eine(r) einzige(n) Mésalliance von Wollen und Nicht-Wollen, Bejahung und Verneinung, Sein und Nicht-Sein, Leben und Nicht-Leben“ spricht (vgl. Lütkehaus 1999, S.264f.), dann gehen diese antithetischen Formulierungen am Phänomen eines in sich gespaltenen Begehrungsvermögens vorbei.

Ich würde eher von einer Mésalliance von Wollen und Gegen-Wollen, Bejahung und Gegen-Bejahung, Sein und Gegen-Sein, Leben und Gegen-Leben sprechen wollen. Wie sonst könnte der Wille mit sich selbst entzweit sein? Dazu bedarf es wiederum eines Willens, eben eines Gegen-Willens. Denn von einem Nicht-Willen kann in der Entzweiung keine Rede sein. Der Nicht-Wille kann ja nicht wollen; nicht einmal verneinen, schon gar nicht ,sich selbst‛. Wenn wir hingegen von einer Mehrzahl von Willensakten ausgehen, die einander widerstreiten, dann kann es durchaus zur Verneinung bestimmter Willensakte durch andere, gegen sie gerichtete Willensakte kommen. Die Entzweiung geht also aus miteinander unvereinbaren Willensakten hervor und nicht aus antithetischen Entgegensetzungen.

Lütkehausens Formulierung läuft auf eine Dialektik von These und Antithese hinaus, in der sich Gegensätze wechselseitig negieren. Wir haben es nicht mit einem vielfältig motivierten Wollen zu tun, sondern mit einem Denken. Das Denken ist immer nur eins. Der Wille aber ist ein ganzer Gefühlshaushalt aus unterschiedlichsten Motiven. Man muß mit ihm haushalten. Nur so hält man es mit ihm aus.

Allerdings kann man durchaus wie Lütkehaus (und Schopenhauer) den Willen auch auf physiologisch bedingte Bedürfnisse zurückführen, wie etwa Hunger und Durst. Hier wollen wir vor allem die Befriedigung unserer Bedürfnisse, also daß der Wille „als Wille erlischt“. (Vgl. Lütkehaus, S.265) Aber daraus ergibt sich kein dialektischer Willensprozeß, der dem Denkprozeß als einem logischen Prozeß auseinander hervorgehender Negationen entspräche. Schon die erste ,Negation‛, also die Befriedigung des Bedürfnisses, beendet den Willen. Es kommt zu keinen weiteren Negationen und Synthesen.

Anders ist das im Gefühlshaushalt. Stets streiten die konkurrierenden Bedürfnisse miteinander um unsere Aufmerksamkeit. Ständig ändert sich der Fokus auf sie, bis sich irgendwann eine Ordnung einstellt, die wichtigere Bedürfnisse von weniger wichtigen Bedürfnissen und Bedürfnisse von Begehrungen scheidet. So entsteht allmählich ein einzelner Wille als eine die anderen Willensregungen dominierende Tendenz. Diese Tendenz entspringt einem Bildungsprozeß, aus dem sich ein individuell gestalteter Gefühlshaushalt ergibt.

Auch dieser Willensprozeß als Bildungsprozeß unterscheidet sich von einem Denkprozeß. Aber das Denken ,dient‛ ihm.

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