„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Lütkehausens Eifer, das menschenfreundliche Potenzial des Nichts als eine Befreiung aus dem Elend des Seins, das er zunächst auf den engeren Begriff des körperlichen Schmerzes und dann mit einem weiteren Horizont auf den Begriff des Leids bringt, darzulegen, mündet in einer undifferenzierten Ablehnung all jener Umstände des menschlichen Lebens, die es trotzdem irgendwie als lebenswert erscheinen lassen. Die Lust, die Liebe bis hin zu als sinnvoll erfahrenen Tätigkeiten der Lebensführung sind für ihn nur Formen der „Nichtsvergessenheit“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.599-758), mit der er sich im kleineren zweiten Teil seines Buches auseinandersetzt. Seiner Ansicht nach täuschen sie darüber hinweg, das alle leider nur allzu kurzen schöneren Momente des Lebens nicht eine einzige Leiderfahrung wert sind:
„Die Singularität eines einzigen Leidens entscheidet angesichts der Gegenmöglichkeit eines völlig leidfreien, um kein Sein und schon gar kein gutes Sein betrogenes Nichts über die verfehlte Schöpfung.“ (Lütkehaus 1999, S.42)
Lütkehaus hält es mit dem „Waldgott Silen“, der auf die Frage, was für den Menschen das Beste wäre, antwortet, daß es das „Allerbeste“ für ihn wäre, „überhaupt ,nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber () ‒ bald zu sterben.“ (Vgl. Lütkehaus 1999, S.285)

Es gibt nur wenige Stellen in dem 758 Seiten starken Buch, die etwas freundlicher über das menschliche Schicksal sprechen, insbesondere in dem Kapitel zu Günter Anders, der der einzige der von Lütkehaus diskutierten Philosophen ist, den er uneingeschränkt anerkennt. Lütkehaus bezeichnet Günter Anders als engagierten „Antinihilisten“, der trotz seiner Einsichten in das nihilistische 20. Jhdt. immer ein „Menschenfreund“ geblieben ist. Von Günter Anders übernimmt er wohlwollend, ja zustimmend Neuformulierungen des kategorischen Imperativs: „Handle so, als ob die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich auch begründet werden könnte.“ (Lütkehaus 1999, S.585) Hier plädiert Lütkehaus also mit Günter Anders für eine humanistische Praxis des Als-ob. Dieses Als-ob entspricht dem, was ich im zweiten Blogpost zum Scheincharakter des Mensch-Weltverhältnisses mit Plessner als zweite Naivität bezeichnet habe. Humanität ist eine Illusion. Aber wir sollten so handeln, als wäre sie keine.

Eine andere Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Der wahre Moralist begnügt sich mit dem Vorletzten, der Wahl des mittleren, limitierten Horizontes zwischen moralischer Beschränktheit und Maßlosigkeit. Er handelt so, als ob Welt und Menschheit unter allen Umständen sein sollten und einen Sinn hätten.“ (Lütkehaus 1999, S.586)

Dieser Imperativ klingt sogar ein wenig nach Hans Jonas und seinem „Prinzip Verantwortung“, das ansonsten bei Lütkehaus nicht so gut wegkommt wie die Anderssche Position. Aber bei Jonas fehlt auch die Als-ob-Haltung. Er argumentiert nicht phänomenologisch, sondern ontologisch.

Jedenfalls macht Andersens Als-ob-Praxis gelebter Menschenfreundschaft deutlich, daß kein Weg von der Totalabstraktion eines, wie Lütkehaus sich ausdrückt, „nichtsigen Nichts“ zur gelebten Praxis der Menschenfreundschaft führt. Eine solche Praxis muß immer unbegründet bleiben, weil sie eben unbegründbar ist. Menschenfreundschaft gibt es nur im Zeichen des Als-ob. Deshalb frage ich mich, woher die Vehemenz kommt, mit der sich Lütkehaus gegen die Bedürfnisse, überhaupt gegen das ganze Begehrungsvermögen des Menschen richtet, zu dem ja auch das Bedürfnis nach Sinn gehört?

Eine Antwort auf diese Frage habe ich schon im ersten Blogpost zu den Mißbrauchserfahrungen gegeben, die Lütkehaus mit der Sündenpraxis des Christentums gemacht hat. Diese Mißbrauchserfahrungen haben bei Lütkehaus zu einer Fixierung auf ein Nichts geführt, das er angesichts der Misere des christlichen Seins als Erlösung empfunden hatte. Aber das Nichts ist nun mal ein leerer Begriff, und, wie Lütkehaus selbst entschieden hervorhebt, solche Begriffe, denen die Anschauung fehlt, sind blind. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.34) Wer sie verwendet, sagt mit ihnen .nichts‛. Und das sagt schon alles.

Im Unterschied zu Günter Anders war Nietzsche kein Menschenfreund. Aber er war ein Lebensfreund und das hielt ihn davon ab, zugleich mit der schlechten Welt auch die Erde zu verwerfen, auf der wir leben.

Aber diese ,Erde‛ wird von Nietzsche zu einem Ganzen überhöht, zu dem die Menschen keinen Bezug haben können, weil sie, wie Lütkehaus Nietzsches Position beschreibt, „totalitätsinkompetent“ seien: „Der Mensch als perspektivisch gebundenes Wesen ist hier prinzipiell unzuständig; er ist totalitätsinkompetent.“ (Lütkehaus 1999, S.330)

Gerade diese perspektivische Beschränktheit müßte aber einer angemessenen Bestimmung des Mensch-Weltverhältnisses zugrundegelegt werden. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Menschen befassen wollen, müssen wir die Frage nach seiner Sinnfähigkeit stellen und von ihr aus dem Vorwurf seiner angeblichen Totalitätsinkompetenz begegnen. Um eine angemessene Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir zugleich klären, was es mit seinem Sinnbedürfnis und überhaupt mit seinem Begehrungsvermögen auf sich hat. Dazu in den folgenden Blogposts mehr.

Mit scheint eine gewisse Bescheidenheit angebracht zu sein, wenn wir uns mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befassen. Jeder Versuch, den Sinn auf einen letzten Grund zurückzuführen oder ‒ was auf dasselbe hinausliefe ‒ ihn auf ein größeres Ganzes zu beziehen, das über die menschliche Lebenszeit hinausgeht, wird letztlich im Nichts münden; nämlich in einer Abstraktion. Und angesichts einer solchen Totalabstraktion erweist sich der Mensch tatsächlich nicht nur als totalitätsinkompetent, sondern eben auch als unfähig, seinem Leben einen Sinn zu geben.

Fragen nach dem Sinn des Ganzen dürfen weder auf einen letzten Grund zurück- noch auch auf einen letzten Zweck vorausführen, sondern müssen sich auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen beschränken. Bei Nietzsche ist das anders. Er führt die „Gränze“ des perspektivischen, spezifisch menschlichen In-der-Welt-Seins nicht auf die begrenzte Lebenszeit zurück, sondern auf das alles Sein umfassende Nichts. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.332) Er klammert den Menschen aus seiner Rechnung aus. Der Mensch ist nur noch das, was überwunden werden muß.

Der Fehler in dieser Rechnung ist, daß sie nicht berücksichtigt, daß auch das menschliche Weltverhältnis für den Menschen ein Ganzes bildet, in dem er sich vorfindet als etwas, das allenfalls seinen Anfang kennt, aber nicht sein Ende, solange er lebt, bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Solange aber der Mensch sein Ende nicht kennt, solange er also lebt, bleibt ihm natürlich das Ganze seines Lebens, seiner Lebensführung, verborgen. Das hat aber nichts mit Inkompetenz zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine anthropologische Grundbedingung der menschlichen Existenz. Das bedeutet wiederum nicht, daß der Mensch der Welt nicht exzentrisch gegenüber stehen könnte. Exzentrizität im Plessnerschen Sinne läuft nicht auf eine Entgrenzung der menschlichen Perspektive auf die Welt hinaus. Sie bedeutet lediglich die Nivellierung der Perspektive; eine Neutralität im Verhältnis zwischen Innen und Außen, der Welt in mir und der Welt mir gegenüber.

Diese exzentrische Position ermöglicht dem Menschen ein Sinnverhältnis. Und zwar nicht zu einem Sinn für das Ganze, denn das kennt er ja nicht. Sondern zu einem Sinn im Rahmen seiner begrenzten Perspektive, also ,für sich‛. Das Für-sich ist die einzige Perspektive, in der die Frage nach dem Sinn Sinn macht und in der sie notwendig ist; lebensnotwendig. So lange wir nämlich leben und so lange wir unser Leben führen.

Der Nihilismus kommt vom Leid und vom Mit-Leid. Jedes, auch das geringste Leid, rechtfertigt das Nichts. Die Lebensbejahung aber kommt vom Sinn. Jeder, auch der geringste Sinn rechtfertigt das Leben.

Nur deshalb, vom Für-sich her, ist der Sinn so grundlegend für das menschliche Leben und für die menschliche Lebensführung. Sinnvolles Leben ist immer gerechtfertigt. Sinn überwindet das Leid. Innerhalb der Grenzen von Geburt und Tod überwindet Sinn auch das Nichts, aus dem wir kommen und in das wir gehen.

Weil der Sinn ein Bewußtseinsbegriff ist, macht es auch keinen ,Sinn‛, ihn auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder ihn mit dem Nichts zu konfrontieren. Der Sinn ist selbst nichts außerhalb des subjektiven Bewußtseins und er ist für sich selbst ein Ganzes. Deshalb ist seine eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben, in unser Bewußtsein hereinbricht.

Die Welt des Menschen ist eine sinnhafte Welt. Sie ist eine Lebenswelt. Es gibt die Lebenswelt nur, weil wir ein subjektives Bewußtsein haben. Und Bewußtsein ist immer subjektiv. Die Lebenswelt ist nicht der Raum der Gründe, wie Habermas meint, sondern der Raum des Sinns; besser: der Raum der Sinnunbedürftigkeit. Sie ermöglicht es, daß wir weiterleben können, ohne nach dem Sinn fragen zu müssen. Sie bewahrt uns davor, daß wir bemerken, wie sinnlos unser Leben möglicherweise ist; nämlich sinnlos ,für mich‛. ,Für die Gesellschaft‛ kann mein Weiterleben durchaus äußerst sinnvoll sein. Sie verbraucht mich, so lange sie mich brauchen kann; so lange, bis ich ,für sie‛ unbrauchbar geworden bin. Aber da die Lebenswelt nichts anderes als subjektives, sowohl individuell wie kollektiv, Bewußtsein ist, ist wiederum die Gesellschaft in dem Moment, wo mein Leben für mich keinen Sinn mehr macht, selber sinnlos und deshalb nichtig.

Hier kann der Nihilismus, der keine Annihilation ist, tatsächlich zu einer Befreiung werden. Wir können in einer Krise aus unserer Lebenswelt herausfallen. Eine solche Krise kann einen neuen Anfang ermöglichen. Denn in dem Moment, wo ich mir der Nichtigkeit meiner Lebensführung bewußt werde, kann ich mich auch neu orientieren. In welche Richtung auch immer.

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