„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. Dezember 2019

„Gib mir Musik“

Ich habe bisher immer den Standpunkt vertreten, daß Mathematik keine Sprache ist, weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind. Echte Sprache ist niemals eineindeutig definiert. Es gibt immer eine Differenz zwischen Meinen und Sagen. Diese Differenz ist der Sprache so wesentlich, daß ihre Zeichen aus dieser Differenz heraus Bedeutung gewinnen. Und gerade weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind, sind sie bedeutungslos.

Jetzt habe ich mir mal wieder von Reinhard Mey „Gib mir Musik“ angehört, und da gibt es diese wunderbaren, leicht variierten Refrains:
„Gib mir Musik, um mir ein Feuer anzuzünden,
Um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
Meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.
Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik!“
Es sind die dunklen Tiefen der Seele, die sich dem gesprochenen Wort entziehen. Die Sprache erreicht sie nicht, sie transportiert sie nicht wie eine Informationsmaschine, die Informationen transportiert. Aber durch Musik werden wir in diesen Tiefen unmittelbar berührt, ohne daß unsere Seele an dieser Berührung Schaden nimmt. Kann die Musik also, wie manche Mathematiker glauben, ein mathematisches System mit eineindeutig definierten Zeichen sein?

Allerdings gibt es ein schönes Gegenstatement von Adrian Leverkühn, dem Protagonisten in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo Leverkühn mit Verweis auf Beethoven die Nähe zwischen Musik und Wortsprache behauptet:
„‚Was schreibt er (Beethoven) da in sein Tagebuch?‘ habe es geheißen. ‚Er komponiert.‘ – ‚Aber er schreibt Worte, nicht Noten.‘ – Ja das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. – Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan.“ (Dr. Faustus, S.218)
Demnach wäre die Musik wie die Sprache in erster Linie expressiv und kein mathematisches System, und Leverkühn/Beethovens musikalische Auffassung von Sprache unterstützt Plessners Begriff der Expressivität.

Wie auch immer: mit der Behauptung, Mathematik sei Sprache, wird eine Differenz unterschlagen: Mathematik schließt mit ihren eineindeutigen Zeichen Bedeutung aus. Musik ist mehr als ein Notationssystem. Ihre scheinbare Bedeutungsleere ist eine Einladung an den Hörer, die Hörerin, zu hören, was sie empfinden. Es sind die Hörer, die die Musik mit Bedeutung erfüllen. Deshalb ist Musik anders als die Mathematik nicht keine Sprache, sondern mehr als Sprache.

Es gibt also nicht nur ein vorsprachliches Bewußtsein, ‚prälingual‘, sondern auch ein übersprachliches Bewußtsein: translingual.

Download

Freitag, 13. Dezember 2019

Freiheitsverluste

In zunehmendem Maße geht seit einiger Zeit dem Gewinn von neuen Freiheitsgraden durch die Entwicklung und Einführung neuer Technologien ein fundamentaler Freiheitsverlust voraus: das, was man vorher selbst geleistet hatte, jetzt nur noch mit Hilfe von Maschinen tun zu können.

Ich habe gestern eine Petition zur Gewährleistung eines „Rechts auf ein Offline-Leben“ (Nr. 103875) beim deutschen Bundestag eingereicht. Sobald sie von der Bundestagsverwaltung geprüft, angenommen und online gestellt worden ist, kann sie von jedem Interessierten mitgezeichnet werden.

Petition in der Mitzeichnungsfrist

Die Petition ist jetzt online erreichbar und kann bis zum 03.02.2020 mitgezeichnet werden.


PS (06.01.2021):
Heute erhalte ich einen Brief vom Petitionsausschuß vom 11.12.2020, in dem mir mitgeteilt wird, daß das Petitionsverfahren (Pet 1-19-06-2005-027804) abgeschlossen sei, mit dem Ergebnis, daß „dem Anliegen entsprochen worden ist“.

Zum Anliegen der Petition führt der Petitionsausschuß aus: „Mit der Petition wird ein Gesetz gefordert, dass das Führen eines Offline-Lebens hinsichtlich der Kommunikation mit Behörden gewährleistet. Zu dieser Thematik liegen dem Petitionsausschuss eine auf der Internetseite des Deutschen Bundestages veröffentlichte Eingabe mit 3526 Mitzeichnungen und 84 Diskussionsbeiträgen sowie weitere Eingaben mit verwandter Zielsetzung vor, die wegen des Sachzusammenhangs einer gemeinsamen parlamentarischen Behandlung zugeführt werden. ... Zur Begründung des Anliegens wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Recht auf Führen eines Offline-Lebens aus dem Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) abzuleiten sei. Aus diesem Grundrecht folge auch das ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘, das durch das alle Lebensbereiche umfassende Digitalisierungsprojekt der Bundesregierung verletzt werde. Das ‚Recht auf ein Offline-Leben‘ beinhalte, dass die gesellschaftliche Infrastruktur nicht vollständig digitalisiert werde, sondern Strukturen zur Verfügung stelle, die Verwaltungsakte, Eingaben, Steuererkärungen etc. nach wie vor auf Papiergrundlage ermöglichten. Es gehe also um die Verhinderung des vollständigen Rückbaus von Offline-Infrastrukturen.“

Zur Begründung, inwiefern dem Anliegen des Petenten schon entsprochen worden sei, verweist der Petitionsausschuß auf die Broschüre „Digitalisierung gestalten - Umsetzungsstrategie der Bundesregierung“:


Desweiteren führt der Petitionsausschuß aus: „Bei den elektronischen Informations-, Kommunikations- und Transaktionsangeboten der Verwaltung für Bürgerinnen und Bürger wird eine Multikanalstrategie verfolgt. Neben neuen digitalen Zugängen werden weiterhin auch die etablierten Zugänge (insbesondere persönliche Vorsprache, Telefon, Telefax oder Schreiben) angeboten. Ferner stellt der Ausschuss fest, dass auch im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) keine Begrenzung auf bestimmte Kommunikationsarten zwischen Bürger und Verwaltung erfolgt. Die Nutzung der elektronischen Kommunikations ist freiwillig.“

So weit so gut. Aber entspricht das auch der Realität? Meines Wissens gibt es zumindestens einige Finanzämter, die den Bürgerinnen und Bürgern keineswegs die Wahl lassen, ihre Steuererklärung auf Papier abzugeben, und die sie auf die elektronische Steuererklärung verpflichten. Zumindestens aber scheint es auf der Grundlage dieses Briefes möglich zu sein, dagegen Widerspruch einzulegen.

PPS (17.04.2021)

Mittwoch, 4. Dezember 2019

Johann Baptist Metz

Letzten Montag starb Johann Baptist Metz. Ich hatte bei ihm einen Teil meines Philosophierigorosums, für das er mich, von Tiemo Rainer Peters herkommend, annahm.

Ich erlebte Metz als freundlich und zugewandt. Seine Definition von Religion als Unterbrechung prägt mich bis heute, wo ich diese ‚Unterbrechung‘ vor allem als Auf-Brechen von lebensweltlichen Verstrickungen verstehe. Letztlich aber führte mich mein Theologiestudium zur Ab-Brechung meiner Kirchenzugehörigkeit: ich trat aus.

Aber ich trat aus, ohne der Kirche meinen Rücken zuzuwenden. Bis heute verstehe ich nicht, wie ein einfacher bürokratischer Akt – das Nichtzahlen der Kirchensteuer – einen Kirchenaustritt bedeuten kann. Die Taufe ist ein Sakrament. Was hat die Kirchensteuer damit zu tun?

Der Glaube hat für mich längst nicht mehr die Form eines Bekenntnisses, sondern die Form einer Erinnerung; mit Metz gesprochen: ich vermisse ihn. Und in der Form dieses Vermissens glaube ich.

Metz ist also gestorben. Es gibt verschiedene Formen des Todes. Eine davon ist, daß niemand mehr an uns denkt. Diesen Tod ist Metz nicht gestorben. Noch lange nicht.

Sonntag, 1. Dezember 2019

Cogito und Blick

Vor vielen, sehr vielen Jahren hatte ich bei Kant gelesen, daß das „Ich denke“ alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß, damit sie unsere, also je meine Erfahrungen und Wahrnehmungen sein können. Bei Descartes hatte ich gelesen, daß wir alles anzweifeln können, nur nicht, daß wir denken; und daß darin unsere Seinsgewißheit besteht. Erst spät, eigentlich erst vor knapp anderthalb Jahren, habe ich begriffen, daß Kants „Ich denke“, also die transzendentale Apperzeption, eine Variation oder auch eine Interpretation der Kartesianischen Formel „cogito ergo sum“ bildet.

Darüber hinaus glaube ich inzwischen, daß Plessners Definition der Seele als „noli me tangere“ eine Weiterentwicklung des Kantischen und des Kartesianischen ‚cogito‘ bildet. Denn das ‚Ich denke‘ bildet eine Abspaltung von und eine Hinzufügung zu den Erfahrungen und Wahrnehmungen, die es begleitet bzw. begleiten können muß. Und als diese Verdopplung des ‚Ich‘, als denkendes und als wahrnehmendes Ich, wird es zwiespältig. Es schillert zwischen dem einen und anderen hin und her und läßt sich nicht in eine Identität überführen. Es ist gleichzeitig ein subjektives und ein objektives Ich.

Genau das bringt Plessner in dem „noli me tangere“ auf den Punkt. Indem die Seele sich gleichzeitig zeigen und verbergen will, kommt darin die Zwiespältigkeit des ‚Ich denke‘ der transzendentalen Apperzeption zum Ausdruck. Wer die Seele dingfest machen will, zwingt sie zur Flucht und gerät in eine Aufholjagd ohne Ende: regressus ad infinitum.

Dieser Regreß hat die logische Form eines sich selbst denkenden Denkens, also eines Denkens, das unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht länger begleitet. Aber das ist ein logischer Irrtum. Man läuft weder dem Denken noch der Seele hinterher, sondern ins Leere. Seele gibt es nur als Expression, und das Denken gibt es nur als Apperzeption, als Begleitung unserer Wahrnehmungen oder gar nicht.

Eine weitere Variation des Kantischen cogito, also der Apperzeption, habe ich in einem Text von Charlotte Bretschneider (2015) gefunden, den ich auch in diesem Blog besprochen habe. In diesem Text geht es darum, daß Montaigne den Menschen als aus losen, im Wind flatternden Fetzen bestehend beschreibt, die sich zu keiner Einheit bündeln lassen. Es ist lediglich der jeweilige Blick auf sich selbst, der diese flatternden Fetzen für einen kurzen Moment zu einem Individuum zusammenfügt. Schon beim nächsten Blick aber sieht alles wieder ganz anders aus.

Dieser individualisierende Blick auf sich selbst ist nichts anderes als Kants „Ich denke“, das alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß. Und weder in Kants ‚cogito‘ noch in Montaignes Blick auf sich selbst gibt es einen Altersunterschied, so daß wir immer, als wie verschieden wir uns auch immer erleben mögen, ein- und derselbe bleiben.

Helmuth Plessner wendet sich übrigens gegen eine bestimmte Form des Anticartesianismus, die das ‚cogito‘ als fehlgeleiteten Idealismus verwirft, weil sie dieses cogito mit Descartes’ tatsächlich problematischer dualistischer Spaltung des Menschen in Geist und Körper, res cogitans und res extensa, verwechselt. Tatsächlich handelt es sich bei Kants transzendentaler Apperzeption um den Versuch, die Trennung zwischen dem ‚subjektiven‘ (denkenden) Ich und dem ‚objektiven‘ (wahrnehmenden) Ich zu überwinden. Der von Plessner monierte Anticartesianismus aber versucht sich Plessner zufolge der komplexen Leib-Seeleproblematik zu entziehen und sich „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzuziehen. (Vgl. Plessner, „Lachen und Weinen“ (1950/1941), S.39) Eine solche simplifizierende Vereinfachung bildet auch Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“. (Vgl. meine Posts vom 01.11. und 02.11.2019)

Download

Samstag, 2. November 2019

Stimmungen und Atmosphären

Stimmungen und Atmosphären sind von konkreten Intentionen weitgehend unabhängig. Was das betrifft, stimme ich Hermann Schmitz zu. Allerdings heißt das nicht, daß Intentionalität keine Bedeutung hat und daß es so etwas wie ein Bewußtsein nicht gibt. Genau das, also daß es Bewußtsein nicht gibt, behauptet Hermann Schmitz. Es ist aber vielmehr so, daß Stimmungen und Atmosphären bestimmte Intentionen (auf andere Menschen gerichtete Erwartungen und Verhaltensdispositionen) und mit ihnen Intentionalitätsstrukturen (soziale Praktiken und gesellschaftliche Institutionen) mehr unterstützen als andere. Es gibt eine zumindest einseitig bedingende Abhängigkeit, also des Bewußtseins von Stimmungen und Atmosphären. Tatsächlich ist es aber noch etwas komplizierter.

Abhängigkeiten konkreter Intentionalität von Stimmungen und Atmosphären: vor fünfzig Jahren in Woodstock bewirkte die Atmosphäre des dreitägigen Events eine friedliche und liebevolle Zugewandtheit bei den Teilnehmern. Die Anwohner der nahegelegenen Ortschaften waren hingerissen von dem respektvollen und höflichen Verhalten und dem Charme der Hippies und ‚Freaks‘. Heute: bei Aufmärschen von Pegida und Identitären ist ein anderes Verhalten üblich. Deren Atmosphären unterstützen Gewalttätigkeit, Haß und Mißtrauen gegenüber anderen Menschen.

Bei Stellenausschreibungen werden oft atmosphärische Qualitäten abgefragt: Erfolgsorientierung und Flexibilität beispielsweise. Und auf ‚Firmenkultur‘, also wiederum Atmosphäre, wird vor allem deshalb wertgelegt, weil sonst die konkrete Intentionalitätsstruktur der Firma – also ihre Produktivität (Autos, Smartphones, Altenpflege etc.) – nicht effektiv realisiert werden könnte.

Aber konkrete Intentionen und ihre sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen, also die konkrete Intentionalität (erkennen und befriedigen von Bedürfnissen), gehen mit einem Bewußtsein einher, das sich deutlich von vagen Stimmungen und Atmosphären unterscheidet. Letztere unterstützen dieses Bewußtsein, das sich zu einem Selbstbewußtsein entwickeln will, nicht, sondern behindern es. Zwar unterstützen Stimmungen und Atmosphären generell zu ihnen passende Bewußtseinsakte, also auch konkrete Intentionalität mit ihrer reflexiven Komponente, aber nur unterhalb der Bewußtseinsschwelle.

Stimmungen und Atmosphären decken sich weitgehend mit dem, was Blumenberg „Lebenswelt“ nennt. Und diese Lebenswelt fungiert ausschließlich unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Das hat einige Neurowissenschaftler zu der Annahme verleitet, daß es so etwas wie einen freien Willen, also wiederum ein Selbstbewußtsein, nicht gibt. In dieser Hinsicht befinden sie sich auf einer Linie mit Hermann Schmitz.

Aber obwohl diese unterbewußten Prozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und es sogar behindern, ermöglichen sie es auch. Denn ohne diese teils psychosozialen, teils physiologischen Prozesse könnte es seine Aufmerksamkeit nicht anderen Dingen in der Welt zuwenden. Es ist das Unterbewußtsein, das das Bewußtsein für die Welt freistellt.

Die Grenze zwischen beidem, zwischen Lebenswelt und Physiologie einerseits und dem Bewußtsein andererseits, ist allerdings beweglich, und beide Seiten kämpfen darum, sie zu ihren Gunsten zu verschieben. Früher, vor den PISA-Studien, nannte man das mal Bildung, nämlich die Erhöhung der Freiheitsgrade von Individuen im Laufe ihres Lebens. Man könnte auch von ‚Seele‘ sprechen, denn die unterbewußten Prozesse, Stimmungen und Atmosphären wollen sich ‚ausdrücken‘ (Expressivität), also zu Bewußtsein kommen; sie können sich aber im Bewußtsein nicht halten und sinken wieder unter die Schwelle zurück.

Das Bewußtsein mit seiner reflexiven Komponente ist atmosphärischen Prozessen nicht zuträglich. Diese behindern also nicht nur das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein behindert auch sie. Letztlich kann man also festhalten: wenn Stimmungen und Atmosphären bestimmte Bewußtseinsakte (konkrete Intentionalität) unterstützen (oder behindern) – soziale Zuwendung, Hilfsbereitschaft, Zweitpersonalität in Woodstock; Haß, Menschenverachtung, Gruppenidentität auf Pegidaveranstaltungen –, dann unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Umgekehrt unterstützt (oder behindert) ein ausgebildetes Selbstbewußtsein unterschwellige Stimmungen und Atmosphären nur oberhalb der Bewußtseinsschwelle, nämlich in Form von Bildung. Beide Bewußtseinsebenen begegnen und formen sich gegenseitig auf der Ebene von Meditationen, sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen.

Noch ein Letztes: Toni Morrison bezeichnet in ihrem Essayband „Die Herkunft der Anderen“ (2018/2017) die Globalisierung als eine „Verwischung von Drinnen und Draußen“; und zwar auf drei Ebenen: der politischen, der metaphorischen und der psychologischen. (Vgl. Morrison 2017, S.95f.) So gesehen ist Schmitzens „Neue Phänomenologie“ mit ihrer Ersetzung der Innenwelt durch Atmosphäre eine Globalisierungsideologie.

Download

Freitag, 1. November 2019

„Neue Phänomenologie“

Als ich vor etwas mehr als einem Jahr Svenja Flaßpöhlers „Die potente Frau“ (2018) las (vgl. meine Rezension vom 01.09. bis 03.09.2018), stieß ich dort nach meiner damaligen Meinung zum ersten Mal auf den Begriff der Neuen Phänomenologie und konnte nicht viel damit anfangen. Inzwischen bin ich in meinem eigenen Bücherregal auf zwei Bücher von Hermann Schmitz gestoßen: auf „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ (1998) und auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007/1990). Als ich in die Bücher reinschaute, stieß ich dort wieder auf den genannten Begriff und mußte vor mir selbst gestehen, daß ich ihn schon gekannt, aber dann vollständig wieder vergessen hatte.

In beiden Büchern befinden sich Unterstreichungen und Randbemerkungen, aber beide Bücher habe ich nicht vollständig gelesen. „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ hatte ich vor ca. 20 Jahren angefangen zu lesen, wie gesagt nur auszugsweise. Obwohl es thematisch voll auf meiner Denklinie liegt, hatte ich mit dem Buch nichts anfangen können. Sonst hätte ich diesen Lektüreversuch wohl auch kaum so vollständig vergessen, wie übrigens auch den von „Der unerschöpfliche Gegenstand“, worin ich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal gelesen hatte und dann am Ontologiekapitel gescheitert war.

Viele Philosophen, die ihre Ideen ausdrücken und sich dabei möglichst verständlich ausdrücken wollen, entwickeln einen eigenen unverwechselbaren Sprachstil. Wenn man sich als Leser in diesen Sprachstil einarbeitet, bereitet es keine Mühe mehr, zu verstehen, was der Philosoph einem mitteilen will. Andere Philosophen wiederum entwickeln einen eigenen Sprachstil und kümmern sich dabei nicht darum, ob irgendjemand sie versteht. Typische Vertreter dieser Spezies sind die Poststrukturalisten. Sie bilden eine regelrechte Schule der Unverständlichkeit. Zu diesen Philosophen, also nicht zu den Poststrukturalisten, aber zu den gestelzt Unverständlichen, gehört auch Hermann Schmitz. Übrigens ist es interessant, wie Hartmut Rosa in „Resonanz“ (2018) mit Hermann Schmitz umgeht. Er bezieht sich zwar einige Male auf ihn, bleibt dabei aber sehr allgemein. Wenn es um Details der Schmitzschen Neuen Phänomenologie geht, bezieht sich Rosa nicht direkt auf Schmitz, sondern auf den Psychiater Thomas Fuchs, der ihm als Vermittler dient. Mit anderen Worten: Rosa hat Schmitz wohl auch nicht verstanden.

Zu den Philosophen, die sich nicht verständlich ausdrücken (können oder wollen), gehört also auch Hermann Schmitz, obwohl er kein Poststrukturalist, sondern ein Phänomenologe ist. Allerdings haben die Phänomenologen ihre eigenen Esoteriker: allen voran Edmund Husserl; also jetzt insbesondere der Husserl der Wesensanschauungsphänomenologie, nicht der Intersubjektivitäts- und Lebenswelttheoretiker. Und auch Hans Blumenberg hat seine unverständlichen Momente, in denen er sich eines von Husserl geprägten phänomenologischen Jargons bedient, der den darin nicht eingeweihten Leser außen vor läßt.

Jetzt habe ich jedenfalls vor, meine damaligen unvollständig gebliebenen Lektüren nachzuholen, um doch noch so etwas wie eine Rezension zustandezubringen. Dabei werde ich mich vor allem auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007) und auf den von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch herausgegebenen Sammelband „Leib und Gefühl“ (2/1992) konzentrieren, der einige leichter verständliche Texte von Schmitz enthält. Aber auch hier werde ich wieder nur auszugsweise vorgehen, indem ich mich auf das Thema ‚Seele‘ und ‚Introjektion‘ beschränke. Letztlich handelt es sich mit diesem Blogpost nicht um eine gründliche Rezension, sondern um eine Meinungsäußerung, die ich aber gerne zur Diskussion stellen möchte.

Gleich auf den ersten Seiten von „Der unerschöpfliche Gegenstand“ wird klar, daß Schmitz die Seele, ganz anders als Plessner, als bloße „Innenwelthypothese“ in Frage stellt. (Vgl. Schmitz 2007, S.17ff.) Schmitz bezeichnet die Seele als ein „alle Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Impulse, Entschlüsse usw. eines Menschen umfassende(s) Sammelbecken()“, und führt sie im wesentlichen auf zwei Bedürfnisse zurück: auf das „Bedürfnis nach Zentrierung“, was Schmidt zufolge zu der „widerspruchsvollen Doppelansicht der Seele als Subjekt und Rahmen des Erlebens, Herr im Haus und Haus, worin jener Herr ist“, führt (vgl. Schmitz 2007, S.18); und auf das Bedürfnis, „die Welt möglichst weitgehend so zu vergegenständlichen, daß man sich dabei an nur wenige, intermomentan und intersubjektiv gut identifizierbare Merkmale ... zu halten braucht“, womit die sogenannten primären Qualitäten des Raums, der Zeit und der Quantität gemeint sind, während die ‚sekundären‘ Qualitäten der ‚Seele‘, also alle weiter oben aufgezählten subjektiven Empfindungen, vorbehalten bleiben (vgl. ebenda).

An anderer Stelle spricht Schmitz von drei „Motiven“ für die Vorstellung von einer Seele, die er als Quellen eines „grandiosen Selbstmißverständnisses der Menschheit“ bezeichnet: das „praktisch-pädagogische (Motiv – DZ) der Selbstermächtigung des Menschen als mündige Person“, den „Physiologismus der Wahrnehmungslehre“ und die „Objektivierung der Außenwelt“. (Schmitz 2/1992, S.291) Mit dem praktisch-pädagogischen ‚Motiv‘ suggeriert Schmitz, daß die Vorstellung von einer Seele nicht anthropologisch und moralphilosophisch, sondern bloß ideologisch begründet sei. Mit dem Physiologismusvorwurf unterstellt er, daß es keine ‚inneren‘ seelischen Vorgänge gibt, die sich auf physiologischer Ebene beschreiben ließen. Und mit der Objektivierung der Außenwelt wird Schmitz zufolge alles, was sich dieser Objektivierung entzieht, der ‚Seele‘ zugeschrieben.

Mit diesen ‚Motiven‘ verwirft Schmitz in einem Aufwasch den Humanismus der Aufklärung (Autonomie/Mündigkeit) und die Möglichkeit eines Bewußtseins (Differenz von Innen und Außen), die er beide zugleich mit dem Reduktionismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Neurophysiologie, in einen Topf wirft, die alle Bewußtseinsakte mit physiologischen Prozessen gleichsetzen. Es ist nicht nur die ‚Seele‘ – wie auch immer man sie sich vorstellen mag –, sondern mit ihr auch das Bewußtsein selbst, das Schmitz aus seiner Neuen Phänomenologie wegdefiniert, was dann auch schon das Neue an seiner ‚Phänomenologie‘ wäre. Denn eine Phänomenologie, die das Bewußtsein für irrelevant erklärt, gab es bislang noch nicht.

Letztlich hält sich Schmitz bei seiner Kritik des Seelenbegriffs an einem historischen Popanz fest, an dem sich heute in dieser Form sowieso kaum noch jemand orientiert. Er verweist auf den traditionellen Sprachgebrauch:
„Die Seelenvorstellung ist heute im üblichen Sinn eines dem Körper an Einheitlichkeit mindestens gleichkommenden Verbandes aller Erlebnisse eines Menschen, oder gar im Sinne eines substantiellen ‚Trägers‘ dieses Verbandes, ein Erbe der griechischen Philosophie des 5. Jahrhunderts v.Chr. und konsolidiert sich erst an der Wende zum 4. Jahrhundert, während sie für Platon schon selbstverständlich ist ... .“ (Schmitz 2007, S.17f.)
Schmitz geht also davon aus, daß die Seele auch heute noch als eine Art innerer Körper bzw. inneres ‚Ding‘ verstanden wird (vgl. Schmitz 2007, S.36f.), und er verwirft mit dieser Seelenvorstellung gleich den ganzen Seelenbegriff und die damit verbundene Vorstellung von einer sich von der Außenwelt unterscheidenden Innenwelt, was er als „Innenwelthypothese“ bezeichnet, die sich aufgrund der Introjektion der durch die Mathematisierung der Außenwelt entstandenen ‚Abfälle‘, also den nicht-mathematisierbaren sekundären Qualitäten herausgebildet hat. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f.)

Auf den Dingbegriff, im Sinne eines Außenweltphänomens, bin ich schon in meinem letzten Blogpost zu Harmut Rosa eingegangen. (Vgl. meinen Post vom 01.10.2019) Hier möchte ich nur nochmal kurz auf die Relevanz von Körperdingen auch für innere Prozesse des menschlichen Bewußtseins hinweisen. Da für Schmitz das Bewußtsein kein Thema ist, ist es insofern nicht erstaunlich, wenn er ineins damit auch die phänomenologische Bedeutung von Körperdingen leugnet, um an deren Stelle atmosphärische Ausdehnungen wabern zu lassen. Das Ding, das die Engländer ‚Thing‘ nennen, bildet eine ‚Ratsversammlung‘, im Sinne eines Sinnzentrums, das die Vielheit von Erscheinungen zu einer Einheit (Gestalt) zusammenfaßt. Der Raum, in dem sich diese Einheit formt, ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein, das selbst eine Einheit bildet, wird durch das Ding als Einheit von Erscheinungen möglich, so wie es wiederum das Ding möglich macht. Könnte das Bewußtsein sich beim Ding als dieses Ding erlebendes Subjekt nicht mitdenken, gäbe es kein Ding und somit auch kein Bewußtsein. Kant bezeichnet diese Bewußtseinsleistung auch als „Apperzeption“. Letztlich haben wir es mit Gestaltwahrnehmung zu tun, welche Kant als „Apprehension“ bezeichnet.

Mit der Verwerfung des Seelischen – an ihre Stelle setzt Schmitz eine bewußtseinsunabhängige, frei schwebende, sich bei Gelegenheit in Leibesregungen einbettende Subjektivität – disqualifiziert Schmitz sich wie schon erwähnt als Phänomenologe. Zwar spricht er noch von dem „affektiven Betroffensein“ von „Bewußthabern“; aber von ihnen schließt Schmitz nicht auf ein Bewußtsein, sondern auf Subjektivität.

Wenn man mit Hans Blumenberg davon ausgeht, daß die „Phänomenologie als eine Beschreibung von Vorkommnissen des Bewußtseins“ zu verstehen sei (vgl. „Beschreibung des Menschen“ (2006), S.329), fragt man sich, was an Schmitzens Neuer Phänomenologie dann noch phänomenologisch genannt werden könne. Antwort: vor allem die Methode. Ein Phänomenologe ist Schmitz zufolge jemand, der gegenüber allzu hohen Erwartungen hinsichtlich der Definierbarkeit philosophischer Begriffe skeptisch ist. (Vgl. Schmitz 2007, S.32) Der Phänomenologe bleibt Schmitz zufolge in dieser Hinsicht begrifflich geerdet, indem er auf der „relativ trivialen Lebenserfahrung“, die „jedermann“ zugänglich ist, aufbaut. (Vgl. Schmitz 2007, S.33). Mit ‚relativ trivialer Lebenserfahrung‘ ist offensichtlich die Lebenswelt gemeint. Man könnte auch sagen, daß Phänomenologen auf ihren gesunden Menschenverstand setzen. Ohne dabei allerdings unkritisch zu werden, versteht sich.
„Dieses Verfahren soll gewährleisten, daß der Philosoph stets sich verstehen und verstanden werden kann, damit er sich nicht selbst betrügt, wie leicht geschieht, wenn er sich auf dem schwankenden Meer überkommener Begriffe oder prophetenhaft expektorierter Redensarten (‚Jargon der Eigentlichkeit‘) treiben läßt.“ (Schmitz 2007, S.33)
Nun richtet sich allerdings diese überaus gelungene Beschreibung eines Phänomenologen gegen Schmitz selbst. Denn ausgerechnet dieser Verteidiger des gesunden Menschenverstandes leugnet das Vorhandensein von Innenwelten, und die Seele soll nur ein Müllabladeplatz für sekundäre Qualitäten sein. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f., 21f., 199ff.) Dennoch soll es eine Subjektivität geben, in Form eines affektiven Betroffenseins, nur eben nicht als Seele oder als Bewußtsein, sondern als Atmosphäre. Diese Verleugnung der Innen-Außen-Differenz ist keineswegs trivial und bedarf eines aufwendigen Begründungsverfahrens, das wiederum viel Vertrauen in die Definierbarkeit philosophischer Begriffe voraussetzt. Wer aber so argumentiert, mißachtet die (lebensweltlichen) Phänomene, die der Phänomenologe mit seiner Skepsis gegenüber Begriffskonstruktionen Schmitz zufolge doch eigentlich ernst nehmen sollte. Immerhin behält Schmitz gegen sich selbst recht, wenn er schreibt, „daß man (trotz großer Evidenz in vielen trivialen und nicht-trivialen Fällen), nie ganz sicher wissen kann, was gerade Phänomen für einen ist“. (Vgl. Schmitz 2007, S.34) – Das trifft wohl allererst auf Schmitz selbst zu.

Auch der gesunde Menschenverstand kann einen also in die Irre führen. Aber gilt das auch für alle Vorstellungen von der Seele, so daß es sich verbietet, künftig weiterhin von ihr zu reden? – Es ist nunmal so, daß wir uns selbst allererst als Körper erleben. Unser Körper ist kein Gas und keine Flüssigkeit. Deshalb ist es Teil unserer trivialen Lebenserfahrung, daß wir uns an die Grenze unseres Körpers gestellt sehen, als Haut und als Gesicht. Die Erfahrung einer Innen-Außen-Differenz ist für uns fundamental. So sehr Gefühle also etwas Atmosphärisches (Gasähnliches) haben – hier stimme ich Schmitz zu –, so sehr stehen diese Gefühle doch an dieser Grenze und durchdringen sie nur expressiv, als Mimik, als Laut und als Wort. Genau das ist Seele!

Indem Hermann Schmitz die ‚Seele‘ – natürlich nicht die Seele, sondern die Gefühle – als etwas atmosphärisch Ausgedehntes beschreibt, beraubt er sie der Fähigkeit des Rückzugs aus der Außenwelt (Extrojektion) in ein abgeschlossenes Inneres – es gibt ja keinen Innenraum –, in das bzw. in den sie sich zurückziehen könnte, wenn sie nicht berührt werden will. Sogar die Scham bezeichnet Schmitz als etwas in erster Linie Atmosphärisches, so daß sie nicht länger auf die Entblößung reagiert, die jemandem widerfährt. Die ‚Seele‘, die es nicht gibt, dieses angeblich grandiose Selbstmißverständnis, ist als bloß atmosphärisches Gefühl dem „Gegenstoß einer von allen Seiten zentripetal auf den Exponierten eindringenden und ihn durchbohrenden atmosphärischen Macht“ nackt und hilflos ausgesetzt. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.112) – Dabei haben sogar Gefolterte als letzte Rückzugsmöglichkeit eine innerste Zuflucht, aus der sie kein Folterknecht mehr herauszuholen vermag.

Hermann Schmitz legt die Subjekte darauf fest, affektiv betroffen zu sein. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.34f.) Affektiv betroffen sind sie aufgrund von atmosphärisch bedingten Gefühlen. Diese Subjekte kennen keine exzentrische Position, in der sie sich und der Welt gegenüberstehen können. Wenn Gefühle nicht mehr an Körper, sondern an Atmosphären gebunden sind, wird auch der Blick, der sich auf Körper richtet, gegenstandslos. Er löst sich im Atmosphärischen auf und kann keine Gemeinschaft zwischen Ich und Du begründen. Zweitpersonalität und eine in ihr gründende Ethik werden unmöglich. Worauf es ankommt, sind die Kollektive und die Atmosphären, die sie erzeugen.

Atmosphärisches von dieser Art kennt man auch aus anderen Zusammenhängen. Ich hatte in diesem Blog schon mal die „morphogenetischen Felder“ von Rupert Sheldrake diskutiert. Oder man denke an die „Zwischenleiblichkeit“ von Maurice Merleau-Ponty. Nicht zuletzt Edmund Husserls Begriff der „Lebenswelt“ deckt weite Teile dessen ab, was Schmitz als „Atmosphäre“ bezeichnet. Wir haben es hier mit notwendigen Begriffen zu tun. Abgesehen von Sheldrakes „morphogenetischen Feldern“ haben wir es aber immer auch mit Bewußtseinsbegriffen zu tun. Ohne (einzelmenschliches, individuelles) Bewußtsein keine Zwischenleiblichkeit und keine Lebenswelt.

Ein weiterer Begriff, der im Bedeutungsfeld des Atmosphärischen eine Rolle spielt, ist das altgriechische „Pneuma“ (Atem, Hauch) (vgl. hierzu auch meinen Post vom 01.02.2013); und es ist bezeichnend, daß Schmitz dieses Wort vermeidet und lieber von „Klima“, also von Wetterphänomenen spricht als vom Pneuma. Es ist eng mit dem Begriff der Seele verbunden.

Immer wieder stoße ich in der Philosophie und in der Politik auf die Behauptung, daß es auf den einzelnen Menschen nicht ankommt. In der Philosophie ist Erkenntnis bzw. ‚Wahrheit‘ mit dem Allgemeinen, mit der Gattung verknüpft. Und in der Politik lohnt es angeblich das Handeln nicht, wenn nicht alle mitmachen, wie man es zur Zeit insbesondere mit Blick auf den Klimawandel immer wieder hören kann. Es sind insbesondere die klassischen Bildungsphilosophen, die das Individuum ins Zentrum stellen. Sie sind es, die mich gelehrt haben, vom Individuum her und auf das Individuum hin zu denken. Deshalb bin ich immer verärgert, wenn ich bemerke, wie jemand versucht, Individualität zu dekonstruieren und damit auch zu delegitimieren.

Auch Hermann Schmitz gehört zu solchen Verächtern von Individuen und von Individualität. Schmitzens Definition von Gefühlen als von leiblichen Regungen unabhängigen Atmosphären bewegt sich mehr auf der Ebene von Pflanzen und Tieren als auf der Ebene des Menschen. (Vgl. Schmitz 2007, S.304) Wir haben es hier mit einem primären In-der-Welt-sein zu tun, zu dem es keine exzentrische Positionierung gibt. Für Schmitzens Atmosphäre gilt, was ich schon zu Sheldrakes morphogenetischen Feldern festgestellt hatte: beide dezentrieren das Subjekt und entlasten es so von Schuld und Verantwortung. (Vgl. meine Blogposts vom 01.02. und 08.02.2013) Das ist keine Anthropologie, für die ich mich begeistern kann.

Es ist tatsächlich nicht nur der Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand, wenn Schmitz gegen die Introjektion, also gegen die Vorstellung von Innenwelten polemisiert, den ich ihm vorwerfe. Seine Position ist darüberhinaus inkonsistent. Tatsächlich führt Schmitz selbst die Innen-Außen-Differenz unter dem Stichwort „personale Emanzipation“ wieder ein. (Vgl. Schmitz 2007, S.153ff.) Hier beschreibt er ausdrücklich, wie sich die Person (= Seele!) von der objektiven Umwelt als Subjekt abgrenzt:
„Mit dem Rückzug vom Objektivierten beginnt die Ausbildung des personalen Subjekts, das sich im subjektiv bleibenden Rest eine Domäne (= Innenwelt – DZ) verschafft und von dem, was nicht zu ihm gehört, abhebt.“ (Schmitz 2007, S.154)
Das personale Subjekt ist also genau das, was die Seele nicht sein darf. Schmitz geht sogar so weit, der Person ein Bewußtsein von subjektiver Dauer, also von einer sich in der Zeit durchhaltenden Identität zuzubilligen. (Vgl. Schmitz 2007, S.154) Damit bekommt das personale Subjekt fast schon etwas Dingliches. An dieser Stelle wird Schmitzens Polemik gegen die Seele gegenstandslos.

Darauf, daß Schmitz zufolge Gefühle „nicht als dessen (des Körpers – DZ) Zustand gespürt“ werden (vgl. Schmitz 2007, S.304), hatte ich schon hingewiesen. Noch deutlicher wird Schmitz im nächsten Satz: „Nicht das Gefühl ist eine leibliche Regung, wohl aber das Ergriffensein, das affektive Betroffensein vom Gefühl ...“ (Schmitz 2007, S.304)

Etwas sträubt sich in mir, Gefühle nicht als körperliche Zustände bzw. leibliche Regungen verstehen zu dürfen. Und ebenso sträubt sich etwas in mir, Gefühle und Ergriffensein für zwei verschiedene Phänomene zu halten. Diese Differenzierungen sind für meine Empfindung begriffliche Haarspaltereien. Sie widersprechen auch Antonio Damasios Feststellung, daß jedes Gefühl mit physiologischen Veränderungen im Organismus einhergeht, und jede physiologische Veränderung geht mit Emotionen bzw. mit Gefühlen einher. Helmuth Plessner bezeichnet die von Damasio beschriebenen physiologischen Prozesse als „Zustandssinne“, zu denen er neben Geruch, Geschmack und Getast auch die Eingeweide zählt. (Vgl. „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ (1980/1923), S.267f., S.289f.) Diese Zustandssinne decken den Bereich des Atmosphärischen bei Schmitz ab. Auch hier also zeigt sich, daß Schmitzens Thematisierung dieses Bereichs historisch gar nicht so einzigartig ist, wie er meint.

Damasio differenziert übrigens nochmal zwischen (unbewußten) Emotionen und (bewußten) Gefühlen; eine Differenzierung, der ich folgen kann. Möglicherweise läßt sich Damasios Differenzierung zwischen Emotionen und Gefühlen mit Schmitzens Formulierung vereinbaren, daß Gefühle nicht als konkret verortbare körperliche Zustände „gespürt“ werden. Daß sie aber keine leiblichen Regungen sind, ist mit Damasio nicht vereinbar.

Abgesehen von der ethischen Problematik (Schuld, Verantwortung) stört es mich auch, daß Gefühle, die keine leiblichen Regungen sind, argumentationsstrategisch Wasser auf die Mühlen der KI-Forscher sind, die von einer substratunabhängigen Super-Intelligenz träumen.

Trotzdem ist etwas dran am Begriff der Atmosphäre. Schmitzens Definitionen machen insofern einen Sinn, als er zwischen Gefühlen unterscheidet, die andere haben und die wir lediglich mitempfinden, und Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind. Allerdings würde ich dann den Begriff der Atmosphäre für solche mit anderen geteilten Gefühlen, die wir nicht unbedingt selbst haben müssen, reservieren. Gefühle von denen wir auf spezifische Weise selbst ergriffen sind, sind leiblich gebunden und nicht atmosphärisch ausgedehnt.

Die leiblichen Regungen, also unsere physiologischen Bedürfnisse, zu denen ich auch das sexuelle Begehren zähle, sind zwar auch Gefühle; aber von ihnen wissen wir genau, woher sie kommen. Die Gefühle als Atmosphäre hingegen durchdringen uns von allen Seiten, ohne daß wir sie immer einem Ausgangspunkt zuordnen können.

Ich würde deshalb zwischen drei Arten von Gefühlen unterscheiden: a) den körperleiblichen Regungen; b) die Gefühle, die wir empathisch an anderen wahrnehmen und mitempfinden können, ohne von ihnen ergriffen zu sein; c) die Gefühle, von denen wir gemeinsam mit anderen, als Gruppe, ergriffen werden. Die letzten beiden, b und c, sind atmosphärischer Natur.

„Leibliche Regungen“ ist mißverständlich; denn anders als Schmitz meint, sind auch die atmosphärischen Gefühle mit leiblichen Regungen verbunden. Deshalb verwende ich lieber das Wort ‚körperleiblich‘. Es ist enger an die individuelle Körperleiblichkeit des Einzelnen gebunden.

Mit gefällt diese Differenzierung zwischen körperleiblichen und atmosphärischen Gefühlen so gut, weil sie es erlaubt, zwischen sexuellem Begehren und Liebe zu unterscheiden. Das sexuelle Begehren ist eine körperleibliche Regung. Die Liebe hingegen ist atmosphärisch, weil sie an einen anderen Menschen gebunden ist und sie uns überkommt wie eine Krankheit. Tatsächlich beschreibt Schmitz selbst das Atmosphärische als Krankheitsherd, also als einen viralen Effekt, der in uns von außen eindringt. (Vgl. Schmitz 2007, S.18, 200 u.ö.)

Wir fühlen uns der Liebe mehr ausgeliefert als dem sexuellen Begehren, das schnell und restlos befriedigt werden kann wie andere physiologischen Bedürfnisse auch. Kommt aber die Liebe hinzu, dauert sie an und läßt sich durch einzelne Akte des Gebens und Nehmens nicht befriedigen. Aufgrund der engen Beziehung zwischen sexuellem Begehren und Liebe bleibt deshalb nach dem Orgasmus, wo die Liebe fehlt, trotz der physiologischen Befriedigung oft ein schales Gefühl der Leere zurück, weil man sich unwillkürlich fragt, ob das denn schon alles gewesen ist.

Abschließend halte ich fest, daß Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“ thematisch von der üblichen phänomenologischen Praxis abweicht, das Bewußtsein ins Zentrum unseres Interesses zu stellen. ‚Phänomenologisch‘ ist sein Ansatz nur in dem Sinne, als er sich methodisch an der phänomenologischen Skepsis gegenüber anschauungsfernen Begriffskonstruktionen orientiert. An die Stelle des Bewußtseins und klassischer Vorstellungen von einer substantiellen Seele setzt Schmitz Gefühle, die er als leiblich ungebundene ‚Atmosphären‘ beschreibt. Denn mit der Verabschiedung einer körperlich-dinglichen Seele geraten alle leiblichen Regungen als bloß physiologische Funktionen unter den Verdacht eines naturwissenschaftlichen Reduktionismusses, der Körperdinge als mathematisch abbildbare Quantitäten definiert und alle ‚Qualia‘ als bloß ‚sekundär‘ im Abfallbehälter ‚Seele‘ deponiert.

Helmuth Plessner bezeichnet diese Ablehnung des Seelenbegriffs als „Anticartesianismus“ und beschreibt diesen als Versuch, „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzugehen. So lasse sich der „Anschein einer ursprünglichen Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation erzeugen, jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis der Psyche bzw. des Menschen zum Körper.“ (Vgl „Lachen und Weinen“ (1950 (1941), S.39)

Schon Schmitzens phänomenologische Vorläufer hatten durchaus darauf hingewiesen, daß „Daten des inneren Sinnes“, wie Blumenberg in „Beschreibung des Menschen“ (2006) festhält, „keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“, also nicht als Dinge aufzufassen sind. (Vgl. Blumenberg (2006), S.233) Dennoch haben wir es bei der „inneren Erfahrung“, so Blumenberg weiter, mit einem „Etwas“, also mit einem Phänomen, „im vollen Verstande“ zu tun. Mit anderen Worten: anders als Schmitz meint, stoßen wir bei inneren Erlebnissen nicht auf lauter Hirngespinste. Ähnlich wie Schmitz spricht Helmut Plessner im Zusammenhang mit dem „präsentativen Bewußtsein“ von den „Zustandssinnen“, die nicht auf Gegenstände ausgerichtet sind, was dem Atmosphärischen entspricht, ohne dabei aber den Begriff der Intentionalität als irrelevant zu verabschieden. (Vgl. meine Posts vom 30.01.2012) Letztlich reicht Schmitzens Begriff der „Atmosphäre“ weit in die abendländisch-griechische Begriffstradition zurück, bis hin zum „Pneuma“ der alten griechischen Philosophen. Schmitz kann also für sein phänomenologisches Konzept nicht in Anspruch nehmen, ‚neu‘ zu sein.

Letztlich gibt Schmitz meiner Ansicht nach – obwohl er den Begriff der Seele ablehnt – vor allem bei der Differenzierung zwischen Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind, und Gefühlen, die wir an anderen Menschen wahrnehmen, ohne von ihnen ergriffen zu sein, einen neuen Ausblick auf das Verhältnis von physiologischen und seelischen Bedürfnissen wie etwa bei der Sexualität und der Liebe. Vielleicht ist Schmitz deshalb bei Psychologen und in der Therapieszene so beliebt. Allerdings haben die Psychologen ihren eigenen Reduktionismus, da sie seltsamerweise – ähnlich wie Schmitz – von der Psyche nichts wissen wollen.

Download

Dienstag, 1. Oktober 2019

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018 (2016)

Eine Freundin fragte mich vor einigen Monaten, ob ich Hartmut Rosa kenne, was ich verneinen mußte. Die Freundin, wohl wissend, daß ich seit über neun Jahren einen Blog mit Rezensionen zu Büchern quer durch die Wissensgebiete fülle, brachte mit unverhohlener Schadenfreude ihr Erstaunen über meine Unbedarftheit zum Ausdruck. Das war’s dann auch schon. Ich nahm ihr das nicht weiter übel. Unser Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Aber den Namen merkte ich mir.

Jetzt habe ich mir Rosas Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (3/2018) zugelegt, und ich möchte hiermit auch gleich meine Eindrücke zum Besten geben, um zu zeigen, daß die von meiner Freundin aufgedeckte Wissenslücke nicht mehr besteht.

Das erste, was mir auffällt, ist der Optimismus des Professors für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Rosa geht es um eine Soziologie des gelingenden Lebens. Trotzdem stellt er sich gleichzeitig in die Tradition der Kritischen Theorie. (Vgl. Rosa 2018, S.36) Ein natürlicher Partner in dieser Traditionslinie ist Jürgen Habermas mit seiner Konsensorientierung, ein natürlicher Gegner Theodor W. Adorno mit seinem bekannten Ausspruch, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Nun hat Adorno, wie ich glaube, diesen Ausspruch getan, damit ihm widersprochen werde. So ein Satz kann einfach nicht unwidersprochen bleiben. Wo es keine Lebensmöglichkeit mehr gibt, bleibt nur noch der Strick. Hartmut Rosa widerspricht also und setzt seine Resonanztheorie dagegen. Er behauptet, daß es ein gelingendes Leben gebe – im Sinne einer ‚Resonanz‘ zwischen Mensch und Welt – und daß man sogar wissen könne, wie es aussieht. Allerdings verfährt er dabei nach einem schwarz-weiß-Schema, in dem das gelingende Leben kein Mißlingen kennt und das mißlingende Leben kein Gelingen. Seine Beispiele, Anna (gelingendes Leben) und Hannah (mißlingendes Leben), sind allzu einfach gestrickt. (Vgl. Rosa, S.20ff.) Zwar korrigiert Rosa später dieses starre Schema, indem er auf die Notwendigkeit von Entfremdungserfahrungen verweist, die die totalitäre Tendenz einer auf Gelingen fixierten Lebensführung brechen (vgl. Rosa S.59f.u.ö); aber die Entfremdung wird dadurch bestenfalls zum Instrument einer sozialen Gelingensbildung, die den anthropologischen Einsichten von Denkern wie Helmuth Plessner oder Hans Blumenberg in die Entfremdungsstrukturen des Mensch-Weltverhältnisses nicht gerecht wird. Wie übrigens Rosa selbst implizit eingesteht, wenn er sein Unverständnis für Plessners ‚einseitige‘ Fixierung „auf die Aspekte der Störung und Irritation in der Weltbeziehung“ zum Ausdruck bringt. (Vgl. Rosa 2018, S.134)

Auch ich widerspreche Adornos Postulat zum notwendigerweise falschen Leben, begründe meinen Widerspruch aber anders: es gibt die Chance auf ein gelingendes, richtiges Leben, weil der Mensch ein Anachronismus ist. Er paßt nie genau in die Zeit, in der er lebt; und wenn er aus dem (falschen) Zeitgeist herausfällt, wird gelingendes Leben möglich. Mein Begriff des Anachronismusses entspricht dem Adornoschen Begriff der Nicht-Identität.

Sogar Rosa spricht von „Rissen und Brüchen des gesellschaftlichen Denkens, Handelns und Erlebens“, in denen sich die „primordiale Resonanzfähigkeit des Menschen und der Welt“ zeigt. (Vgl. Rosa 2018, S.582) Aber, anders als Rosa meint, scheint in diesen „Rissen und Brüchen“ nicht einfach nur geradehin eine Möglichkeit auf. Wir haben es bei ihnen vielmehr mit einer grundlegenden Brechung unserer individuellen Intentionalität zu tun, die sich nicht einfach harmonisierend überwinden läßt, sondern bestenfalls zu einer zweiten Naivität führt, in der wir um ihre Gebrochenheit wissen. Bei dieser zweiten Naivität geht es eben nicht mehr um eine undifferenzierte, pauschal angesetzte „primordiale Resonanzfähigkeit“, sondern um die Entwicklungsebene von Individuen. Aber der Soziologe Rosa vernachlässigt diese Ebene. Ihm zufolge kommt es auf die Individuen nicht an, sondern nur auf die Kultur bzw. auf die Gesellschaft. (Vgl. Rosa 2018, S.33f., 43, 58, 70 u.ö.)

Dazu paßt, daß Identität für Rosa ein zweifelhafter Begriff ist, der Dauerhaftigkeit vortäuscht, wo Wandel die Regel ist. (Vgl. Rosa 2018, S.43) Unter diesen Zweifel fällt dann auch die Vorstellung von einer ‚Seele‘ als einer geistigen Substanz, wie sie seit Platon das christliche Abendland prägt. Aber es ist nicht phänomenologisch, die Vorstellung von einer ‚Seele‘ damit gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen. Wir müssen nicht gleich an eine unvergängliche seelische Substanz glauben, wenn wir uns selbst als Körperdinge erleben und es vor allem die Dinge um uns herum sind, denen wir eine zeitliche Dauer ansehen, die dem Wandel zumindestens für einen begrenzten Zeitraum zu widerstehen scheinen.

Im Gegensatz zu diesen Dingen sind es die Flüssigkeiten und Gase, denen wir Vergänglichkeit und Unbeständigkeit ansehen; eine Option, für die sich Hermann Schmitz, mit dem ich mich im nächsten Blogpost befassen werde, entschieden hat. An uns selbst haben wir die Anschauung eines festen Körpers und die Erfahrung einer Dauer unseres Ichs, woraus sich wiederum die Vorstellung einer Ich-Identität ergibt. Das hat etwas Dinghaftes. Die Vorstellung einer dinglichen Seele ist also lebensweltlich begründet. Und mehr braucht ein Phänomenologe nicht, um dieses Thema ernstzunehmen.

Ich selbst bin der Meinung, daß die Seele ihre Herkunft aus der Lebenswelt hat und sich an der Grenze zwischen Innen und Außen individualisiert. Deshalb definiere ich sie mit Plessner nicht als Ding, sondern als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Vorstellung einer fortdauernden Ich-Identität verbinde ich mit der exzentrischen Positionalität des Menschen. Sie ist außerzeitlich und nicht-örtlich und deshalb andauernd.

Bei aller Wandelbarkeit unseres Auftretens bleibt die Ich-Identität immer dieselbe, ohne daß wir von einer Ich-Substanz ausgehen müssen. ‚Transzendental‘ meint nicht ‚transzendent‘. Es handelt sich hier lediglich um eine Bewußtseinsfunktion. Das hat nichts mit irgendeinem „Authentizitätsterror“ zu tun, wie Rosa Michel Foucault zitiert. Gerade weil wir raumlos und zeitlos hinter (und neben) uns stehen und deshalb auch nicht authentisch sein können, sondern exzentrisch zu uns und der Welt positioniert sind, bleiben wir immer ‚dieselben‘: nämlich als diejenigen, die sich, mit Plessner gesprochen, zu allem, was ihnen widerfährt, ‚positionieren‘ können. Das ist eine Bewußtseinsleistung. Kant bezeichnet das mit Bezug auf René Descartes als das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption.

In „Beschreibung des Menschen“ (2006) hält Hans Blumenberg fest, daß „Daten des inneren Sinnes ... keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“ – also auch im Sinne von Rosas Hinweis darauf, daß wir ständigem Wandel unterliegen und es keine dauerhafte Identität (und deshalb auch keine Seele) gebe –, sei kein Beleg dafür, daß das „physische Körperding“ für die (innere) Bestimmung des Menschen keine Bedeutung hat:
„Die Gegebenheiten des inneren Sinnes, der inneren Erfahrung, sind Etwas im vollen Verstande, nicht nur so etwas wie Etwas für das, was in der Welt vorkommt.“ (Blumenberg 2006, S.333)
Mit anderen Worten: Unsere inneren Bewußtseinsprozesse beinhalten selbst Phänomene, die wir als solche ernstzunehmen haben, und sie bilden nicht nur Außenweltphänomene ab. Es gibt eine von der Außenwelt sich unterscheidende innere Welt. Und diese innere Welt ist individuell oder sie ist nicht innen. Kollektiv geteilte Welten mögen vielleicht subjektiv sein, aber sie sind immer nur außen. Zwischen innen und außen verläuft dieselbe Grenzlinie wie zwischen privat und öffentlich.

Für die gesellschaftliche Perspektive sind Individuen wie überhaupt das Scheitern und der Tod des Einzelnen wenig relevant. Im Grunde ist Rosas Resonanztheorie nur eine aufwendig begründete, mit Entfremdungsmomenten angereicherte Wohlfühlphilosophie. Was Rosa als Resonanzphänomene beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die gute alte Lebenswelt (Husserl/Blumenberg), ohne daß Rosa ihrem Höhlencharakter gerecht wird.

Tatsächlich erwähnt Rosa selbst die Kritik an der Harmonielastigkeit seiner Resonanztheorie. (Vgl. Rosa 2018, S.740) Er erwidert, daß auch Adorno von „Mimesis“ spricht, und Mimesis meine auch nichts anderes als Resonanz. (Vgl. Rosa 2018, S.584f.) Ich würde sogar ergänzen, daß es Parallelen zwischen Rosas Resonanz und Michael Tomasellos Rekursivität gibt, die in meinem Blog eine wichtige Rolle spielt. Allerdings beinhaltet diese Rekursivität, wie ich sie verstehe, eine Sphären bzw. Ebenen des Bewußtseins überschreitende Dynamik; ein Aspekt, der der Rosaschen Resonanz fehlt. Doch abgesehen von diesen (eingeschränkten) Parallelen zur Mimesis und zur Rekursivität fehlt dem Rosaschen Konzept ein gewisser anthropologischer Realismus, so daß man es eben doch als harmonistisch bezeichnen muß.

Rosa verortet die Entfremdung nicht anthropologisch, sondern beschreibt sie lediglich als sozialen Prozeß. (Vgl. Rosa 2018, S.741) Tatsächlich ist sie, auch als soziohistorisches Phänomen, aber in der exzentrischen Positionalität des Menschen begründet. Rosas Verbindung des Entfremdungsphänomens mit der „Fähigkeit zur Resonanzverweigerung“ (vgl. ebenda) läßt sich auch als eine Form des Herausfallens aus der Lebenswelt beschreiben. Wir haben es hier insofern mit einem anthropologisch begründeten Anachronismus zu tun, als er dem Menschen schon immer innewohnte und frühestens mit der Einführung der Schrift vor 5000 Jahren zum Vorschein und in der Moderne zur vollen Entfaltung kam.

Rosa verfehlt die individuelle Entwicklungsebene, weil er die Resonanzverweigerung nur als gegenseitige Abgrenzung von Gruppen beschreibt, nicht aber als individuelle Option. (Vgl. Rosa 2018, S.742) In dem Beispiel mit den beiden Nachbarn, die sich grüßen und der eine den anderen auf das heiße Wetter anspricht, während der andere kontert, daß die Juden daran schuld seien, was wiederum eine Abwendung des einen zu Folge hat, versucht zunächst der andere seinen Nachbarn für sein antisemitisches Gruppen-Wir zu vereinnahmen. Dieser Nachbar aber, der nur über das Wetter hatte reden wollen und im übrigen nichts anderes als einfach nur nett sein wollte, grenzt sich jetzt verständlicher Weise gegen dieses ihm zugemutete antisemitische Gruppen-Wir ab, um, wie Rosa schreibt, seine intersubjektiven Resonanzbeziehungen zu „anderen (‚belebten‘) Weltausschnitten“ (Rosa 2018, S.742), sprich Gruppen-Wirs, nicht zu gefährden.

An keiner Stelle haben wir es hier mit der zweitpersonalen Beziehung zwischen Ich und Du zu tun, und deshalb auch nicht mit einer individuellen Entwicklungs- bzw. Prozeßebene. Der Soziologe Hartmut Rosa kennt nur die drittpersonale Ebene von Kultur und Gesellschaft. Dem Menschen, in dem immer drei Entwicklungsebenen, die Biologie, die Kultur und das Individuum, zusammenkommen müssen, um als Mensch in Erscheinung zu treten, wird Rosa mit seiner Resonanztheorie nicht gerecht.

Download