„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Eine Bemerkung von Lütkehaus über Eduard Hartmann hat das Potenzial, meine Formel Ich = Du zu dekonstruieren. Tatsächlich steht mir immer das Geschlechterverhältnis (Begehren) als Modell für diese Formel vor Augen. Hartmann entlarvt das Gleichheitszeichen als eine phallozentrische Rollenverteilung, in der ein männlicher Wille (Begehren) nach einer „Lebensgefährtin“ sucht, die „ihm scheinbar zu Willen“ ist, ihn aber „in der Folge nur zu seinem eigenen Besten ... mit ihren indirekten Mitteln zum Nullpunkt des Nichts“ zurückführt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.235)

Zum Nullpunkt des Nichts also. Keine besonders beneidenswerte Rollenzuschreibung für das weibliche Geschlecht. Von womöglich noch peinlicheren Entgleisungen weiß Lütkehaus über Jean-Paul Sartre zu berichten: „Wie sehr die erotischen, die Paar-Metaphern dabei wörtlich zu nehmen sind, zeigt Sartres ,existentielle Psychoanalyse‛. Die stupende Hommage an das ,Loch‛, die sie anstimmt, meint nicht etwa eine metaphysische Obszönität, sondern eine erotische Ontologie, eine ,Ontoerotik‛ als neueste Metamorphose der ,Ontotheologie‛.“ (Lütkehaus 1999, S.471)

Ich will Lütkehausens weitere Entfaltung der ontoerotischen Dimension des Lochs an dieser Stelle nicht weiter fortsetzen. Begriffe wie Kluft und Lücke, und letztlich Plessners „Hiatus“ würden sich in pure Pornographie verwandeln, also eben doch in eine metaphysische Obszönität. Ich könnte mich in diesem Blog nicht mehr, ohne rot zu werden, über die exzentrische Positionalität des Menschen äußern. Letztlich würde sich sogar das Gleichheitszeichen zwischen Ich und Du als eine ontoerotische „Mésalliance“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.236) erweisen.

Ich werde jetzt also versuchen, meine Formel vor einer solchen Dekonstruktion zu bewahren. Wenn ich das Gleichheitszeichen verwende, denke ich an eine Gleichheit auf der Basis von Verschiedenheit, aber eben nicht im Sinne einer Rollenverteilung. Und ich will sie auch nicht auf Heterosexualität beschränken. Mit der über das Gleichheitszeichen vermittelten Gegenüberstellung von Ich und Du soll vielmehr eine Wechselseitigkeit von Bedürfnissen und gleichzeitig eine Sinnorientierung zum Ausdruck gebracht werden.

Die Formel Ich = Du richtet den Willen nicht nur aus (und stabilisiert ihn), sie individualisiert ihn auch im Sinne eines Bildungsprozesses. Die ruhelose, biologisch produzierte und reproduzierte, generierte und regenerierte Begierde als allgemeines Lebensprinzip bezieht sich im Gleichheitszeichen nicht einfach nur auf ein adäquates Objekt der Befriedigung, sondern vereinzigartigt sich angesichts eines konkreten Du zum Ich. Wenn Lütkehaus schreibt: Der Wille will die Welt, wie sie ist, und sie ist, wie er sie will, weil sie seine ,Sichtbarkeit‛ ist.“ (Lütkehaus 1999, S.211) ‒ dann heißt das gemäß meiner Formel: „Das Begehren will das Du, wie es ist, und es ist, wie es ist, weil es seine wechselseitige Konkretion als Ich ist.

Das ist aber keine Identitätsaussage. Die Konkretion eines Ich ist das Du nur in der Wechselseitigkeit, die wiederum die Verschiedenheit von Ich und Du voraussetzt. Mit anderen Worten: unser Begehren individualisiert sich als etwas Gemeinsames in zweierlei (oder verschiedener) Gestalt. In meinem Blog spreche ich hier immer von Zweitpersonalität oder von Dualität als einer spezifischen Sozialform.

Das muß so sein, weil wir es beim Ich und Du mit Individuen zu tun haben, die ihr Leben fristen. Und sie fristen ihr Leben nur so lange, wie sie ihre Individualität behaupten. Der Tod, der Akt des Sterbens, ist die Auflösung aller Individualität; er ist die Auflösung der individuellen Gestalt. Für diese befristete Individualität, die das menschliche Leben ist, muß ein Sinn gefunden werden. Eine Antwort auf ihr Begehren. Die einzige humane Antwort auf das Begehren, solange das menschliche Leben währt, ist aber das Du.

Indem Schopenhauer die Welt zum Sündenfall des Willens erklärt (vgl. Lütkehaus 1999, S.211f.), verfehlt er das Du und die Wechselseitigkeit des Begehrens. Alles Faktische einschließlich unseres Begehrungsvermögens wird zum Unglück. Mit Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das Unglück, das Leid, der Schmerz sollen aber nicht sein. Der Wille, letztlich der Lebenswille, muß zum Schweigen gebracht werden. Das Ergebnis ist Annihilation, individueller und kollektiver Selbstmord. Die atomare Katastrophe bekommt einen ethischen Zweck.

Soweit geht Schopenhauer natürlich nicht, abgesehen davon, daß er von der realen Verwirklichung solcher Gedankenexperimente im 20. Jhdt. noch nichts hatte wissen können. Immerhin ist es die logische Konsequenz. Aber auch das Ich = Du käme für Schopenhauer nicht in Frage, weil es, anstatt den Willen ruhigzustellen, ihm eine Richtung gibt und ihn so verstetigt. Schopenhauers Option ist die „Interesselosigkeit“, seine Wahl die Askese. Es geht ihm nur um eine solipsistische Variante der Erlösung.

Aber Schopenhauer kannte und schätzte auch das Mitleid. Und was wäre denn Mitleid anderes als eine Form des Ich = Du? Was mich daran wieder besonders interessiert: richtet das (Mit˗)Leiden unseren Willen auf ein Du aus und tritt so, summarisch als Leiden gefaßt, an die Stelle des Gleichheitszeichens von Ich = Du, für das ich bislang das Begehren vorgesehen hatte? Meint das Gleichheitszeichen die Gleichheit des Begehrens (als Wechselseitigkeit) oder die Gleichheit des Mit-Leidens?

Ich glaube, das Gleichheitszeichen könnte für beides stehen. Lütkehaus hebt vor allem die Dimension des Leidens, das nicht sein soll, hervor, wenn er Nietzsche zitiert: „Ja, gesetzt, das Mitleiden ,herrschte auch nur Einen Tag‛ ‒ so noch die Angstphantasie des von Schopenhauer abgefallenen Nietzsche ‒, ,so gienge die Menschheit an ihm sofort zugrunde‛ ().“ (Lütkehaus 1999, S.291f.)

Hier dominiert die Unerträglichkeit eines Mitleids, die von vornherein ausschließen würde, daß es zu einer Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Ich und Du auch nur ansatzweise kommen könnte. Besser wäre es, sich nicht zu nahe zu kommen, denn das würde nur das potenzielle Leid qua Mitleid mindestens verdoppeln! Eine die Menschheit einbeziehende Formel würde hier also lauten: (Ich = Du) ≠ Menschheit. Eine Abschreckungsformel also. Laß dich bloß nicht auf diese Beziehung zwischen dir und der bzw. dem anderen ein!

Meine Option geht in die entgegengesetzte Richtung. Für mich ist die Wechselseitigkeit der Zweitpersonalität der Ausgangspunkt für eine humane Menschlichkeit. Also: (Ich = Du) = Menschheit.

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