„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Infrastrukturen sind äußerst effektive Synchronisierungsinstrumente, weshalb sie auch gerne von den verschiedensten politischen Regierungssystemen in Gebrauch genommen werden:
„Ausmaß und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt.“ (Van Laak 2018, S.11)
Allerdings haben sie die ambivalente Tendenz, von beiden Seiten, Herrschern und Beherrschten, genutzt werden zu können und so umgekehrt wiederum bestehende Regime zu bedrohen. Letztlich mußte also auch der Gebrauch der Infrastrukturen durch die Nutzer kontrolliert werden. So gab es zwar im real existierenden Sozialismus Telephone, aber nicht sehr viele, und wer telephonieren wollte, mußte dorthin gehen, wo es eins gab:
„Man kann den Eindruck gewinnen, der Ausbau mobilisierender Infrastrukturen wie des Telefonnetzes sei im Realsozialismus künstlich verzögert worden, um die Gesellschaft kontrollierbarer zu halten.“ (Van Laak 2018, S.131)
Telephone waren im Ostblock nicht dazu gedacht, soziale Kommunikation zu ermöglichen, sondern Anweisungen möglichst effektiv und schnell an die Frau oder den Mann zu bringen:
„Schon in den frühen sowjetischen Filmen ist das Telefon zwar allgegenwärtig. Es erscheint aber fast ausschließlich als ein Apparat, um zentral durchgestellte Befehle zu empfangen, nicht als Medium einer selektiven Annäherung und des sozialen Austauschs.()“ (Van Laak 2018, S.82)
Aber auch im kapitalistischen Westen wurde das Telephon anders genutzt, als es die Anbieter ursprünglich vorgesehen hatten. Es waren vor allem die Frauen, die das Telephon für sich in Anspruch nahmen:
„Im Grunde wurde das Telefon jedoch von den Nutzern zu einem großen Teil entgegen den eigentlichen Absichten und Angeboten der Telefongesellschaften angeeignet. Als besonders attraktiv wurde offenbar die gleichsam intime Nähe trotz körperlicher Distanz empfunden. ... Die Möglichkeit zur Kontaktpflege über das Telefon haben wiederum vornehmlich Frauen aufgegriffen. Sie scheinen sich diese Möglichkeit auch deswegen angeeignet zu haben, weil das Telefon quasi aus der Küche heraus die distanzierte Pflege von Kontakten erlaubte.“ (Van Laak 2017, S.81f.)
Damit sind wir beim Thema dieses Blogposts: es geht hier um die divergierenden Interessen der Nutzer, die oft genug auch Nutzer wider Willen sind und sich sogar gelegentlich offensiv ganz verweigern. Ich möchte sie summarisch als ‚Anachronisten‘ bezeichnen, weil es sich, wie eingangs schon erwähnt, bei den Infrastrukturen um Synchronisierungsinstrumente handelt, und diese renitenten ‚Nutzer‘ sich einer solchen Synchronisierung widersetzen.

Von diesen Anachronisten hat es von Anfang an mehr gegeben, als mancher Zeitgenosse heute glauben mag. Allerdings ist ‚Anachronismus‘ ein weitgefaßter Begriff und umfaßt auch solche Leute, die wie die Reichsbürger noch immer am Kaiserreich festhalten wollen. Wenn wir uns in der heutigen sich zunehmend fragmentierenden Gesellschaft umsehen, können wir den Eindruck gewinnen, daß sie praktisch nur noch aus Anachronisten besteht, so daß die reale Gefahr besteht, daß die Gesellschaft völlig auseinanderfällt. Aber wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, daß dies nur oberflächlich so ist. Tatsächlich benutzen ‚Anachronisten‘ aller Couleur, einschließlich den islamischen Fundamentalisten, Handys und Smartphones und sind deshalb letztlich doch mit der technologisch-wirtschaftlichen Entwicklung synchron.

Immerhin haben diese Fundamentalisten etwas verstanden, was die vorherrschende westliche Wohlstands- und Wachstumsrhetorik immer wieder zu kaschieren versucht. Die Nutzung der westlichen ‚Errungenschaften‘ zerstört alt hergebrachte Lebensformen in den nicht-westlichen Kulturen. Deren ‚Beglückung‘ mit Eisenbahnen und Staudämmen diente im 19. Jahrhundert allererst der Plünderung ihrer Ressourcen, was in Kolonisierungsdiktion auch als „Inwertsetzung“ unproduktiver Gebiete bezeichnet wurde:
„... so verfolgte die imperiale Expansion der Europäer vor allem die Absicht, die fernen Gebiete ‚in Wert‘ zu setzen. Das bedeutete, sie einer Produktivität zu unterwerfen, die dem von Wachstum und Fortschritt geprägten Denken Europas entsprach.“ (Van Laak 2018, S.138)
Der kapitalistisch geprägte Begriff der Produktivität entsprach aber nicht dem, was die indigenen Bevölkerungen unter Produktivität verstanden. Die von den Kolonisatoren angestrebte Inwertsetzung bestand also darin, deren ‚anachronistischen‘ Lebensformen mit der eigenen zu synchronisieren:
„Wer sich nicht beugte, wurde als bedauerliches Opfer am Wegesrand des Fortschritts betrachtet oder gar als Angehöriger einer ‚unproduktiven Rasse‘ dem Aussterben überantwortet.“ (Van Laak 2018, S.138)
Aber nicht nur in der exotischen Fremde galt es, solche Anachronisten zu kolonisieren. Jürgen Habermas spricht auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelten mitten in der ‚ersten‘ Welt. Das war schon von Anfang an so: der Kapitalismus begann mit einer ursprünglichen Akkumulation, also mit der räuberischen Aneignung der Allmenden, der Commons, die die Lebensgrundlage der ‚vormodernen‘ Landbevölkerung bildeten. Durch diese räuberische Aneignung heimatlos geworden, mußte die Landbevölkerung sehen, wo sie blieb, und wurde zum Proletariat, das sich nun nach Karl Marxens Auffassung auf der Höhe der Zeit befand und das Subjekt einer radikalen Technisierung der Gesellschaft bilden sollte.

Auch hier verweigerten sich Anachronisten wie die Amish-Peoble, die van Laak auch als „Anabaptisten“ bezeichnet:
„Anabaptisten wie die Amish, die Hutterer, die Mennoniten, aber auch die orthodoxen Juden streben nach einem Leben jenseits weltlicher Annehmlichkeiten.“ (Van Laak 2018, S.142)
Diese Anababtisten bzw. Baptisten verweigerten sich radikal den in den letzten zwei, drei Jahrhunderten entwickelten Technologien. Von hier ist der Weg gar nicht mehr so weit bis zu der „ländlich-isolierte(n) Lebensweise“ von „alternative(n) Lebensformen“ in den USA und in Europa (vgl. van Laak 2018, S.142), deren Technologie-Verweigerung zwar nicht so radikal ausgeprägt ist, die aber an älteres Wissen anknüpfen, „das sich auf ökologische Praxen des vorindustriellen Zeitalters besinnt und sie zeitgemäß interpretiert“. (Vgl. van Laak 2018, S.155) Auch das ist Anachronismus: das Zurückblicken auf früher schon mal Gewußtes und das Vorausblicken auf bevorstehende Herausforderungen, um aus den beharrenden Zwängen der Gegenwart auszubrechen und neue Wege zu eröffnen. Das ist im besten Nietzscheschen Sinne ‚unzeitgemäß‘.

Die Geschichte der Infrastrukturierung der us-amerikanischen und europäischen Gesellschaften wird also von Anfang an von Konflikten begleitet, die potenzielle Nutzer verursachten, die sich dem Anschluß an die infrastrukturelle Moderne zu verweigern suchten. Solche Verweigerungsversuche gingen sowohl von indigenen Bevölkerungen wie auch von Betroffenen in der ‚ersten‘ Welt selbst aus. Die Anbieter (Energiewirtschaft) versuchten solche Widerstände mit der üblichen Rhetorik einzudämmern und mehr oder weniger gewaltförmig mundtot zu machen. (Vgl. van Laak 2018, S.77) Geschickter ging da John D. Rockefeller vor, der bei einer Campagne in China kostenlos Petroleumlampen verteilte, „um die Abnehmer auf eine dauerhafte Belieferung durch seine Standard Oil zu eichen“. (Vgl. van Laak 2018, S.79) Das wurde zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen bis in die Gegenwart hinein.

Anachronisten gibt es in unserer Gegenwart auf vielen verschiedenen Ebenen, wie etwa die „Maulwurfsmenschen“, die zum Teil freiwillig, zum Teil unfreiwillig in Kanal- und U-Bahnschächten New Yorks leben und so paradoxerweise einerseits die vorhandenen Infrastrukturen, wenn auch zweckentfremdet, nutzen, sich aber andererseits den infrastrukturellen ‚Annehmlichkeiten‘ des oberirdischen Getriebes entziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Tatsächlich gibt es inzwischen sogar Cafés, die technikfreie Räume anbieten, in denen gestreßte Zeitgenossen eine Pause machen können vom Druck der permanenten Erreichbarkeit und vom Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen:
„Seit 2014 stellt das Café Seymore+ in Paris ein Offline-Versteck ohne Anschluss bereit. Dieses soll eine technikfreie Zone sein, unplugged und ohne Smartphones, in denen inzwischen das gesamte Berufs- und Privatleben zusammenfließt. Als neues Trendwort der digital junkies, an die sich das Angebot hauptsächlich richtet, gilt die mindfulness, also die Achtsamkeit für sich selbst und für andere.()“ (Van Laak 2018, S.253)
Inzwischen bezeichnen Geologen das Industriezeitalter als „Anthropozän“. (Vgl. van Laak 2018, S.271) Die Anachronisten des Anthropozäns, wie ich sie verstehe, sind nicht damit einverstanden, daß der Mensch den Planeten nach seinem Bilde geformt hat. Sie geben sich auch nicht mit der Tatsache ab, daß sich das nicht mehr ändern läßt. Sie wollen der Erde wieder mehr Raum zum Atmen geben, was bedeutet, daß die Menschen lernen, sich in Reservate zurückzuziehen und auf eine umfassende Ausplünderung der planetarischen Ressourcen zu verzichten.

Letztlich hält van Laak fest, daß unsere Gegenwart selbst durch einen fundamentalen Anachronismus gekennzeichnet ist, der darin besteht, „dass unser Erfahrungsraum sich noch in der infrastrukturisierten Hochmoderne bewegt, während unser Erwartungshorizont bereits auf eine Epoche vorausweist, in der wir sehr viel grundlegender umdenken und unsere Routinen nachhaltig ändern müssen“. (Vgl. van Laak 2018, S.276)

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Samstag, 2. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Phänomenologen befassen sich mit dem Sichtbaren und seinen Rückseiten, ohne die es das Sichtbare nicht gibt; und mit den Hintergründen, aus denen es hervortritt und in die es zurückweicht. Es gibt keine Phänomene ohne das Unsichtbare. Und für die lebensweltlichen Phänomene gilt sogar, daß sie immer unsichtbar sind und sich zeigen, indem sie sich auf unterschiedliche Weisen nicht zeigen. Auch für die Thematik von Dirk van Laaks Buch „Alles im Fluss“ (2018), für die „Infrastrukturisierung“ der Hochmoderne (vgl. van Laak 2018, S.154 und S.286), spielen die verschiedenen Varianten des Unsichtbaren eine so gewichtige Rolle, daß es gerechtfertigt ist, die Infrastruktur als das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt zu bezeichnen.

Van Laaks Methode weist dem Unsichtbaren eine wichtige Funktion zu. Es geht dem Historiker nicht um die großen Geschichtszeichen von Politikern, Unternehmern, Erfindern oder Gesellschaftsreformern, sondern um die „alltäglichen Routinen“ im Umgang mit Infrastrukturen, deren sich die jeweiligen Zeitgenossen in den verschiedenen geschichtlichen Epochen oft gar nicht bewußt sind, und für diese „Gebrauchsgeschichte“ ist „das Unsichtbare oft wichtiger als das Sichtbare“. (Vgl. van Laak 2018, S.21)

Beides, die Unsichtbarkeit von Gegenständen – Heidegger spricht von der Zuhandenheit des Zeugs – und die Unmerklichkeit des Umgangs mit ihnen, bildet wesentliche Momente einer genuin phänomenologischen Konzeption des Mensch-Weltverhältnisses:
„Es gehört zu den hervorstechenden Merkmalen der Infrastrukturen, dass sie sich meist rasch in die alltäglichen Routinen ihrer Nutzer einschleichen. Insofern stellen sie so etwas wie das kollektive Unterbewusste dar, eine entlastende Voraussetzung für weitergehende kreative und zerstreuende Tätigkeiten.“ (Van Laak 2018, S.284)
Dabei schwankt der phänomenale Status der Infrastrukturen je nach dem, wie gut sie funktionieren, bis hin zu den spektakulären Momenten, wo sie vollständig ausfallen (vgl. van Laak 2018, S.229ff.); ein weiteres Merkmal auch der Lebenswelt, deren wir uns immer erst dann bewußt werden, wenn wir aufgrund von Krisen oder Unglücksfällen aus ihr herausfallen:
„Wenn sie (die Infrastrukturen – DZ) aber sichtbar werden oder ins Bewusstsein treten, ist dies oft mit Ärger verbunden, so wenn das, was fließen soll, ins Stocken gerät, wenn die Preise überhöht erscheinen oder wenn Ressourcen oder Gelder offenkundig verschwendet werden. Die Sichtbarkeit von Infrastrukturen reicht vom Unmerklichen bis zum großen Spektakel, mit sämtlichen Schattierungen dazwischen.()“ (Van Laak 2018, S.185)
Aber nicht nur die ‚Vulnerabilität‘ zusammenbrechender Infrastrukturen trägt zu deren variierenden Sichtbarkeit bei. Infrastrukturen haben darüberhinaus Lebenszyklen. (Vgl. van Laak 2018, S.202ff.) Sie können veralten und werden dann entweder abgebaut und verschwinden vollständig, oder sie werden überbaut und bilden Schichten, quasigeologische Ablagerungen, über die sich immer neue Infrastrukturen legen:
„Neue Technologien legen sich gleichsam über die alten, sie werden ‚überplant‘ und schaffen, wie beim Internet in Bezug zum Telefonnetz, ein Overlay-Netzwerk, bis auch dieses durch ein neues Netz, etwa die Breitband- und Glasfaserkabel, abgelöst wird.()“ (Van Laak 2018, S.208)
Dabei geht das Wissen um die älteren Strukturschichten oft verloren, was dann bei späteren Grabungen entsprechende Überraschungen verursacht:
„Der genaue Verlauf der unterirdischen Leitungen wurde dabei in aller Regel nur unvollständig dokumentiert und noch seltener zentralisiert zugänglich gemacht. Seither kann jede Grabung, jeder Weg in den Untergrund – beziehungsweise das Unterbewusste der Städte – für Überraschungen sorgen.()“ (Van Laak 2018, S.67)
Van Laak spricht hier zurecht vom „Unterbewussten der Städte“, denn auch das menschliche Bewußtsein bildet Schichten, zu denen die verschiedenen biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsebenen des Unterbewußten gehören; ein weiterer Grund also, warum das methodische Vorgehen des Historikers van Laak als phänomenologisch bezeichnet werden kann.

Bekannterweise gibt es zahlreiche Nostalgiker, die technische Relikte, wie etwa Oldtimer, aus früheren Zeiten sammeln und restaurieren:
„An ihnen offenbaren sich zeitliche Schichtungen, an sie heften sich nostalgische Erinnerungen an Tempi passati. Alte Bahnhofsgebäude und Oldtimer, die letzten Doppeldeckerbusse Berlins, ältere Computer oder Handys sind sichtbare Relikte einer früheren Zeitschicht.“ (Van Laak 2018, S.203)
Auffällig dabei ist allerdings, daß sich diese Nostalgien selten auf die Infrastrukturen selbst richten, nicht einmal dann, wenn es sich dabei um mal gelbe, mal rote Telephonzellen handelt. Denn bei diesen Telephonzellen handelt es sich wie bei Pilzen nicht um den ‚Pilz‘ selbst, dessen unterirdisches Geflecht unserer Aufmerksamkeit entgeht, sondern um die ‚Fruchtkörper‘, sprich: ‚Endgeräte‘, also um die eigentlichen Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Allenfalls die „Aus- und Einstiege in die Netze“ (van Laak 2018, S.203), also das Verlegen von Kabeln oder der Rückbau von Straßen, erregen punktuell unsere Aufmerksamkeit, werden dann aber auch gleich wieder vergessen.

Noch ein weiterer Aspekt der prekären infrastrukturellen Sichtbarkeit besteht darin, daß Infrastrukturen nicht nur selbst unauffällig sind, sondern auch unsichtbar machen können, wie im Falle der New Yorker „Maulwurfsmenschen“: vorwiegend Obdachlose, aber auch Vietnamveteranen, makrobiotische Hippies, Cracksüchtige, kubanische Flüchtlinge, verurteilte Mörder, Computernerds, philosophierende Einsiedler etc., die sich übergangsweise in die „Gas-, Elektrizitäts-, Kanal- und Eisenbahnschächte() unterhalb New Yorks“ zurückziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Wir haben es also bei diesem ‚Untergrund‘ mit einer modernen Version einer ‚Höhle‘ zu tun, was an Platons Höhlengleichnis erinnert und eine Parallele zur Nutzung gewisser ‚Endgeräte‘, wie etwa den Smartphones, erlaubt, die man auch als tragbare Höhlen bezeichnen könnte, die ihre bis in beide Ohren verkabelten Nutzer sogar dann von der Welt abschirmen, wenn diese Nutzer sich draußen durch den Stadtverkehr oder joggend durch die Natur bewegen.

Da fragt man sich, wer die eigentlichen Höhlenbewohner sind: möglicherweise nicht die Maulwurfsmenschen.

Ein letztes Merkmal der prekären Sichtbarkeit von Infrastrukturen, auf das van Laak in seinem Buch zu sprechen kommt, bildet die öffentliche Hand, die an die Stelle der unsichtbaren Hand des Marktes getreten ist, wie sie Adam Smith beschrieben hat. (Vgl. van Laak 2018, S.62) Diese öffentliche Hand finanziert den Ausbau der Infrastruktur und nutzt dabei die Tendenz infrastruktureller Neuerungen, sogleich im ‚Untergrund‘ zu verschwinden und unsichtbar zu werden, zur „Camouflage“, also zur Kaschierung von Partikularinteressen und Korruption, die von der Tendenz unterstützt wird, daß „(i)mmer umfassender zugängliche Infrastrukturen ... immer unmerklicher zur Verfügung gestellt (werden)“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Neue Infrastrukturen werden selten, eigentlich nie, aufgrund demokratischer Entscheidungen unter Einbeziehung aller vom Bau dieser Infrastrukturen Betroffenen eingeführt. Indigene Bevölkerungen mußten gigantischen Infrastrukturbauten weichen, wie etwa beim Eisenbahnbau in den USA (19.Jhdt.), bei Staudämmen oder bei Straßen durch den Amazonas. Nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien werden Infrastrukturprojekte in dunklen Hinterzimmern beschlossen, wo Profitinteressen ausgehandelt werden. Die Debatten im Bundestag sind dann nur noch Camouflage. So tritt die „öffentliche Hand“ an die Stelle der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, ohne dadurch allerdings an Sichtbarkeit (Transparenz) zu gewinnen.

Das Argument ist immer wieder die Fürsorge des Staates. Die sogenannte ‚Daseinsvorsorge‘. Das paternalistisch fürsorgliche Verhalten des Staates ist vorgeblich am Gemeinwohl ausgerichtet. Aber schon von Beginn an betrieb der Kapitalismus (Stichwort ‚ursprüngliche Akkumulation‘) mit diesem Gemeinwohl sein eigenes perfides Spiel. Das ist die bislang letzte Drehung in der Spirale einer durchgehenden Infrastrukturierung, die aufgrund ihrer phänomenalen Eigenschaften zur scheinbar perfekten Falle für das auf seine Souveränität so stolze Bürgerbewußtsein geworden ist, einer Falle, an der die Bürger selbst unbewußt mitarbeiten. Gäbe es nicht Geschichtssignale wie „Greenwich-Village“ in den 1960er Jahren (vgl. van Laak 2018, S.124), die jahrzehntelange, mehrere Generationen umfassende Anti-Atomkraftbewegung oder heute Stuttgart 21 und den Hambacher Forst, möchte man an der Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen, verzweifeln. Auf dieses Thema werde ich im dritten und letzten Blogpost noch einmal zurückkommen.

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Freitag, 1. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Dirk van Laak bezeichnet in seinem Buch „Alles im Fluss“ (2018) Infrastrukturen als „Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken, indem wir das Leitungswasser laufen lassen, den Strom anschalten, die Bahn besteigen und ins Internet gehen“. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Das verweist zum einen auf ein wichtiges Funktionsmerkmal von Infrastrukturen, nämlich eine möglichst umfassende Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ zu gewährleisten. (Vgl. van Laak, S.51) Zum anderen erinnert das Wort ‚Fließraum‘ an die natürlichen Urbilder der heutigen technischen Infrastrukturen, nämlich Flüsse und Meere:
„Die Seeschifffahrt wird in ihrer Bedeutung für die Zirkulation von Gütern, gerade in der Gegenwart, oft unterschätzt.“ (Van Laak, S.38)
Ähnlich wie Fluglinien und Zugfahrpläne (und parkende PKWs an Straßenrändern und in Garagen) halten das fließende Wasser in den Flüssen und die Winde auf den Weltmeeren Bewegung vor, in die sich Reisende und Güter „im Bedarfsfall einklinken“ können. Dabei prägen diese natürlichen Infrastrukturen ein weiteres Merkmal der heutigen technischen Infrastrukturen vor: sie halten sich nicht an Grenzen. Sie geben an ihre Nutzer einen „grenzüberschreitende(n) Impuls“ weiter, der zum Mantra eines „technokratische(n) Internationalismus“ geworden ist. (Vgl. van Laak 2018, S.102f.) Die heutigen technischen Infrastrukturen stehen im Dienste eines kapitalistisch geprägten Globalismusses, der sich wenig um die regional divergierenden Lebensweisen und Lebensnöte derjenigen schert, die seinen Profitinteressen im Wege stehen, so wenig wie er sich Gedanken über die Begrenztheit von Ressourcen macht, zu deren größtmöglich effektiven Plünderung diese technischen Infrastrukturen ja beitragen sollen.

So steht der grenzüberschreitende Impuls der heutigen technischen Infrastrukturen ineins mit einem globalisierten Kapitalismus für ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum, ein Konzept, das, wie van Laak schreibt, „aber nicht ohne Grund auf dem Prüfstand (steht)“. (Vgl. van Laak 2018, S.12)

Ebenfalls nicht ohne Grund ist hier bisher von den ‚heutigen technischen Infrastrukturen‘ die Rede gewesen. Van Laak macht von Beginn an klar, daß es ihm in seinem Buch nicht um vormoderne Infrastrukturen geht, wie etwa die Fernstraßen Roms und Japans, die chinesischen Kanalnetze, die Bewässerungssysteme in Ägypten, Indien und Mittelamerika oder die zentralasiatische Seidenstraße. (Vgl. van Laak 2018, S.17) Es geht ihm vielmehr um ein bestimmtes neuzeitliches Infrastrukturkonzept, das vor allem der Infrastrukturentwicklung seit dem 18. Jhdt. in Europa und Nordamerika zugrundegelegen hat. Dieses Infrastrukturkonzept weist bestimmte Merkmale auf, an die die Technokraten und mit ihnen die kapitalistische Gesellschaftsordnung – mit durchaus unterschiedlich ausgeprägter ‚Beteiligung‘ der Bevölkerung – geglaubt haben wie an religiöse Dogmen.

Bei diesen Merkmalen handelt es sich allererst um die umfassende Inklusivität von Infrastrukturen:
„Von ‚Infrastrukturen‘ soll hier – gerade in Abgrenzung zu früheren Stadien der Verkehrserschließung, des Informationsaustauschs oder der Fürsorge – daher erst dann gesprochen werden, wenn tendentiell eine Mehrzahl an Menschen im Alltag auf entsprechende Einrichtungen tatsächlich zugreift.“ (Van Laak 2018, S.17f.)
Niemand soll von ihrer Nutzung ausgeschlossen sein, was bei den vormodernen Infrastrukturen van Laak zufolge nicht der Fall gewesen war, da ihre Nutzung „auf repräsentative oder wohlhabende Nutzer beschränkt“ geblieben sei. (Vgl. van Laak 2018, S.80f.) Ein weiteres Merkmal dieses modernen Infrastrukturkonzepts habe ich schon erwähnt: es bildet eigentlich einen Merkmalskomplex, das
  • aus der Vorstellung von der Notwendigkeit einer umfassenden „Zirkulation von Gütern, Menschen und Ideen sowie einer möglichst gleichmäßigen Versorgung und Kommunikation aller Bürger“ (vgl. van Laak 2018, S.17.),
  • aus einer mit den technischen Infrastrukturen verbundenen, gleichermaßen Grenzen überschreitenden wie Grenzen auflösenden Tendenz (vgl. van Laak 2018, S.102ff.)
  • und aus einem mit den Infrastrukturen  verbundenen, ebenfalls unbegrenzten Wirtschaftswachstum (vgl. van Laak 2018, S.12, 14, 59)
besteht, mit dem die europäischen Kolonialmächte meinten – im Glauben, einer „Zivilisierungsmission“ zu folgen –, auch den Rest der Welt beglücken zu müssen (vgl. van Laak 2018, S.138).

Die zunächst innere Infrastrukturierung der nationalen Gesellschaften Europas und dann ihre Ausdehnung auf den ‚Rest‘ der Welt wurde zudem ideologisch mit bis heute immer gleichen und wiederkehrenden Argumenten gerechtfertigt. Demnach ging es im 19. Jhdt. mit den Eisenbahnen und dem Telegraphen, im 20. Jhdt. mit dem Automobil und aktuell im beginnenden 21. Jhdt. mit dem Smartphone vor allem um die Verwirklichung der demokratischen Ideale der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismusses (vgl.i.f. van Laak 2018, S.254):
  • um die „Unabhängigkeit von räumlichen und sozialen Begrenzungen“,
  • um die „Souveränität des Konsumenten“,
  • um die „informationelle Selbstbestimmung“,
  • um die „flexible Entfaltung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit“
  • und um die Autonomie „sich selbst regulierender Individu(en)“.
Marx hatte in diesem Sinne Wilhelm von Humboldts neuhumanistischen Bildungsbegriff in das Konzept einer polytechnischen Bildung umgemünzt.

Die hier aufgezählten Merkmale des modernen Infrastrukturkonzepts entstanden also zeitgleich „mit der Aufklärung, den Revolutionen in den USA und in Frankreich, mit der industriellen Revolution, mit dem liberalen Wirtschaftsbürgertum und der modernen Massengesellschaft“. (Vgl. van Laak 2018, S.17)

Van Laak zeigt zugleich mit den, mit dem Infrastrukturkonzept und seiner Umsetzung verbundenen, technischen und wohlfahrtsstaatlichen Forschritten deren Schattenseiten auf. Dazu gehört z.B. eine spezifische, der Verknüpfung von Zirkulation und Wachstum geschuldete Blindheit des modernen Infrastrukturkonzepts für die durch Produktion und Konsum erzeugten Gifte, für den Müll und für die Abgase. (Vgl. van Laak 2018, S.149ff.) Diese ‚Ausscheidungen‘ fielen lange Zeit aus der Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ heraus und verschwanden im Boden oder in der Luft, ohne daß es jemanden kümmerte:
„Allmenden wie das Wasser, der Boden oder die Luft wurden aber weiterhin ungeniert als Depots für belastende Stoffe benutzt, die dort diffundieren sollten.“ (Van Laak 2018, S.154)
Auf die Problematik eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums wurde schon kurz hingewiesen. Eine fundamentale Frage hinsichtlich der weiteren Entwicklung in den kommenden Jahren wird deshalb sein, wie van Laak in seiner „Zwischenbilanz“ festhält, inwiefern sich die „Verfügbarkeit von Infrastrukturen“ von dem „Konzept der industriellen Wachstumsmoderne“ trennen läßt und inwiefern sich „die globalen Lebensgrundlagen schonendere Alternativen denken und vor allem auch etablieren lassen“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Zu ergänzen wäre die Frage, ob Infrastrukturen so konzipiert werden können, daß sie weniger inklusiv sind, so daß ‚Nutzer‘ die Chance haben, sich gegen ihre Nutzung zu entscheiden. Denn hier haben wir es mit einer weiteren Schattenseite der modernen Infrastrukturentwicklung zu tun. Van Laak zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Infrastrukturen an den Bedürfnissen von Nutzern vorbei und immer wieder auch eindeutig gegen ihre Interessen installiert wurden. Beliebtes ‚Argument‘ bei ihrer Durchsetzung war immer wieder das „Gemeinwohl“-Interesse, dem sich einzelne renitente Bürger zu beugen hätten. (Vgl. van Laak 2018, S.21, 23, 43) Dabei wurde den Infrastrukturen eine ‚neutrale‘, unpolitische Funktion unterstellt, so daß diejenigen, die sich für ihren Ausbau einsetzten, sich selbst den Anschein eines überpolitischen Engagements geben konnten:
„Ansonsten handelt es sich um einen Politikbereich, der sich oft ausdrücklich unhistorisch, ja unpolitisch gibt, weil er für sich beansprucht, keine spezifischen Interessen zu betreffen, sondern der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl zu dienen. Dieses zeit- und politikferne Labeling ist ein integraler Bestandteil des Konzepts Infrastruktur.“ (Van Laak 2018, S.21)
Zu den Opfern einer so begründeten Planungs- und Entscheidungshoheit gehörten an prominenter Stelle die Indianer, die dem us-amerikanischen Eisenbahnbau im 19. Jhdt. weichen mußten (vgl. van Laak 2018, S.41f.), und bis heute gehören dazu indigene Bevölkerungen des Amazonas und anderswo auf der Welt, die von gigantischen Staudammbauten entwurzelt werden und deren Lebensräume von Straßenbauprojekten fragmentiert werden. Aber auch in Europa selbst verweigerten sich oft regionale Nutzer dem Anschluß an neue Infrastrukturen, wie z.B. an die Stromversorgung:
„Die Energieanbieter bemühten sich zunächst, Konflikte zu umgehen, indem sie im Vorfeld aufzuklären versuchten. ... Waren die Widerstände renitent, wurde zunächst meist nachverhandelt. Nutzte auch dies nichts, wurden oft unverständlich schwadronierende Experten aufgefahren, die mit Sachzwängen argumentierten. Beeindruckte auch das nicht, drohten die Gesellschaften mit rechtlichen Schritten oder damit, die Widerständigen vom künftigen Strombezug auszuschließen.()“ (Van Laak 2018, S.77)
Während des Nationalsozialismusses wurde ein Energiewirtschaftsgesetz geschaffen, das einen „Anschlusszwang für die Nutzer sowie eine Anschlusspflicht für die Anbieter“ durchsetzte. (Vgl. van Laak 2018, S.111) Noch drastischer wirkt sich eine bis zum Beginn des 19. Jhdts. zurückreichende Reihe von Enteignungsgesetzen aus, auf deren Grundlage im Zuge des Braunkohletagebaus in Nordrhein-Westfalen die Bevölkerungen ganzer Dörfer enteignet und vertrieben wurden, selbstverständlich im besten Gemeinwohlinteresse. Wie üblich begründete der Betreiber RWE die Abholzung des Hambacherforstes zunächst mit dem allgemeinen Interesse an einer gesicherten Stromversorgung und offenbarte dann angesichts eines gerichtlichen Rodungsverbots das eigentliche Motiv, indem er sich öffentlich über die zu erwartenden Gewinnverluste beklagte.

Beeindruckend sind van Laaks Schilderungen der Interessenkonflikte, die bei der Planung und der Realisierung von Infrastrukturen aufeinanderprallen auch deshalb, weil diese Vorzeigeprojekte der industriellen Moderne, diese vielgepriesenen Ingenieursleistungen, viel weniger rational umgesetzt wurden und werden, als die Politik uns gerne glauben machen möchte. Tatsächlich werden mit den üblichen, schon genannten Argumentationsschablonen nur die verschiedenen Partikularinteressieren camoufliert:
„Die heutigen Infrastruktur-Netze sind das Resultat von unzähligen Entscheidungen im Schnittfeld von Technik, Wirtschaft und Politik, von individuellen und partikularen Interessen. Es finden sich außerdem stets Konstellationen des Augenblicks oder des Zufalls darin.“ (Van Laak 2018, S.281)
Die Realisierung von Infrastrukturprojekten ist deshalb ein ständiger Kampf mit divergierenden Partikularinteressen, wofür nicht zuletzt Stuttgart 21 steht. Van Laak verweist auf den erfolgreichen Widerstand der Stadtbevölkerung der Bronx in den 1950er Jahren gegen die ‚Sanierung‘ ihres Stadteils mit Stadtautobahnen (vgl. van Laak 2018, S.123) und auf den ebenfalls erfolgreichen Widerstand der Bevölkerung gegen eine „Flächensanierung des Greenwich Village“ in den 1960er Jahren. (Vgl. van Laak 2018, S.124) Erstmals im 20. Jhdt. mußten Städteplaner und Architekten zur Kenntnis nehmen, daß sie ihre Pläne nicht mehr über die betroffenen Anwohner hinweg umsetzen konnten, die sich an anderen Werten als an denen eines gleichsam naturwüchsigen ‚Fortschritts‘ orientierten, und zwar an den Werten einer „intakten Nachbarschaft, gewachsener sozialer Strukturen und historischer Identitäten“, und die „ökologische Bedenken“ artikulierten. (Vgl. ebenda)

In zweierlei Hinsicht kann man hinsichtlich des modernen Infrastrukturkonzepts von einer Infrastrukturfalle sprechen: zum einen bringt die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Infrastruktur und Wohlstand es mit sich, daß jeder Ausstieg aus diesem Konzept Ängste hinsichtlich eines damit einhergehenden Wohlstandsverlustes hervorruft:
„So ist die paradoxe Situation entstanden, dass die Gesamtsituation verändert werden muss, man aber zugleich den einmal erreichten und in die Alltagsroutinen eingeschriebenen Komfort nicht gefährden will.“ (Van Laak 2018, S.286)
Diese Sorge ist der Grund dafür, daß statt der notwendigen grundsätzlichen Kehrtwende zu einem anderen Wohlstands- und Wirtschaftskonzept vor allem an Techniken geforscht wird, die den ‚Verbrauch‘ der bestehenden Technologien reduzieren. Van Laak bezeichnet das als „End-of-pipe-Technologie“:
„Denn verändert wird letztlich nur, was an Emissionen aus den Rohren strömt.“ (Van Laak 2018, S.286)
Zum zweiten wächst mit der zunehmenden Infrastrukturierung der Gesellschaft die Abhängigkeit der Menschen von diesen Infrastrukturen, und das macht jeden Ausfall eines Infrastrukturmoduls, etwa der Stromversorgung, aufgrund der Vernetzung der verschiedenen Infrastrukturen zu einer Katastrophe:
„Eine Falle der heute umfassenden Vernetzung besteht jedoch darin, dass – bei aller durch selbstoptimierte Menschen zur Schau gestellten outdoor- und survival-Kompetenz – solche Praktiken der Improvisation wie etwas das Reparieren von technischen Geräten oder scheinbar überlebte Kulturtechniken wie Feuermachen oder Kochen bei vielen Jüngeren kaum noch abrufbar sind.() ... Je besser eine Gesellschaft in ihren Versorgungseinrichtungen funktioniert, umso stärker wirkt sich jede Störung aus.()“ (Van Laak 2018, S.230)
Van Laaks Buch bietet keine umfassende, systematische Geschichte der Infrastruktur. Sein Interesse gilt vor allem der Perspektve der „Zeitgenossen“ in ihrer jeweiligen Gegenwart, wie sie die Infrastrukturen ihrer Zeit erlebt und als Normalfall wahrgenommen haben. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Die von van Laak angeführten Beispiele und Episoden sind „subjektiv gefärbt und werden in fortgesetzten Wechseln zwischen punktuellen Geschichten und globalen Einordnungen vorgestellt, als in einem sehr wörtlichen Sinne miteinander verflochtene Episoden“. (Vgl. van Laak 2018, S.14)

Van Laaks Methode ist deshalb im engeren Sinne phänomenologisch. Es geht nicht einfach um eine systematisch-begriffliche Analyse des von ihm beschriebenen Infrastrukturkonzepts, sondern um die aus Betroffenenperspektive prekäre Sichtbarkeit der Infrastrukturen. Das für Infrastrukturen typische Changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erinnert an den Begriff der Lebenswelt, so daß man sagen kann, daß es sich bei der Infrastruktur um das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt handelt. Dieses prekäre Moment der Infrastruktur, ihre Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, wird so zu einem willkommenen Instrument techno-politischer „Camouflage“, und zwar mit steigender Tendenz:
„Immer umfassender zugängliche Infrastrukturen werden immer unmerklicher zur Verfügung gestellt.“ (Van Laak 2018, S.287)
Van Laaks Buch bietet für die kritische Leserin, den kritischen Leser eine Fülle an Material zu den anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen unserer Zeit, ein Buch also, dem der Rezensent eine zahlreiche Leserschaft wünscht.

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Samstag, 23. Februar 2019

Mein persönlicher Karl May II

Ich weiß noch, wie mir die Mutter eines Spielkameraden stolz eine Reihe von Karl-May-Büchern auf dem Bücherbrett ihres Sohnes zeigte. Ich stand starr vor Staunen vor diesen Wälzern, deren Seiten voller gedruckter Buchstaben waren, ohne einem einzigen Bild dazwischen, und ich konnte es nicht fassen, daß jemand fähig war, das alles zu lesen, sprich: mühsam Buchstabe für Buchstabe zu entziffern. Meine damalige Lektüre war geprägt von Enid Blytons „Fünf Freunde“ und Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“.

Erst als ich nach einer Blinddarmoperation eine Woche im Krankenhaus verbringen mußte und meine Eltern mir ein Karl-May-Buch, „In den Kordilleren“, schenkten, zwang mich die Langeweile, dieses Buch zu lesen, und es dauerte nicht lange, und ich war ‚angefixt‘. Es brauchte noch ein Weilchen, bis ich dahinterkam, daß der „El Sendador“ in dem Buch Old Shatterhand war, und auch Kara Ben Nemsi, und alle waren Karl May. Ich war begeistert! – Als ich ältere Karl-May-Bücher in die Hände bekam, von vor dem Krieg, hielt mich sogar die Frakturschrift mit ihren unleserlichen großen Ks, Gs und Rs und den verschiedenen Varianten von ‚s‘ nicht davon ab, diese Bücher zu verschlingen. Die richtigen Buchstaben erriet ich einfach aus dem jeweiligen Satzkontext.

So lernte ich lesen, also nicht Buchstabe für Buchstabe entziffernd, sondern so, daß sich in meinem Kopf ein innerer Film abspulte. Das war übrigens Friedrich Kittler zufolge die kulturelle Voraussetzung dafür, daß so etwas wie ein Kino entstehen konnte. Die Menschen waren darauf vorbereitet gewesen, weil sie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, also in der Romantik, damit begonnen hatten, Bücher so zu lesen, als würden sich nicht Worte, sondern Bilder vor ihren geistigen Augen abspulen wie ein Film.

Ich habe jedes von über 70 Karl-May-Büchern gelesen. Wirklich jedes! Der Mix aus Abenteuer und christlicher Frömmigkeit prägte mich zutiefst. Es brauchte lange, bis ich aus dieser kindlichen May-Seligkeit herauswuchs. Als Mays alter ego Kara ben Nemsi in den letzten beiden Bänden des „Silberlöwen“ den Henrystutzen aus der Hand legte, um sich fortan ausschließlich den tiefsten Menschheitsfragen zu widmen, bedauerte ich das sehr, versuchte aber, mir diesen neuen Ton in Mays Werk zueigen zu machen.

Der nächste Schritt, zu Büchern, die keine Abenteuer mehr erzählten, sondern den Lesern nur staubtrockenes abstraktes ‚Wissen‘ boten, fiel mir ähnlich schwer wie einst der von den bebilderten Kinderbüchern hin zu Mays textlastigen Romanen. Während meines Studiums umkreiste ich teils eingeschüchtert, teils neugierig die dicken, so eng be- wie klein gedruckten Wälzer der Germanistik, der Theologie und der Erziehungswissenschaft, und ich fragte mich, ob es mir jemals gelingen würde, diese Expertenphrasiologie zu durchdringen und sie mir sogar so weit anzueignen, um irgendwelche Examina zu bestehen. Es ist mir tatsächlich gelungen. Und es waren nicht zuletzt Mays Reiseromane, mit denen ich die erste Stufe in diese Richtung genommen hatte.

Diesen Dank schulde ich ihm. Das Beste, was ich von ihm an dieser Stelle sagen kann: Er war ein Anachronist; wie ich.

PS (04.10.2023): Was den El Sendador betrifft, handelt es sich um eine falsche Erinnerung. Der El Sendandor ist nicht identisch mit dem Ich-Erzähler, sondern im Gegenteil der Hauptbösewicht.

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Freitag, 22. Februar 2019

Mein persönlicher Karl May I

Als Kind stand ich sehnsüchtig vor den Kinoplakaten, auf denen Pierre Brice als Winnetou und Lex Barker als Old Shatterhand posierten; es kam aber nie dazu, daß ich die Filme im Kino sehen konnte. Erst als meine Eltern einen Fernseher anschafften, konnte ich die Filme sehen, aber irgendwie war das dann nur noch enttäuschend. Die Action verlief im Zeitlupentempo, während gleichzeitig pathetische Reden geschwungen wurden. Und wenn die Darsteller mit ihren Pferden steif über die Prärie hoppelten, hatte das mit den von Karl May so fesselnd beschriebenen Ritten auf Hatahtitla und Iltschi wenig zu tun. Galopp geht anders.

Als 2016 dann „Winnetou – Der Mythos lebt“ mit Nik Xhelilaj als Winnteou und Wotan Wilke Möhring als Old Shatterhand in die Kinos kam – Regie: Philipp Stölz –, habe ich zwar den Film wieder nicht im Kino angeschaut; aber ich habe mir natürlich die DVDs besorgt, sobald sie herauskamen. Was ich da zu sehen bekam, war die übliche Enttäuschung, was die Action betrifft. Deutsche Filme können das einfach nicht! – Dabei fand ich die beiden Hauptdarsteller wirklich gut, und auch einige Nebendarsteller, u.a. Milan Peschel als Sam Hawkins, haben mir gefallen.

Es wurden auch einige wünschenswerte Korrekturen an Mays „Winnetou I“ (1893) vorgenommen. Ich habe als Kind nie verstanden, warum dieser Old Shatterhand Nscho tschi nicht heiraten wollte! Ich fand das richtig ärgerlich. Alle die dramatischen Ereignisse, die diese Weigerung auslösten, bis hin zu Nscho tschis und Intschu tschunas Tod wären nicht passiert. Mays latenter Rassismus, der in Old Shatterhands Heiratsverweigerung zum Ausdruck kam (bloß keine Mischlingskinder!), wird in der Neuverfilmug korrigiert. Im zweiten Teil, „Das Geheimnis vom Silbersee“, darf Nscho tschi ihren Old Shatterhand heiraten. Ich finde das sehr befriedigend.

Außerdem ist der von Wotan Wilke Möhring gespielte Old Shatterhand kein frommer Christ, sondern ein aufgeklärter Skeptiker. Wenn es dann im Verlauf der Filmhandlung doch noch zum Glauben bei ihm kommt, dann nicht an Christus, sondern an die magischen Kräfte der Schamanin Nscho tschi, die ihm das Leben rettet. Auch das finde ich erfreulich.

Interessanterweise wird im Film der Vater Old Shatterhands von Winnetou wegen seiner Verdienste als Vorkämpfer für die sozialen Rechte der Arbeiter zum Ehren-„Apache“ gekürt. Beide Eigenschaften aber, Old Shatterhands Religionsskeptizismus und die sozialrevolutionäre Einstellung seines Vaters, sind im Original die Eigenschaften von Klekih-petra, dem weißen Lehrer und Erzieher Winnetous, der auf der Flucht vor den Folgen seines politischen Wirkens bei den Apatschen Zuflucht gefunden hatte und schließlich beim Versuch, Winnetou das Leben zu retten, den Tod findet. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou I. KMW-IV.12, S.39ff. (Greno Verlag)) Tinka Edel, die Autorin des Buches, das der Neuverfilmung zugrundeliegt, hat also die Figur von Klekih-petra mit der von Old Shatterhand kompiliert, was, wie ich finde, eine reizvolle neue Perspektive auf die Old Shatterhand-Figur ermöglicht.

Zum Schluß wird Old Shatterhand sogar der Häuptling der Apatschen, was zwar auch der ursprüngliche Old Shatterhand von Karl May war, aber mit der von Karl May sich unterscheidenden Pointe, daß Old Shatterhand der technokratischen Zivilisation den Rücken kehrt. Fortan träumt er nicht mehr von fliegenden Restaurants und sechsstöckigen shopping malls, sondern vom Wind in Gräsern, Büschen und Baumwipfeln auf der Prärie.

Schön erzählt finde ich auch die Liebesaffäre zwischen Sam Hawkins und Belle (Henny Reents).

Was mich aber wirklich ärgert, sind diese absolut stümperhaften Angriffe der Apatschen auf die Weißen, auf die Stadt Roswell im ersten Teil, und auf das Ölfeld von Santer jr. im dritten Teil. Im ersten Teil greifen die Apatschen nachts Roswell an. Wie machen die das? Winnetou sitzt auf seinem Pferd und hält eine hell lodernde Fackel in der Hand, während er auf die nächtliche Stadt hinabblickt. Wie dämlich muß man eigentlich sein? Nichts mit Anschleichen und Strategie und so’n Zeug. Seht alle her, hier bin ich, eine lebende Zielscheibe, und damit ich noch besser von euch gesehen werden kann, trage ich diese Fackel!

Winnetou schwenkt die Fackel sogar hin und her, für den Fall, daß man ihn da unten in der Stadt noch nicht gesehen haben sollte! – Auf dieses Zeichen hin, ein blöderes Zeichen ist ihnen nicht eingefallen, treten nun die anderen Apatschenkrieger aus dem Wald hervor und, ja tatsächlich!, zünden nun auch ihre Fackeln an. Und so reiten sie alle zusammen mit ihren lodernden Fackeln, und mit viel Kriegsgeschrei, in die Stadt hinunter. Da unten scheinen sie alle zu schlafen, denn niemand ist zu sehen. Ist das zu fassen? Dabei hatten sie doch am Tag vorher noch ihr Kommen angekündigt! Wahrscheinlich denken sich die tapferen Apatschenkrieger, daß sie ihre Feinde mit ihrem Kriegsgeschrei erst noch wecken müssen.

In der Stadt haben sich natürlich alle versteckt. Aber Rattler, der fiese Bösewicht, hat ein modernes Maschinengewehr aufgestellt und wartet in aller Ruhe, bis die Apatschen nah genug herangekommen sind. Jetzt sieht man auch, warum die Apatschen Fackeln mitgenommen haben. Sie zünden mit ihnen alles mögliche an. Heuhaufen und so. Tolle Idee! Es wird jetzt taghell, bestes Büchsenlicht also, um abgeknallt zu werden. Und das macht Rattler auch, mit dem Maschinengewehr und seine Mitstreiter mit Gewehren und Revolvern. Kein Apatsche überlebt. Abgesehen natürlich von Winnetou. Es gibt ja noch zwei Teile.

Im dritten Teil gibt es einen ähnlich dämlichen Angriff auf das Ölfeld von Santer jr. Diesmal am hellichten Tage und ohne Fackeln. Die Apatschen reiten wieder ohne jede Strategie im Pulk, damit sie besser erschossen werden können, eine Attacke, mit viel Geschrei, damit die Ölarbeiter auch möglichst früh bemerken, daß sie angegriffen werden und rechtzeitig Deckung nehmen können, aus der heraus sie in aller Ruhe auf die völlig schutzlosen Apatschenkrieger schießen können, bis außer Winnetou, Old Shatterhand, Belle, Sam Hawkins und Nscho tschi niemand mehr übrig ist. Warum machen die Apatschen das so? Wer hat dieses dämliche Drehbuch geschrieben?

Und die Bösewichter? Sie sind auf schrecklich klischeehafte Weise böse. Insbesondere im zweiten Teil geht einem das dreckige Lachen der mexikanischen Banditen auf die Nerven. Denn was tun Banditen die ganze Zeit anderes als dreckig zu lachen? Jedenfalls scheint der Regisseur dieser Meinung zu sein. Der von Fahri Yardým gespielte Banditenboß El Mas Loco macht irgendeine Bemerkung, die ein Witz sein soll, aber nur seinen völligen Mangel an Intelligenz bezeugt, und natürlich lacht die ganze Bande, selbstverständlich dreckig. Alle Monologe des Banditenbosses werden von dem ständigen dreckigen Gelächter seiner Leute begleitet, es sei denn sie schweigen gerade betroffen, weil der Boß wiedermal einen von ihnen erschossen hat. – Wenn Old Shatterhand in diesem zweiten Teil nicht Nscho tschi heiraten würde, könnte man ihn, also den zweiten Teil, komplett vergessen.

Im zweiten Teil kommt Old Shatterhand übrigens in den Besitz seines berühmten Henrytutzens. Völlig unspektakulär: er nimmt ihn im Haus von Sir Henry von der Wand und sagt: „Ich brauche den jetzt mal!“

Sonst spielt der Henrystutzen eigentlich keine Rolle. Bei dem gescheiterten Befreiungsversuch von Nscho tschi bedroht Old Shatterhand mit dem Henrystutzen den Banditenboß, der sich aber nicht weiter davon beeindrucken läßt und Old Shatterhand mühelos überwältigt. Das waffentechnische Meisterstück von Sir Henry, diese Wunderwaffe, mit der, ohne nachzuladen, fünfundzwanzigmal geschossen werden kann und um die sich im ganzen Wilden Westen Legenden ranken, wird dann von Nscho tschie als Keule benutzt, mit der sie Loco von hinten niederschlägt.

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Donnerstag, 21. Februar 2019

Karl May: Alles Gold der Indianer

Noch einmal zurück zu „Winnetous Erben“ (1910): Zu der Zeit, in der Mays Roman spielt, zu Beginn des 20. Jhdts., sind die amerikanischen Ureinwohner fast vollständig vernichtet. Trotzdem imaginiert May einen großen indianischen Aufbruch in eine glänzende Zukunft, garniert mit einem drohenden Angriff von 4.000 – sage und schreibe viertausend! – feindlichen Indianern, die ihren fortschrittsorientierten Brüdern (und Schwestern) am Mount Winnetou in den Rücken fallen wollen, um ihre Erb- und Todfeinde, Old Shatterhand an der Spitze, zu vernichten.

Als wenn die damals noch lebenden Nachkommen von Sitting Bull und Chief Joseph nicht andere Probleme gehabt hätten!

Karl May war, bevor er „Winnetous Erben“ schrieb, tatsächlich ein einziges Mal in seinem Leben selbst in US-Amerika gewesen, 1908, zwei Monate, und hatte dort ein Indianerreservat besucht. Nun findet sich folgende Stelle in seinem letzten Buch, wo er die Bewohner von „Mount Winnetou“ beschreibt und ihnen ein außerordentlich sauberes und intelligentes Aussehen attestiert:
„Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinnes, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint.“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.418 (Greno Verlag))
Man fragt sich, wo May die „indolenten Papusengesichter“ anderswo gesehen haben mag. In jenem Indianerreservat? – Es gibt ein einziges Photo Mays in einem Indianerreservat. Dort schaut er, halb verdeckt durch einen aus Baumrinden bestehenden ärmlichen Tipi, etwas verschämt in die Kamera, neben ihm ein Tuscarora-Indianer, und vor ihnen, an den Tipi gelehnt, zwei Kinder.

Die Indianerfamilie auf diesem Photo sieht nicht so aus, als hätte sie Kenntnisse von den enormen Goldmengen, die „alle, alle Stämme der Indianer zu liefern“ haben, um mit ihnen eine Riesen-Winnetoustatue auf einsamer Bergeshöhe zu errichten: „Ein Denkmal von purem, glänzendem Golde!“ – Aber wahrscheinlich hält sie dieses Gold ja auch geheim, in „all den Bonanzen, Lagern und Nuggetverstecken“, wie es die Indianer „jahrhundertelang“ zu tun pflegten? Und lebt lieber in Armut, als sich mit seiner Hilfe das Leben zu erleichtern? (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; vgl. KMW-V.7, S.205 (Greno Verlag))

Die Riesengoldstatue ist nicht May-Shatterhands Idee, sondern die Idee fehlgeleiteter Freunde und Verehrer, der Brüder Old Surehand und Apanatschka und ihrer Söhne. Und May-Shatterhand will zusammen mit Tatellah-Satah die Ausführung der Idee verhindern. Ihre Perversität wird also von den wirklichen Winnetou-Freunden durchaus durchschaut. Aber niemandem kommt es in den Sinn, daß die Ausführung selbst, also die Heranschaffung der vielen ‚Zentner‘ des dazu nötigen Goldes, irgendwelche Probleme bereiten könnte. Daß die indianischen Nationen tatsächlich jederzeit Zugriff auf reiche verborgene Bodenschätze haben, wird nicht in Frage gestellt.

Irgendwie mißlingt hier Winnetous Verherrlichung – nicht nur im Sinne der Errichtung einer Statue, sondern auch im Sinne eines weltumfassenden Clans der Winnetous und der Winnetahs – aufs Gründlichste. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen historischen Misere erscheint sie einfach als unangemessen, und dieses Buch wäre wohl besser nicht geschrieben worden. Auf den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg ist Mays Winnetou allemal besser aufgehoben als im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts.

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Mittwoch, 20. Februar 2019

Karl Mays evolutionsbiologischer Symbolismus

Karl May behauptet in seinem Spätwerk immer wieder, alle seine Reiseerzählungen seien symbolisch zu verstehen und verfolgten einen gemeinsamen Plan: die Darstellung der Entwicklung des Menschengeschlechts aus der biologischen Materie zum Geist bzw., auf individueller Ebene, des Gewaltmenschen zum Edelmenschen (nicht zu verwechseln mit Nietzsches Übermenschen). Eine seiner Figuren in „Und Friede auf Erden“ (1901/1904), der ‚Governor‘, beschreibt das symbolische Muster: Karl May bzw. sein alter ego „Kara Ben Nemsi“ oder „Old Shatterhand“ bereise die Welt, „um Rassen, Völker und Einzelmenschen auf ihre Psychologie hin anzusehen“, und entkleide „sie dann ihrer sichtbaren Körper“, um sie „in ganz anders gemeinten Gestalten zu beschreiben“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.364 (Greno Verlag))

In seiner Autobiographie (1910) faßt Karl May die symbolische Struktur seiner Reiseerzählungen so zusammen:
„Meine ‚Reiseerzählungen‘ haben, wie bereits erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.“ (Karl Mays Werke: Mein Leben und Streben. KMW-VI.3, S.209 (Greno Verlag))
Mays Romanfiguren bilden also keine individuellen Charaktere, sondern stehen für Prinzipien oder Funktionen im Rahmen der Menschheitsentwicklung. Zu diesen Funktionen gehören ‚Gut‘ und ‚Böse‘, aber nicht im Sinne eines individuellen Schicksals, das sich auf welchen Umwegen auch immer in die eine oder andere Richtung hin entwickelt, sondern als Momente eines göttlichen Heilsplans. So heißt es in „Ardistan und Dschinnistan“ (1909):
„Denn, aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren Mir von Dschinnistan und dem Verräter ‚Panther‘ um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den Letzteren durch den Ersteren bezwingt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan II; KMW-V.6, S.415 (Greno Verlag))
Der „Mir von Ardistan“ ist der Gewaltmensch, der sich zum Edelmenschen entwickeln soll, der „Mir von Dschinnistan“ nimmt hier, wie überhaupt alle Herrscher in Mays Spätwerk, die Stelle Gottes ein, und der „Panther“, der zweitgeborene Sohn eines arabischen Scheiks, ist der unverzichtbare Antagonist, an dem sich der Protagonist zum Edelmenschen emporentwickeln muß. Dabei ist in „Dschinnistan“ der Funktionalismus der Romanfiguren so weit auf die Spitze getrieben, daß die Menschen keine Namen mehr tragen, sondern nur noch Funktionsbezeichnungen, wie Abd el Fadl, ein Dschinnistani, erläutert:
„Dort (nämlich in Dschinnistan – DZ) ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf (überein). Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein ‚Diener der Güte‘ zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, Alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen?“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.452 (Greno Verlag))
‚Dschinnistan‘ ist nicht umsonst das Land der ‚Geister‘ (Dschin). Seine Bewohner sind wie die Engel der christlichen Mythologie nur Funktionsträger. Sie sind nichts für sich selbst.

Frühe Symbolisierungsebenen

Lange hatte man Karl May nicht geglaubt, daß auch seine früheren Reiseromane in diesem Sinne symbolisch zu lesen seien. Man glaubte vielmehr, hier handele es sich nur um die Rückprojektion eines alternden Schriftstellers, der lediglich versuchte, seine früheren, unter dem Druck von Terminen und aufgrund von Geldnot in fliegender Hast niedergeschriebenen und ohne Korrektur abgelieferten Schriften mit zweifelhafter literarischer Qualität im nachhinein aufzuwerten. Als dann aber Mays lange verschollenen „Geographischen Predigten“ (1875) wiederentdeckt wurden, mußte man einsehen, daß an Mays Behauptungen etwas dran war.

Eigentlich ist es verwunderlich, daß man so lange daran gezweifelt hatte, denn allein schon „Weihnacht“ (1897), ein teilweise in Deutschland, teilweise in Nordamerika spielender Reiseroman, ist schon vom Titel her an Symbolik kaum noch zu überbieten. Die zeitliche Nähe zu „Am Jenseits“ (1899) und die thematische Nähe zu „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) macht diesen noch klassischen Reiseroman geradezu zu einem Vorläufer von Mays im engeren Sinne symbolischem Spätwerk.

Insgesamt beschränkt sich aber der Symbolismus der klassischen Reiseromane auf holzschnittartige Charakterbeschreibungen vor dem Hintergrund von symbolisch aufgeladenen Landschaftsbildern und Naturereignissen, die zugleich als Hintergrund für ebenso ausführliche religiöse Reflexionen über Gottes Wirken auf Erden dienen und nicht selten in Gebet und Meditation münden. Das Ganze ist von einem ständigen christlich-humanistischen Anschauungsunterricht hinsichtlich Gottes Güte und Allmacht durchzogen und erzählt von der Erfolglosigkeit bösartiger Absichten und der Belohnung christlicher Tugenden.

Besonders liebte es Karl May, die Bestrafung der Übeltäter an ihren eigenen Worten auszurichten, und zwar durch unmittelbares Eingreifen Gottes. Wenn die Bösewichter etwa ihre Untaten hartnäckig leugneten und zur Bekräftigung Flüche ausstießen wie „Ich will verdammt sein, wenn ...“, – dann orientierte sich Gottes Strafe exakt am Wortlaut: „Ich will zerschmettert sein, wenn ...“, – also wird der Übeltäter durch einen Sturz in einen Abgrund zerschmettert; „Ich will erblinden, wenn ...“, – also stürzt bei einem Blizzard ein Schuppen über dem Übeltäter ein und ein herabstürzender Balken raubt ihm das Augenlicht; „Ich will vom Blitz getroffen werden, wenn ...“, – also wird der Übeltäter von einem Blitz getroffen; „Ich will zerschmettert und ertränkt sein, wenn ...“, – also werden dem Übeltäter in einer Folge von Unfällen Arme und Beine gebrochen und anschließend ertrinkt er in einem passender Weise in der Nähe befindlichen See oder Meer.

Autors Feder – Gottes Finger

Aber auch Karl May selbst, in Gestalt seiner alter egos Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, macht oft, von höherer Einsicht geleitet, unheilvolle Prophezeiungen, die sich dann erfüllen. In „Winnetous Erben“ (1908-1909) spricht ihn seine Frau darauf an:
„Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S. 414 (Greno Verlag))
Und natürlich wird sich Mays „Wort“ erfüllen, und die Winnetou-Statue wird in den Höhlen unterhalb des Platzes vorm Schleierfall versinken.

Hier haben wir es mit einem weiteren symbolischen Moment zu tun. Nicht nur die diversen alter egos treten als Stimme Gottes auf, auch der Erzähler Karl May selbst überhöht die Struktur seines Plots zu einem Gottesbeweis: nichts in den unwahrscheinlichen Handlungsverläufen verläuft zufällig, denn hier wirkt des Autoren Feder als Gottes Finger. Karl May als Metatron. Wenn sich die verschiedenen Ereignisstränge wiedermal besonders auffällig, sich zum Guten auflösend, bündeln, wird das auf Gottes Plan zurückgeführt. So auch in „Weihnacht“, wo Old Shatterhand zwei Reiter trifft, einer der beiden ist der von ihm gesuchte Pelzhändler und Familienvater Hiller, den er eigentlich aus der Gefangenschaft bei den Upsarokahs hatte befreien wollen, und der andere ist Sannel, ein befreundeter Westmann, dessen gestohlenes Gewehr er noch vor wenigen Wochen in der Hand gehalten hatte und den er für tot gehalten hatte, dem er aber just in dem Moment begegnet, wo er sich gerade auf der Spur des Diebes befindet.

Es falle ihm gar nicht ein, schreibt May-Shatterhand, diese „Begegnung mit Hiller und dem alten Amos Sannel für Zufall zu halten“:
„Gott hatte es gewollt, daß wir uns treffen sollten. Der Weg, welchen sie zurückgelegt hatten, wäre von keinem nur einigermaßen erfahrenen Westmanne eingeschlagen worden; er war so außerordentlich beschwerlich, daß es ein außer ihnen liegender Wille gewesen sein mußte, der sie veranlaßt hatte, vom Poison- und Agir-Creek so schnurgerade über das vollständig pfadlose Gebirge herüberzukommen. Die Verhältnisse lagen so, daß sie grad in diesem Augenblicke und grad auf diesem Wege hatten kommen müssen, um da zu sein, wo sie gebraucht wurden.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.446 (Greno Verlag))
Immer wieder meditieren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi auf diese Weise über ‚Fügung‘ und ‚Zufall‘ und sichern so gleichermaßen die Glaubwürdigkeit des Erzählten, wie das Erzählte Gottes Handeln bezeugt. Letztlich funktioniert nämlich Gottes Handeln nach demselben Prinzip wie Mays Erzählungen: „Der Mensch glaubt, zu schieben, und er wird geschoben“ (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.144 (Greno Verlag)), – als wäre er eine Figur in einem Karl-May-Buch.

Maskeraden

Als symbolisch könnte man auch die Maskeraden nehmen, die May-Shatterhand so gerne spielt. Old Shatterhand gibt sich als jemand anderes aus, z.B. als ein gewisser „Meier“, der Bücher schreibt, und man hält ihn dann für einen Simpel bzw. für ein Greenhorn, den keiner ernstzunehmen braucht. So wie Mr. Watter in „Weihnacht“, der sich seiner angeblichen Bekanntschaft mit Old Shatterhand brüstet, ohne zu ahnen, daß dieser ihm gegenüber sitzt:
„Ihr seid nicht einmal ein Greenhorn; Ihr wißt weder Gix noch Gax von dem Wildwest und seinem Leben; ich aber bin ein Westmann, welcher sich in jeder Lage auskennt; ja, ich kann dreist behaupten, daß ich mich selbst vor Leuten wie Winnetou, Old Shatterhand, Old Firehand und anderen nicht zu verstecken brauche; und da setzt Ihr Euch her zu mir und sprecht von Fehlern, die ich gemacht haben soll, und macht mir Vorschläge, über die ich eigentlich mich gar nicht ärgern, sondern lieber grad hinaus lachen sollte! Ihr habt doch wohl auch einmal sagen hören, daß der Mops den Mond anbellt? Nun, der Mond bin ich, und das weitere wollt Ihr Euch gefälligst selbst denken!“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.164 (Greno Verlag))
Symbolisch könnte man solche Szenen nehmen, weil May hier einen Hinweis darauf gibt, daß sich hinter „Old Shatterhand“ noch etwas anderes verbirgt als Karl May selbst, der seine Identität mit dem Protagonisten leugnet: nämlich ein ‚Geist‘ auf der Suche nach seiner ‚Seele‘; oder besser: eine ‚Seele‘ auf der Suche nach ihrem ‚Geist‘, also ein Mensch auf dem Weg zum Edelmenschen. Wir haben es zwar tatsächlich mit einer Maskerade zu tun, aber eben anders, als es sich der auf die erzählte Handlung fixierte Leser denkt.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß sich Mays Symbolismus vor allem dort ausprägt, wo May als Ich-Erzähler auftritt. In „Der Schatz im Silbersee“ (1890/1891), wo Old Shatterhand nicht mit dem auktorialen Erzähler ‚identisch‘ ist, fehlt diese symbolisch überhöhte Betrachtungsweise von Landschaften, Menschen und Ereignissen. Hier darf dann auch der meines Wissens einzige Afroamerikaner in Mays Büchern auftreten, der keine alberne Babysprache sprechen muß. Was schon dem Karl-May-erfahrenen Leser auffällt, wird von dem Autor selbst übrigens als ein besonders bemerkenswerter Umstand eigens erwähnt: „Er sprach sein Englisch wie ein Weißer.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.53 (Greno Verlag))

Weiterhin ist erwähnenswert, daß der Superbösewicht Cornel Brinkley, dem gleich mehrere Parteien wegen seiner Übeltaten hinterher sind und der immer wieder entkommen kann, am Ende von den Utah-Indianern zu Tode gemartert wird, ohne daß dieses sonst so symbolträchtige ‚Gottesurteil‘ Teil der Handlung wäre. Es wird lediglich am Rande vermerkt, wie etwas, daß es auch noch zu berichten gibt. Angesichts Brinkleys gewaltsamen Todes werden keine der sonst üblichen erbaulichen Gespräche geführt – weder mit dem Gemarterten (er ist ja schon tot) noch unter den Gefährten, die fassungslos vor den Marterpfählen stehen –, abgesehen von einer lakonischen, summarisch gehaltenen Bemerkung des auktorialen Erzählers über die ebenfalls zu Tode gemarterten Tramps, zu denen auch Brinkley gehörte: „Die Tramps hatten geerntet, was und wie von ihnen gesäet worden war.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.573 (Greno Verlag))

Erbauungsliteratur

Der von May behauptete Symbolismus war also schon in den klassischen, von einem Ich-Erzähler getragenen Reiseromanen durchaus vorhanden, nur eben noch nicht so ausgefeilt und durchdacht wie in seinem Spätwerk, sondern als plumpe Erbauungslektüre. Ironischerweise zeigt sich Karl May gegenüber der allzu aufdringlichen Frömmigkeit dieser Art ‚Literatur‘ als äußerst empfindlich, was vielleicht gerade der Nähe seiner eigenen Schriften zu ihr geschuldet ist, wie ganz besonders in folgenden erstaunlich hellsichtigen Textstellen deutlich wird. In „Weihnacht“ versucht ein „Prayer-man“ dem Ich-Erzähler ausgerechnet ein von ihm, nämlich dem Ich-Erzähler selbst verfaßtes Weihnachtsgedicht anzudrehen, das übrigens leitmotivisch „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) vorwegnimmt. Es wäre auch interessant, einmal genauer die Funktion des Weihnachtsgedichts mit dem Gedicht, das in „Und Friede auf Erden“ eine zentrale Rolle bei der Heilung des Missionars Waller spielt, zu vergleichen.

Jetzt aber zu den erwähnten Textstellen. Über den „Prayer-man“ heißt es:
„... das zudringliche Zurschautragen der Frömmigkeit ist mir verhaßt, und wenn jemand vor Salbung förmlich überfließt wie dieser Mann, so zuckt es mir in der Hand, und ich möchte ihm am liebsten mit einer Salbung anderer Art antworten. Ich kann mir da nicht helfen: ich muß dabei stets an die Fabel vom Wolf im Schafsfell denken.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.125 (Greno Verlag))
Diese Szene ist geradezu paradigmatisch für den Konflikt zwischen Literatur und Erbauung, der in Mays Empörung zum Ausdruck kommt:
„Die Sprache soll für das Höchste, was der Mensch besitzt, die edelsten ihrer Worte haben; hier aber war es trivialisiert. Ein einziges kleines Heftchen hatte einen Titel, der mir wenigstens nicht widerwärtig war; er lautete: ‚Sechs ergreifende Festgedichte für Weihnachten, Ostern und Pfingsten.‘“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.126 (Greno Verlag))
Und genau in diesem Heftchen stößt der fassungslose Ich-Erzähler auf sein eigenes Weihnachtsgedicht!

Es ist vor allem der Titel des Weihnachtgedichts, der in Mays Augen sein tiefempfundenes religiöses Anliegen pervertiert: „Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!“ (Vgl. Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.127 (Greno Verlag)) – Diese Entstellung eines literarischen Werks durch ein verunstaltendes Etikett erinnert an „Kiss-y-Darr“ (persisch für Schundroman) in „Im Reiche des silbernen Löwen IV“ (1903), einem eigentlich edlen Pferd, aber mißhandelt und verunstaltet, das an einem Wettrennen teilnimmt und schließlich, seiner wahren Natur entsprechend, die ‚literarische‘ Konkurrenz in diesem Wettrennen aussticht. (Vgl. Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen IV; KMW-V.4, S.463 (Greno Verlag)) Wir haben es in beiden Fällen mit dem Versuch einer Ehrenrettung von Mays früheren Kolportageromanen zu tun, die von seinen Verlegern so umfangreich ‚redigiert‘ worden waren, daß er seine eigene Autorenschaft in ihnen nicht mehr wiedererkennen konnte. Die Szene mit dem Prayer-man zeigt also eine weitere thematische Nähe von „Weihnacht“ mit Mays Spätwerk.

Interpretationsspielräume

Das Problem bei dem ganzen Symbolismus ist, daß es zu seinem Verständnis eines Schlüssels bedarf, z.B. der intimen Kenntnis von Gottes Heilsplan, um die in seinen Reiseromanen beschriebenen Ereignisse zu deuten. Was aber, wenn man sich einfach eines anderen Schlüssels bedient und so Mays christlich-humanen Symbolismus ad absurdum führt? Das hat Arno Schmidt in seinem Buch „Sitara oder der Weg dorthin“ (1963) getan. Er deutete einfach alle Ereignisse in den Reiseromanen psychoanalytisch. Anstatt die vielen Landschaftsbeschreibungen als Entwicklungsweg von den Sumpfniederungen oder der Wüste hin zu hochaufragenden Gebirgen spirituell-moralisch zu deuten, nimmt Arno Schmidt sie einfach als Sexsymbole. Wenn Mays Protagonisten in Schluchten eindringen, aus denen zudem noch kleine feuchte Rinnsale herausrieseln, dann haben wir es Schmidt zufolge mit purer Pornographie zu tun. Ebenso wenn wilde Pferde zugeritten werden, daß der Schweiß in Flocken nach allen Seiten spritzt, während es aus zusammengepreßter Pferdelunge ächzt, seufzt und stöhnt.

Weitere Details erspare ich mir. Dennoch: gegen Arno Schmidts Deutungen läßt sich nichts einwenden. Wenn Mays Werk nach eigenem Wunsch allererst symbolisch zu verstehen ist, ist jede Deutung möglich. Alle Schlüssel, die passen, sind einander gleichwertig.

Evolutionsbiologischer Symbolismus

Was mich an Mays Spätwerk tatsächlich interessiert, ist aber etwas anderes. May hat hier den Versuch unternommen, die Entwicklung des Menschen auf drei bis vier verschiedenen Entwicklungsebenen zu beschreiben: biologisch-animalisch in Form von Tier-Mensch-Vergleichen und von Tier-Mensch-Beziehungen, kulturell in Form von Begegnungen mit anderen Kulturen und individuell in Form von symbolisch zu deutenden Biographien (Gewaltmensch/Edelmensch). Hinzu kommen ebenfalls symbolisch aufgeladene geographische Fiktionen wie z.B. der „Mount Winnetou“ oder „Sitara“ oder „Ardistan“ und „Dschinnistan“. Diese drei- bis vierfach ausdifferenzierte Entwicklungssymbolik ähnelt meinem eigenen anthropologischen Ansatz. Darauf möchte ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Was das Verhältnis von Mensch und Tier betrifft, ist Karl May Darwinist und Nietzscheaner. Der Mensch ist nicht nur aus dem Tierreich hervorgegangen, sondern selbst noch ein Tier, und er muß sich erst zum Menschen entwickeln. In seinen Büchern stehen Menschen und Tiere immer wieder auf Augenhöhe zueinander und sind in Freundschaft und Liebe herzlich einander zugetan. Unvergessen die Tierfreundschaften zwischen Old Shatterhand und Hatahtitla, zwischen Kara Ben Nemsi und Rih und zwischen Kara Ben Nemsi und Dojan!

Das hat aber seine Tücken. Tier-Mensch-Vergleiche sind immer heikel. In einem Germanistikseminar zur „Unendlichen Geschichte“ tadelte unser Dozent einmal Michael Endes Tiervergleiche, mit denen er die Menschen abwerte oder beleidige. So hat z.B. der Antiquar Karl Konrad Koreander ein Bulldoggengesicht. Ich habe nie so recht verstanden, was an solchen Vergleichen nicht in Ordnung ist. Was hätte unser damaliger Dozent wohl zu Walter Moersens „Rumo“ gesagt, in dem es um das Schicksal eines menschenähnlichen, auf zwei Beinen laufenden Hundevolks geht? In diesem Roman wimmelt es von menschlichen Hundegesichtern, nicht nur in Worten, sondern sogar gezeichnet!

Auch Karl May geht nicht nur unbekümmert mit solchen Vergleichen um, sondern bedient sich ihrer sogar systematisch:
„Das Thierreich ist höchst wohlhabend an psychologischen Characteren, und viele von ihnen sind so scharf gezeichnet, daß sie als Typen Eingang in die vergleichende Redeweise des alltäglichen Lebens gefunden haben. ... Es giebt oft menschliche Physiognomieen, welche mit denen gewisser Thiere eine auffallende Aehnlichkeit haben, und eine genaue Beobachtung ergiebt dann stets, daß diese Aehnlichkeit sich nicht blos auf das Aeußere, sondern auch auf den Character erstreckt.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-29:31, S.247 (Greno Verlag))
Auch hier haben wir natürlich wieder die Reduktion des Individuellen auf eine Gattungseigenschaft, nämlich der bestimmter Tierarten. Aber abgesehen davon dienen die Tiere May hier als Stilmittel, um die Entwicklungsdimension hervorzuheben: das Animalische, das von May mit der ‚Seele‘ gleichgesetzt wird, soll sich zum ‚Geist‘ emporentwickeln. Die Biologie bildet also die materielle Grundlage des Geistigen. Deshalb vergleicht May auch immer wieder ‚niedrig‘ stehende Menschen, also Bösewichter, mit Tieren, und zwar derart, daß sie noch ‚tiefer‘ stehen als Tiere, etwa Hunde oder Pferde: ein Mensch, der seinen Hund oder sein Pferd quält, steht tiefer als sie. Man denke z.B. an Nietzsche, der der Legende nach einen Kutscher daran zu hindern versuchte, sein Pferd zu peitschen.

Gerade diese Entwicklungsdimension kann aber auch ganz andere ‚moralische‘ Inhalte bekommen. So heißt es z.B. in dem „Buch der Liebe“ (1876?), das May redaktionell betreut hatte, mit Bezug auf schwarze Afrikaner und Papua:
„Aus tausend zuverlässigen Zeugnissen geht hervor, daß die geistigen Unterschiede zwischen den höchsten Thieren und den niedersten Menschen geringer sind, als diejenigen zwischen den höchsten und niedersten Menschen.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-32, S.407 (Greno Verlag))
Diese Textstelle stammt wahrscheinlich nicht aus Mays eigener Feder, der im Gegenteil immer die Gleichheit aller Menschen vor Gott hervorgehoben hat. Tatsächlich soll er viele üble Stellen dieses Machwerks gestrichen haben. Man mag sich angesichts des eben Zitierten nicht vorstellen, wie übel diese Stellen gewesen sein müssen. Solche verfänglichen Tier-Mensch-Vergleiche liegen aber natürlich nahe, wenn es darum geht, die Menschen biologisch und kulturell nach ihrer Entwicklungsstufe zu klassifizieren. Und May ist solchen Fallstricken nicht immer entgangen.

Dies um so weniger als zum von May vertretenen evolutionsbiologischen Symbolismus auch die Abwertung des Materiellen und Körperlichen gehört. Dieses bildet nämlich nicht einfach die materielle Grundlage der Entwicklung zum Edelmenschen, sondern es soll ausdrücklich überwunden und als bloße Hülle abgelegt und zurückgelassen werden:
„Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.402 (Greno Verlag)
May löst die Doppelaspektivität von Körper und Leib, von Außen und Innen zugunsten des Inneren auf. Alles Wesentliche ist Innen, das, was man mit den Augen sehen kann, ist bloß äußerlich:
„Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.335 (Greno Verlag))
Die Materie ist also zwar überall symbolisch aufgeladen und ein Zeichen für Gottes Handeln: Naturereignisse, Geographie und Biologie ‚predigen‘ von seiner Güte und seiner Allmacht. Aber für sich selbst hat sie keinen Wert, so wenig wie die Menschen in Dschinnistan, die ja auch ‚nur‘ Engel sind, also Funktionen in Gottes Heilsplan. Karl May hat demnach keine Vorstellung vom Körperleib.

Und damit unterscheidet sich Mays Entwicklungssymbolik von der Entwicklungslogik, wie ich sie hier in meinem Blog vertrete. Die Perspektive dieser Entwicklungslogik liegt nicht in der Überwindung des Individuellen und Materiellen, wie bei Karl May, sondern in der Individualität und damit im versuchten Ausgleich und nicht in der Überwindung der verschiedenen Entwicklungsprozesse, die einen Menschen ausmachen. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Verstand wird von May grundlegend anders beantwortet als von mir. Insofern ähnelt Mays Ansatz doch nicht meinem eigenen. Die planetarisch-kosmische Entwicklungsperspektive ist dieselbe. Nicht aber die Perspektive auf das, was das Menschliche darin ausmacht.

May sucht in allem das Große Ganze, wie er es in dem Bild von den Niagarafällen beschreibt, als den Erie-See, von dem aus der Niagara River in den Abgrund stürzt und „in der Tiefe in hundert und aberhundert Völker, Stämme, Herden, Rotten und Banden zerfällt“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.66ff. (Greno Verlag)) Das Individuum gilt ihm nichts außerhalb dieser Funktion für „das noch mächtigere, das noch herrlichere Volk“, dort, wo sich die Myriaden zerstäubter Wassertropfen wieder zum Ontario-See vereinen. Mir aber geht es um das fallende Individuum selbst, um „die Stäubchen, Tropfen, Wellen und Wasser“ (Winnetou IV; KMW-V.7, S.279 (Greno Verlag)), und um die Beziehung zwischen den Individuen, die nicht stellvertretend über ein ‚Volk‘ verwirklicht werden kann.

Trotz dieser schwerwiegenden Differenz zwischen Mays evolutionsbiologischem Symbolismus und meinen drei Ebenen der Entwicklung des Menschen gehört Mays Konzept in die Ahnenreihe, die zu meinem eigenen anthropologischen Ansatz führt. Alle ‚Weltanschauungen‘, die das Mensch-Weltverhältnis als ein Ganzes konzipieren, aus dem man nicht einzelne Momente analytisch wegdenken kann, ohne die Menschlichkeit des Menschen zu beschädigen, gehören in diese Ahnenreihe. Zu dieser Ahnenreihe zähle ich Alexander von Humboldts „Kosmos“ mit seiner „physischen Weltanschauung“ und Helmuth Plessners Ästhesiologie. Es läßt sich in Mays „Geographischen Predigten“ das gleiche Anliegen wiedererkennen, das auch Alexander von Humboldts Kosmogonie zugrundeliegt. Allerdings bleibt festzuhalten, daß Alexander von Humboldt den christlichen Rassismus von Karl May längst weit hinter sich gelassen hatte, so daß Mays evolutionsbiologischer Symbolismus als ein Rückfall hinter Humboldts „Kosmos“ gewertet werden muß. Tatsächlich hatte Humboldt nichts mit dem Rassebegriff anfangen können, ein Begriff, den er in seiner Unbestimmtheit und Vagheit für ungeeignet hielt, der Individualität der Menschen bzw. der Vielfalt in der „Einheit des Menschengeschlechts“ gerecht zu werden. (Vgl. „Kosmos“, Teilband 1, 1993, S.323)

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