„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Neben der Unterscheidung zwischen einem minderen und einem höheren, eigentlichen Sein gibt es noch die zwischen einem Für-sich-Sein und einem An-sich-Sein, mit der Sartre arbeitet. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.448ff.) Dabei steht das An-sich für die „volle Positivität“ der Wirklichkeit: „Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.“ (Lütkehaus 1999, S.48). Das Für-sich steht hingegen für das Bewußtsein, also für das Subjekt, für das alles Wirkliche fraglich ist: „Das radikal verschiedene Sein des ,Für-sich‛ hingegen, ebenso scharf wie bei Heidegger das ,Dasein‛ von allem anderen Seienden unterschieden, läßt sich hingegen definieren ,als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist‛ (). Es ist ein Sein von gebrochener Identität, stets Abstand haltendes Bewußtsein.“ (Lütkehaus 1999, S.449)

In seinem Sartre-Kapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.432-473) hebt Lütkehaus hervor, daß es vor allem Sartre war, der die Heideggersche Ontologie zu einem Existenzialismus subjektiviert hat, indem er den Fokus vom Sein weg auf eine zentrale Emotion verschob: auf den Ekel. Indem er die Dimension des Für-sich ‒ und gerade der Ekel ist ein höchst intensives Für-sich (Menschen unterscheiden sich u.a. darin von anderen Menschen, wovor sie sich jeweils ekeln) ‒ ins Zentrum stellte, war es nicht mehr das Sein des Seienden, sondern das Bewußt-Sein des Existierenden, um das es von nun an philosophisch ging.

Der Ekel ist der negative Pol unserer Begierden. Wo das Begehren nach Berührung verlangt, nach gegenseitiger Durchdringung und Einverleibung, ist der Ekel durch eine Kontaktaversion gekennzeichnet. Was Allergien für den Körper sind, ist der Ekel für das Bewußtsein. Das ist der Grund, warum Sartre den Menschen vom Ekel her denkt. Dem Ekel der Übersättigung, wenn uns alles zu viel wird. Zu viel Welt, zu viel Menschen, zu viel Sex, zu viel Reichtum ‒ es gibt eigentlich nichts, vor dem wir uns nicht ekeln könnten, wenn es uns über alles Maß hinaus bedrängt und es uns zum Ersticken zu eng wird.

Lütkehaus ist das alles zu subjektiv, vor allem was die erotischen Implikationen des Ekels betrifft. Er wirft Sartre eine „geradezu leidenschaftliche Seinsbegierde“ vor und mokiert sich über die erotischen „Paarmetaphern“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.471), deren sich Sartre bedient, über ihre mal süßlich-eklige, mal wieder vom Ekel freie erotische Dimension (vgl. Lütkehaus 1999, S.440, 445, 473). Damit wird er aber dem subjektiven Charakter eines Bewußtseins nicht gerecht, das in einer ambivalent empfundenen Welt ,existiert‛.

Sartre universalisiert also das Ekelgefühl zu einem umfassenden Weltverhältnis. Es richtet sich gegen die gleichermaßen aufdringliche wie kontingente Übermacht des Faktischen, des An-sich, das dem menschlichen Bewußtsein, so Sartre, zu viel wird. Lütkehaus schreibt: „Das ,Bewußtsein‛ drückt das mit ,anthropomorphen Begriffen‛ in der Sprache des ,Ekels‛ so aus, daß es ,zu viel‛ sei.“ (Lütkehaus 1999, S.448)

Zu viel also der Positivität im An-sich-sein aller Dinge. Das Für-sich des menschlichen Bewußtseins kann diese von ihm unabhängige Positivität nur negieren. Gleichzeitig aber kann es sich selbst nicht positivieren. Es negiert alles, aber es selbst wird für sich dadurch nicht zu etwas Positivem. Auch in diesem Unvermögen dem Positiven gegenüber wurzelt der Ekel.

Zugleich aber wurzelt darin auch unsere Freiheit, insofern der Ekel für das Bewußtsein einen Raum schafft, in dem es Abstand zu den Dingen in ihrem An-sich halten kann. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.452) Letztlich erfüllt der Ekel bei Sartre eine ähnliche Funktion für das Bewußtsein, wie sie bei Plessner das scheiternde Begehren innehat. Weckt bei Plessner allererst das unbefriedigte Begehren ein Bewußtsein unserer selbst, so schafft bei Sartre der Ekel einen Freiraum, einen Spielraum, in dem sich dieses Selbst entfalten und zur Welt auf Distanz gehen kann.

Aber ähnlich wie das mindere Sein des falschen Scheins bei den Ontologen steht das Bewußtsein bei den Vertretern der Kritischen Theorie in Verruf. Für die Kritische Theorie ist „Bewußtseinsphilosophie“ ein Schimpfwort. Für sie hat der Mensch ein Gesellschaftswesen zu sein. Ich halte dagegen, daß die Philosophie entweder Bewußtseinsphilosophie ist oder sie ist keine Philosophie.

Wenn wir uns dem Bewußtsein zuwenden, müssen wir uns mit diesem Für-sich, wie es im Ekel zum Ausdruck kommt, auseinandersetzen. Es macht keinen ,Sinn‛, das Bewußtsein auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder es mit dem Nichts zu konfrontieren. Im Positiven wie im Negativen ist beides zu viel. Der Sinn unseres Lebens, unserer Lebensführung (Existenz), ist für sich selbst ein Ganzes. Er macht, daß sich Bruchstücke, Episoden in ihm zusammenfügen. Was getrennt zu sein schien, wird durch ihn als Zusammenhang empfunden. Er ist immer auf die eine oder andere Weise, individuell oder kollektiv, subjektiv.

Deshalb ist unsere eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben und in unser Bewußtsein hereinbricht.

Davor schützt die Lebenswelt. Für die Kritischen Theoretiker: die Lebenswelt ist mehr oder weniger das, was ihr Gesellschaft nennt. Aber sie ist durch und durch ein Bewußtseinsbegriff. In den folgenden Blogposts soll es deshalb vor allem um die Sinnfrage gehen; auch dies wieder in einer Gegenwendung zu Lütkehausens Position.

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