„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 19. Februar 2025

Entsehnt

Die Wunde ist geschlossen,
die die Liebe schlug.
Gelitten wars, doch auch genossen,
niemals wahr und immer Trug.

Was bleibt sind schlichte Narben,
deren Blüte mich nicht grämt.
Zu grau bis blaß verglühn die Farben;
eine Sucht einst, jetzt entsehnt.

Mittwoch, 12. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

In allen Erscheinungsformen der ,Weiblichkeit‛, die Beauvoir im zweiten Teil ihres Buches aufführt, Kindheit, Jugend, Erste Erfahrung, lesbische Liebe, Ehe, Mutterschaft, Gesellschaft, Dirnen- und Hetärentum, Alter, geht es um die verhängnisvolle Immanenz der Situationen, in denen sich Frauen als nach Transzendenz strebende Individuen gefangen sehen. Diese Immanenz wirkt sich auch auf die Liebe aus, die für Frauen eine andere Form annimmt als für Männer. Um den Narzißmus zu überwinden, den ihnen ihre Reduktion auf ein bloßes Objekt des Mannes nahelegt, nämlich sich selbst als ein Liebesobjekt zu verstehen, wie es sich im Spiegel männlicher Blicke wahrnimmt, suchen sie ihre Transzendenz, die ihnen von allen Seiten verweigert wird, dort zu finden, wo die patriarchale Gesellschaft sie verortet ‒ beim Mann: „Nun ist aber die Liebende nicht allein eine Narzißtin, die in ihr Ich entfremdet ist, sie empfindet auch ein leidenschaftliches Verlangen, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten und unendlich zu werden, dank der Vermittlung eines Andern, der Zugang zur unendlichen Realität besitzt.“ (Beauvoir 1987, S.613)

„Um sich zu retten“ (ebenda), verwandelt sie die Liebe in eine Mystik der Verschmelzung mit ihrem ,Gott‛, der sowohl der christliche Gott als auch einfach der Mann sein kann, dem sie sich zugehörig fühlt. Ich habe diese Konstellation schon mit Bezug auf Bubers Dialogphilosophie kritisiert, der der Ich-Du-Beziehung ein göttliches bzw. ewiges Du überordnet, und ich habe mich entschieden dagegen ausgesprochen, die Transzendenz in einem Dritten, in einer Wesenheit außerhalb der menschlichen Beziehung zu suchen. Die von Beauvoir beschriebene Gleichsetzung des männlichen mit dem göttlichen ,Du‛ stellt ungeachtet ihrer Identifizierung in ein und derselben Person eine solche Überhöhung dar.

Beauvoir gibt Anlaß zu dem Verdacht, daß für viele Frauen die Flucht in eine mystisch aufgeladene Frömmigkeit die einzige Möglichkeit ist, sich selbst als wesentlich zu setzen, durch Unterwerfung unter den vergöttlichten Mann: „Um diese Vereinigung zu vollziehen, will die Frau vor allem dienen. Wenn sie den Forderungen des Geliebten entspricht, fühlt sie sich als unentbehrlich. Sie wird dann seiner Existenz einverleibt, sie nimmt an seinem Werk Teil, findet ihre Rechtfertigung. Selbst die Mystiker glauben nach dem Wort des Angelus Silesius gern, daß Gott den Menschen braucht.“ (Beauvoir 1987, S.614)

Mit ein und demselben Akt also unterwerfen sich liebende Frauen dem Anderen und gewinnen scheinbar so ihre Bedeutung als Mensch, als Transzendenz. Nochmal anders ausgedrückt: ihr Selbstgewinn beruht auf einer „Selbstverstümmelung“, und diese Selbstverstümmelung richtet sich gegen ihr eigenes Potenzial, zu transzendieren: „So befreit sie sich von ihrer Transzendenz. Sie ordnet sich der des Andern, Wesentlichen unter, zu dessen Dienerin, Sklavin sie sich macht.“ (Beauvoir 1987, S.614)

In gewisser Weise nehmen liebende Frauen (und sicherlich auch männliche Romantiker) die ‚Trans-Szendenz‛ wörtlich. Sie ,über-schreiten‛ ihren Willen, gehen also ,über‛ ihren eigenen Willen ‚hinweg‛, um sich im Willen des Anderen gleichermaßen zu verlieren wie zu gewinnen: „Für einen Existierenden bedeutet es das überraschendste Abenteuer, im wechselnden und gebieterischen Willen eines Anderen aufzugehen. Man wird es leid, immer in derselben Haut zu stecken.“ (Beauvoir 1987, S.615) ‒ Denn diese Haut, in der sie gesteckt hatten, war ja sowieso nicht ihre eigene gewesen.

Was mein Ich = Du betrifft, bedeutet das wiederum, dem Mißverständnis entgegenzutreten, die Wechselseitigkeit der Beziehung könnte darin bestehen, daß Eines im Anderen die Transzendenz sieht, die ihm selbst fehlt. Es darf kein ,Um-zu‛ im Ich = Du geben. Wir haben es hier nicht mit einem bequemen Weg zu tun, der eigenen Immanenz zu entfliehen. Die Transzendenz besteht vielmehr in der Möglichkeit des Ich = Du, also in der Wechselbeziehung als solcher, und sie basiert auf der existenziellen Verfaßtheit des Ich als Körperleib. Ich begegnet nicht dem Göttlichen im Du, sondern Ich begegnet einem Ich, zu dem es ,Du‛ sagen kann, so wie auch dieses Ich ,Du‛ zu ihm sagt. Beides auf der Basis des Körperleibs.

Aber gerade dieser Körperleib kann sehr verschieden sein, was Frauen und Männer betrifft. Diese Verschiedenheit verdankt sich immer dreierlei Quellen: der Biologie, der Gesellschaft und der Individualität, und sie betrifft die Differenz von Innen und Außen.

Nach all den von Beauvoir beschriebenen Sackgassen, in die die praktische Umsetzung von Emanzipation in einer patriarchal verfaßten Gesellschaft geraten kann und von denen ich in diesen Kommentaren nur einen Teil aufgeführt habe, findet die Autorin aber am Schluß ihres Buches noch ein paar hoffnungsvollere Formulierungen zu gelingenden Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Mit ihnen will ich die Reihe meiner Blogposts beenden:
„In Wirklichkeit ist der Mann wie die Frau ein Körper, somit eine Passivität, ein Spielzeug seiner Hormone und der Gattung, eine unruhige Beute seines Begehrens. Und sie ist wie er inmitten des leiblichen Fiebers Einwilligung, freiwilliges Geschenk, Aktivität. Sie erleben, jedes auf seine Weise die seltsame Zwiespältigkeit der zum Leib gewordenen Existenz. ... Wenn jedoch alle beide sie in hellsichtiger Bescheidenheit, dem Korrelat eines authentischen Stolzes, auf sich nähmen, würden sie sich als ihresgleichen erkennen und das erotische Drama in Freundschaft erleben. ... In beiden Geschlechtern spielt sich dasselbe Drama von Körper und Geist, von Endlichkeit und Transzendenz ab. An beiden nagt die Zeit, beiden lauert der Tod auf, sie sind beide gleich aufeinander angewiesen.“ (Beauvoir 1987, S.678)

Dienstag, 11. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Ich erinnere mich an entfernte Verwandte ‒ so entfernt daß ich mich nicht mal mehr an ihre Namen erinnere ‒, die unsere Familie zwei- oder dreimal besuchten. Einmal müssen auch meine Schwester und ich bei ihnen zu Besuch gewesen sein, irgendwann in den frühen 1970ern, irgendwo im Paderborner Land, denn von diesem Besuch stammt meine vage Erinnerung. Ich muß älter als zehn gewesen sein, in der Pubertät, glaube ich, und unser Onkel lud uns zu einer Segelfahrt ein. Er besaß ein Segelboot und eine Familie, insbesondere besaß er zwei Söhne, denn an die erinnere ich mich genauer, weil sie im Vordergrund neben dem Sessel standen, in dem er saß. Im Hintergrund stand seine Frau, und ich glaube, auch ein Mädchen. Auf seine Familie war er wohl genauso stolz wie auf sein Segelboot.

So habe ich ihn und die Familie in Erinnerung. Sie war wie sein Segelboot sein Eigentum: die im schattigen Hintergrund stehende Ehefrau und Mutter, die kleine Tochter und vor allem die beiden Söhne, die sich im Abglanz ihres Vaters sonnten. Was mich betroffen machte, so daß ich diesen Anblick noch heute erinnere, wenn ich auch sonst alles vergessen habe, war diese Frau. Wo das Gesicht ihres Mannes vor Stolz und Glück wie eine Sonne strahlte, zeigte ihr Gesicht keinerlei Gefühlsregung, nur Resignation. Ungeachtet meiner Jugend, fast noch ein Kind, fühlte ich diese Resignation, die von ihr ausging, denn ich fand sie schön, und ich erschrak vor dem Kontrast zum aufdringlichen Stolz ihres Mannes.

Dieser Anblick erfüllte mich mit Unbehagen. Ich sah in gewisser Weise eine mögliche Zukunft vor mir, eine Zukunft als Ehemann. Über solche Dinge begann ich mir damals zunehmend Gedanken zu machen. Ohne genau zu wissen, was es damit auf sich hatte, stellte die Vorstellung, zu heiraten, und alles was damit zusammenhing, für mich eine Überforderung dar. Der Anblick meines Onkels und seiner Familie ließ mich nun befürchten, daß ich auch mal in so einem Sessel sitzen würde und daß um mich herum Gespenster gruppiert sein würden, und ich würde von einer geheimnisvollen Lähmung befallen sein und könnte nicht weglaufen.

Das war alles nicht besonders reflektiert. Es war vor allem ein ungewisses, aber tief empfundenes Unbehagen. So tief ich für diese schöne Frau mitempfand, ekelte ich mich doch vor ihrem Schicksal, vor dem Schicksal dieser Familie, und ich wollte nicht, daß es auch meines sein würde.

***

Beauvoir bezeichnet diese Ehe als phallisch, als eine Beziehungsform, in der sich zwei „mit Körper und Seele schenken (müssen)“: „Ist diese Gabe vollzogen, so müssen sie sich für immer treu bleiben. ... Nach der Vielfalt kann man nur suchen, wenn man sich für die Eigenart der Wesen interessiert: aber die phallische Ehe ist in der Allgemeinheit begründet. Ist der männlich-weibliche Stromkreis einmal hergestellt, so kann es keinen Wunsch nach Wechsel geben: dieser Kreis ist vollkommen in sich geschlossen, definitiv.“ (Beauvoir 1987, S.221f.)

In diesem Zitat streift eine Nebenbemerkung das, was inmitten dieses zwangsheterosexuellen Desasters eigentlich das Glück bedeuten würde, wenn man den Zweien eine Chance gäbe: „Nach der Vielfalt kann man nur suchen, wenn man sich für die Eigenart der Wesen interessiert(.)“ ‒ Für diese Chance stände die freie Wechselseitigkeit von Ich und Du.

Aus all den Dramen, in die die Subjekte auf der Suche nach dem Anderen geraten, in der Natur, die sie ausbeuten, plündern und vernichten, oder unter ihresgleichen, die sie sich als Sklaven gefügig machen, um sie für ihre Zwecke zu verdinglichen, kann sie nur eines befreien: eine Beziehungsform radikal anderer Art, als sie die Bewußtseinsspaltung in Selbst und Anderes nahelegt. Eine solche Beziehungsform, eine freie Wechselseitigkeit unter Gleichen, deutet Beauvoir in folgendem Zitat an: „Das Drama kann durch das freie Sicherkennen jedes Individuums im anderen überwunden werden, wobei jeder zugleich sich und den anderen als Objekt und Subjekt setzt in einem wechselseitigen Akt.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Aber im Zuge der weiteren Ausführung dieses erfreulichen Gedankens läßt Beauvoir alsbald die Ernüchterung folgen: diese Wechselseitigkeit befreit nur die Männer aus der Falle der Subjekt/Objekt-Aporie. Frauen spielen hier wieder nur eine Rolle, als Zwischenglied zwischen Natur und Mensch oder zwischen Sklaven und Freien: „Sie (die Frau ‒ DZ) setzt ihm weder das feindliche Schweigen der Natur noch die harte Forderung des wechselseitigen Sich-Ineinander-Erkennens entgegen; durch ein einzigartiges Privileg ist sie ein Bewußtsein, und dennoch scheint es möglich, sie in ihrem Körper sich zu eigen zu machen. Dank ihr gibt es ein Mittel, der unerbittlichen Dialektik des Herrn und des Sklaven zu entgehen, die an der Wurzel jeder Wechselseitigkeit zwischen Freiheiten liegt.“ (Beauvoir 1987, S.153)

Frauen sind gewissermaßen Beinahe-Gleiche, mit eigenem Bewußtsein, aber eben keine Männer, die sich nicht so einfach für eine Wechselseitigkeit hergeben würden, in der einer von Zweien nicht bereit wäre, alles zu geben; sich preiszugeben. Mit Frauen aber meinen Männer so umgehen zu können und so der unerbittlichen Dialektik des Herrn und des Sklaven entgehen zu können.

Wie also kann ich vor mir selbst sicherstellen, daß es mir mit Ich = Du nicht genau um diese Flucht aus dieser unerbittlichen Dialektik geht? Einerseits ehrenvoll, aber zugleich auch verdächtig?

***

Von den fünf Männern, deren Frauenbilder Beauvoir in ihrem Buch analysiert (vgl. Beauvoir 1987, S.205ff.), Montherland, Lawrence, Claudel, Breton und Stendhal, finde ich mich am ehesten in Stendhal (vgl. Beauvoir 1987, S.240ff.) wieder:
„Was Stendhal anbelangt, so haben wir gesehen, daß die Frau bei ihm kaum je einen mythischen Wert bekommt: er betrachtet auch sie als eine Transzendenz; für diesen Humanisten erfüllen die Freiheiten sich in ihrer wechselseitigen Beziehung; es genügt ihm, daß das Andere einfach ein Anderes sei, damit das Leben für ihn ,eine belebende Würze‛ enthält; er sucht nicht ,ein sternenhaftes Gleichgewicht‛, und er nährt sich nicht von dem Brote des Abscheus. Er erwartet sich kein Wunder; er will nicht mit dem Kosmos oder der Poesie zu tun haben, sondern mit freien Wesen. ... (251) ... Stendhal () koinzidiert in aller Ruhe mit sich selbst; aber er braucht die Frau ebenso wie sie ihn, damit seine zerstreute Existenz sich sammle in der Einheit einer Gestalt und eines Geschickes; nur durch einen anderen gleichsam dringt der Mensch zu seinem eigenen Sein vor; dazu ist aber auch noch notwendig, daß ein anderer ihm sein Bewußtsein leihe: die andern Männer stehen einem der ihren zu gleichgültig gegenüber; nur die liebende Frau öffnet ihr Herz dem Geliebten und nimmt ihn ganz und gar darin auf.“ (Beauvoir 1987, S.250f.)
Zwar koinzidiert Stendhal angeblich mit sich selbst, wie Beauvoir schreibt, aber dann braucht auch er eben doch das andere Bewußtsein, eine Frau, um zu seiner Gestalt zu finden. Es bleibt in aller angestrebten Wechselseitigkeit ein Mangel und das daraus resultierende Begehren. Alles das denke ich mit, wenn ich von Ich = Du spreche und dabei einerseits daran festhalte, daß beide in dieser Zweiheit schon ein Ich für sich sind (wenn sie auch nicht mit sich koinzidieren), aber andererseits dennoch der Ansprache als Du bedürfen, um Ich sein zu können.

Damit hoffe ich, von Beauvoirs Kritik an Stendhal nicht betroffen zu sein, die über die fünf Männer schreibt: „Aber das einzige menschliche Geschick, das der Ebenbürtigen, der Kindfrau, der Schwesterseele, der Geschlechtsfrau, dem Weibchen vorbehalten ist, ist immer nur der Mann. Wie auch das Ego beschaffen sein mag, das sich in ihr offenbart finden will, nie kann es zu sich selber gelangen, als wenn sie bereit ist, der Schmelztiegel seiner Substanz zu sein. In jedem Falle verlangt man von ihr selbstvergessene Liebe.“ (Beauvoir 1987, S.252)

Ich ist also Ich nicht erst in der Begegnung mit ihr oder ihm als Du. Ich ist es schon zuvor. Aber eben nicht als Mitte; nicht als Immanenz, sondern als Mangel. Aus dem heraus, was ihm fehlt, verlangt dieses Ich nach Transzendenz, nicht als Erfüllung, sondern als Beieinander. Nicht als Durchdringung, sondern als Nähe. Wo ihm diese Nähe versagt bleibt, wird es sich Ersatz suchen. Das können wir von Freud lernen. Projektionen, Phantasmen können die Illusion von Erfüllung vorgaukeln, als Ersatz für Nähe. In Ich = Du finden wir Gestalt und Sammlung. Als zwei Zentren einer Ellipse.

Ich mag dieses Wort. Es drückt eine Unvollkommenheit aus, sowohl geometrisch als unvollkommener Kreis wie auch stilistisch als unvollendete Ausdrucksform. Anders formuliert: die Ellipse drückt eine Nähe zu dem aus, was ihr fehlt.

Montag, 10. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoir hält den Mann aufgrund von Anatomie und Muskulatur physisch für den Stärkeren und hält deshalb generell Männer von Anfang an auch menschheitsgeschichtlich für das dominante Geschlecht. Tatsächlich bewertet sie Gewalt überhaupt als etwas Positives, das das subjektive Streben nach Selbstbehauptung und Transzendenz unterstützt: „Gegen jede Beleidigung, jeden Versuch, ihn zum Objekt zu machen, greift der Mann zum Schlagen, setzt er sich Schlägen aus. Er läßt sich nicht durch den Nächsten transzendieren, er findet sich inmitten seiner Subjektivität wieder. Die Gewalt ist der authentische Beweis dafür, daß ein jeder sich für sich selbst, zu seinen Leidenschaften, zu seinem Willen bekennt. Sie grundsätzlich ablehnen, bedeutet, sich jede objektive Wirklichkeit aberkennen, sich in einer abstrakten Subjektivität einschließen. Ein Zorn, eine Auflehnung, die nicht in die Muskeln übergehen, bleiben imaginär.“ (Beauvoir 1987, S.316; vgl. auch S.322, 337, 361, 568, 665)

So kann einer Frau, deren Muskulatur weniger ausgebildet ist als die eines Mannes, die Anwendung von Gewalt als eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit erscheinen, die ihr verschlossen bleibt, was ein weiterer Anlaß für sie ist, auf Distanz zu ihrer eigenen Körperlichkeit zu gehen: „Kein Vertrauen mehr zu seinem Körper zu haben, heißt sein Selbstvertrauen verlieren. Man braucht nur zu sehen, welche Bedeutungen junge Leute ihren Muskeln beimessen, um zu begreifen, daß jedes Subjekt seinen Körper als seinen objektiven Ausdruck auffaßt.“ (Beauvoir 1987, S.317)

Beeindruckt von der physische Stärke der Männer glaubt Beauvoir also, die Herrschaft des Mannes sei etwas natürliches: „Das alte Mutterrecht ist tot: und zwar hat die kühne Erhebung des männlichen Menschen es umgebracht. ... Die männliche Eroberung war eine Rückeroberung: der Mann hat nur wieder von dem Besitz ergriffen, was er schon ehedem besaß; er hat das Recht in Einklang mit der Wirklichkeit gebracht.“ (Beauvoir 1987, S.85)

Obwohl in diesem Zitat vom „Mutterrecht“ die Rede ist, glaubt Beauvoir also nicht, daß dem Patriarchat ein Matriarchat vorausgegangen ist: „In Wirklichkeit aber ist dieses goldene Zeitalter der Frau nur ein Mythos.“ (Beauvoir 1987, S.77) ‒ Für mich war das Matriarchat eigentlich immer eine historische Tatsache gewesen, und mit Meier-Seethaler gehe ich davon aus, daß sich menschheitsgeschichtlich erst relativ spät im Verlauf eines ca. tausend Jahre währenden Prozesses vor etwa drei- bis viertausend Jahren ein ausgeprägtes Patriarchat durchsetzte. Mir leuchtete es schon aus sozialpsychologischen Gründen ein, daß es so etwas wie ein Matriarchat gegeben haben muß. Ich war deshalb überrascht, als ein Freund heftig ablehnend auf meinen Blogpost vom 11. Juli 2022 zur Geschichte der Unvernunft reagierte, in dem ich mich zum Matrizentrismus geäußert habe. Dabei verwendete ich unvorsichtigerweise den immer noch umstrittenen Begriff „Matriarchat“, statt vom Matrizentrismus zu sprechen. Das nahm mir mein Freund vor dem Hintergrund seiner eigenen Expertise als Archäologe dermaßen übel, daß die Verbindung zwischen uns abbrach.

Beauvoir sieht es also ähnlich wie mein Freund, wenn sie, beginnend mit Bezug auf die Tierwelt, schreibt: „... es gibt tierische Weibchen, für die die Mutterschaft völlige Autonomie mit sich bringt; warum ist es der Frau nicht gelungen, daraus ein Vorrecht zu machen? Selbst zu den Zeiten, da die Menschheit aufs dringendste nach Geburten verlangte, weil das Bedürfnis nach Arbeitskräften größer war als das nach Rohstoffen zum Verarbeiten, selbst in den Epochen, als die Mutterschaft höchste Verehrung genoß, hat sie den Frauen nicht den Vorrang zu verschaffen vermocht. ()“ (Beauvoir 1987, S.70)

Ich habe nochmal bei Meier-Seethaler (2011) nachgeschaut, wie sie Beauvoirs historische und anthropologische Erkenntnisse in „Das andere Geschlecht“ beurteilt: „Simone de Beauvoir, die in ihrer großangelegten Untersuchung über ,Das andere Geschlecht‛ (1949) eine solche Analyse unternahm, war noch zu sehr in den Konstruktionen und Projektionen des männlichen Denkens befangen, als dass sie dem patriarchalen Denkschema entkommen wäre. So hat sie zwar den Weg zur Befreiung der Frau sehr klar als Protest gegen die männlichen Zumutungen gesehen, nicht aber das grundsätzlich einseitige Kultur- und Menschenbild des patriarchalen Mannes durchschaut.“ (Meier-Seethaler 2011, S.26)

Tatsächlich neigt Beauvoir selbst zu einer ausgeprägt männlichen Perspektive, wenn sie Töten und Sterben für bedeutsamer hält, als das Gebären: „Der schlimmste Fluch, der auf der Frau lastet, ist, daß sie von den kriegerischen Unternehmungen ausgeschlossen ist; nicht indem er sein Leben hergibt, sondern indem er es wagt, erhebt der Mensch sich über das Tier; deshalb genießt der Menschheit das höchste Ansehen nicht das Geschlecht, das gebiert, sondern das tötende Geschlecht.“ (Beauvoir 1987, S.72)

Wenn Beauvoir hier der kriegerischen Gewalt eine Transzendenz zuspricht, entspricht das ihrem Bewußtseinskonzept, wie ich es in meinem zweiten Blogpost zur Zweiheit beschrieben habe. Der mit einer Bewußtseinsspaltung begründete Konflikt zwischen Selbst und Anderem (vgl. Beauvoir 1987, S.11ff.) ist im Kern gewaltförmig. So schreibt Beauvoir: „Wir haben bereits den Grundsatz aufgestellt, daß, wenn zwei menschliche Kategorien einander gegenüberstehen“ ‒ in diesem Fall also Mann und Frau ‒ „jede der anderen ihre Überlegenheit aufzwingen will ...“ (Vgl. Beauvoir 1987, S.69)

Auf der Grundlage einer derart konfrontativen Bewußtseinshaltung muß selbst der Krieg als edle, männliche Tat erscheinen. Ein Bewußtsein, das sich aus der wechselseitigen Begegnung von Ich = Du ergibt, ist so nicht mehr denkbar. Dennoch stieß ich in Beauvoirs Buch auf eine Stelle, wo sie von der gegenseitigen Konkurrenz einer Zweiheit um den Vorrang dem Anderen gegenüber zur wechselseitigen Anerkennung, Ich = Du, voranschreitet: „Das Drama“ ‒ nämlich zwischen Sebst und Anderem ‒ „kann durch das freie Sich-Erkennen jedes Individuums im anderen überwunden werden, wobei jeder zugleich sich und den anderen als Objekt und Subjekt setzt, in einem wechselseitigen Akt.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Allerdings bleibt es trotz des überwundenen Dramas dramatisch: „Aber die Freundschaft, der Edelmut, die in konkreter Form diese gegenseitige Anerkennung der Freiheiten verwirklichen, sind keine leichten Tugenden; sie stellen bestimmt sogar die höchste Vollendung des Menschen dar, und durch sie erst findet er in Wahrheit zu sich selbst; aber diese Wahrheit ist die eines unaufhörlich unternommenen Kampfes; sie verlangt, daß der Mensch in jedem Augenblick über sich selber hinausgeht.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Beauvoir bleibt also der Gewaltmetaphorik verhaftet, auch wenn die Gewalt sich jetzt nicht mehr gegen den Anderen richtet, sondern gegen sich selbst. Nur mit äußerster Selbstdisziplin kann es dem Menschen gelingen, sich für seinen Mitmenschen zu öffnen. Die zwei Freiheiten begegnen einander weder gelassen und friedfertig noch vom Zufall überrascht noch einander begehrend in wechselseitiger Offenheit, sondern als Erfolg angestrengten über-sich-hinaus-Gehens.

Sonntag, 9. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoir versteht die Biologie des Menschen, insbesondere die weibliche Biologie nicht als Schicksal, auch wenn sie sich beim schwierigen Thema ,Fortpflanzung‛ immer wieder vergleichsweise auf Tiere bezieht, sondern als Projekt. (Vgl. Beauvoir 1987, S.28; vgl. auch S.26, 48, 382, 398, 494, 505, 551, 567, 668f., 675, 677) Sie vertritt wie ich den Standpunkt, daß es aller drei Entwicklungsebenen, der Biologie, der Gesellschaft und der Individualität, bedarf, um einen Menschen zu machen. Darin unterscheidet sie sich von den Dekonstruktivistinnen. Es ist aber vor allem die Gesellschaft, die die Bewertungsschemata vorgibt, an denen die Individuen ihre körperleibliche Befindlichkeit messen und an denen sie sich abarbeiten.

Dabei spielt die Situation, in der sich die Individuen den verschiedenen Ansprüchen an ihre Person stellen müssen, die Situation, in der sie ihr Leben führen, sprich: existieren, Beauvoir zufolge die entscheidende Rolle. Die „biologischen Voraussetzungen“ sind zwar von „größter Wichtigkeit“. Aber auch sie bilden nur ein „Element der Situation“, in der sich jede Frau befindet: „Denn da der Körper das Instrument ist, mit dem wir die Welt wahrnehmen, stellt sich die Welt ganz anders dar, je nachdem sie mit diesem oder jenem Körper wahrgenommen wird. ... Was wir aber ablehnen, ist die Idee daß sie an sich ein unausweichliches Geschick darstellen. Sie (die biologischen Voraussetzungen ‒ DZ) genügen nicht, um eine Hierarchie der Geschlechter zu begründen; sie erklären nicht, weshalb die Frau die Andere ist; sie verdammen sie nicht dazu, für immer diese untergeordnete Rolle zu spielen.“ (Beauvoir 1987, S.46)

Freud und Merleau-Ponty überdehnen Beauvoir zufolge Anatomie und Physiologie zu einem Allgemeinen, das dem Primat der Situation nicht nur über die Biologie, sondern auch über die Gesellschaft nicht gerecht wird. Beauvoir hingegen führt dieses biologische ,Allgemeine‛ wieder auf die soziale Wirklichkeit unserer individuellen Existenz zurück. Anatomie und Physiologie mögen zwar, wie Freud und Merleau-Ponty behaupten, soziale Typisierungen motivieren. Aber sie begründen sie nicht:
„‚Anatomie ist Schicksal‛, hat Freud gesagt; das Echo zu diesem Wort finden wir in einem Ausspruch von Merleau-Ponty: ,Der Leib ist das Allgemeine.‛ Die Existenz ist durch die Trennung in Existierende hindurch nur eine einzige: sie manifestiert sich in gleichgearteten Organismen ... so wird es auch Konstanten in der Beziehung zwischen dem Geschlechtlichen und den sozialen Formen geben; ähnlich geartete Individuen werden in ähnlichen Situationen innerhalb der gleichen Grundgegebenheit zu gleichen Deutungen greifen; diese Analogie begründet nicht eine unverbrüchliche Universalität, doch gestattet sie, in Einzelentwicklungen allgemeine Typen zu erkennen.“ (Beauvoir 1987, S.58)
Die an biologische Funktionen individueller Organismen erinnernden ,typischen‛ Situationen, mit denen sich Frauen immer wieder konfrontiert sehen, sind derart komplex aus vielfachen individuellen und kollektiven Interaktionen zusammengesetzt, daß es sich erst im individuellen Handeln entscheidet, welchen Sinn sie ihnen geben. Ein den biologischen Funktionen ähnliches Situationsschema ist bzw. war (zumindest 1949) die Ehe. Hier, im Schoß der Gesellschaft, beginnt das eigentliche Drama ihrer Menschlichkeit, ohne dort zu enden. Bis heute nicht.

Wie schwierig es ist, zwischen Biologie und Gesellschaft zu unterscheiden, zeigt sich an Simone de Beauvoirs Darstellungen selbst, wenn sie Details des ,Befruchtungs‛-prozesses beschreibt. Schon der Begriff der ,Befruchtung‛ ist falsch, weil er suggeriert, es müsse die Oozyte allererst durch den männlichen ,Samen‛, ein ebenfalls irreführender Begriff, ,befruchtet‛ werden, als wäre die Eizelle für sich selbst keine Frucht. Außerdem beschreibt Beauvoir die Begegnung von Oozyte und Spermium als einen Akt der Penetration: das Spermium ,dringt‛ in die Eizelle ein, als sei es ein kleiner Penis.

Anders als Beauvoir meint haben wir es auch nicht mit einem 50 Prozent Anteil des Samens an der Erzeugung des künftigen Menschen zu tun. (Beauvoir 1987, S.30) In keinem von beiden, weder in der Oozyte noch dem Spermium allein, so Beauvoir, sei der „Lebensfunke“ enthalten: es bedürfe erst ihrer Vereinigung, um ihn zu entzünden (vgl. Beauvoir 1987, S.29), was schlichtweg falsch ist.

Wenn von einem Lebensfunken die Rede sein kann, dann nur bei der Eizelle. Außerdem wartet die Eizelle keineswegs „passiv“ die „Befruchtung“ durch das Spermium ab, wie Beauvoir meint. Vielmehr sind zuvor ausschließlich im Inneren der Eizelle selbst, die durchaus zur Parthenogenese fähig wäre, alle Vorbereitungen dafür getroffen worden, daß der sehr geringe Beitrag des Spermiums, die Hälfte der männlichen Erbsubstanz, zur weiteren Entwicklung der Frucht erfolgen kann. Das Spermium ‚dringt‛ auch nicht in die 80.000-fach größere Eizelle ein, sondern letztere verleibt es sich durch Phagozytose aktiv ein.

So hätten es die männlichen Fortpflanzungsideologen gern und Beauvoir reproduziert deren Mythen. Die tatsächlichen biologischen Tatsachen werden von einer männlich dominierten Wissenschaft entweder verschwiegen oder geleugnet. Es gibt weder eine „Verschmelzung“, ein weiterer irreführender Ausdruck, den auch Beauvoir verwendet, zwischen dem winzigen Spermium und der riesenhaften Eizelle, so als verschmölze der Löwe mit der Maus, die er versehentlich verschluckt, noch einen 50-zu-50-Anteil beider Geschlechter an der ,Befruchtung‛. Um die rein biologischen Abläufe darzustellen, ohne irgendwelche Mythen zu reproduzieren, muß die einfache Tatsache anerkannt werden, daß Frauen nicht nur die Hauptlast der menschlichen Fortpflanzung tragen, sondern auch die ,Zeugung‛ selbst in der Hauptsache durch biologische Prozesse in ihrem Körper im Vorfeld vorbereitet und im weiteren Verlauf umgesetzt werden. Nicht einmal das genetische Erbe des Mannes ist dazu aus biologischer Perspektive wirklich notwendig. Die Frage, wieso es überhaupt Zweigeschlechtlichkeit gibt, ist biologisch bis heute nicht geklärt.

Wie sehr Beauvoir in ihrem 1949 erschienenen Buch noch der männlichen Perspektive auf die Welt und auf die Geschichte des Menschen verpflichtet ist, wird sich auch im nächsten Blogpost noch einmal zeigen. Das ändert aber nichts daran, daß wir nicht davon absehen dürfen, daß biologische Prozesse für unsere Lebensführung bedeutsam sind. Die Bedeutung aber, die sie letztlich ,haben‛, ist die, die wir ihnen geben.

Samstag, 8. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn: der Körperleib
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoirs Überlegungen in der Einleitung ihres Buchs basieren auf einem Begriff von Zweiheit, demzufolge das menschliche Bewußtsein aus der Spaltung zwischen Selbst und Anderem hervorgeht. Dabei beruft sie sich auf die strukturale Anthropologie, in der alle Ordnung, alle Strukturen, auf Gegensätze zurückführt wird. (Vgl. Beauvoir 1987, S.11ff.) Auch Hegel wird als Gewährsmann zitiert: „Diese Phänomene“ ‒ daß alle Ordnung auf Gegensatzpaaren beruht ‒ „könnte man nicht begreifen, wenn die menschliche Wirklichkeit ausschließlich ein Miteinander wäre, das auf Solidarität und Freundschaft beruht. Sie erklären sich im Gegenteil, wenn man mit Hegel im Bewußtsein selbst eine grundlegend feindliche Haltung in bezug auf jedes Bewußtsein entdeckt; das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegensetzt ...“ (Beauvoir 1987, S.11)

Und Beauvoir ergänzt: „Nur setzt ihm das andere Bewußtsein einen gleichen Anspruch entgegen ...“ (Beauvoir 1987, S.11) ‒ denn: „Kein Subjekt setzt sich spontan und ohne weiteres als das Unwesentliche ...“ (Beauvoir 1987, S.12) ‒ Die logische Alternative wäre ein Bewußtseinskonzept, das von einer wechselseitigen Zweiheit von Ich und Du, also Ich = Du, ausgeht. Die Geschichte der letzten drei- bis viertausend Jahre, also seitdem sich das Patriarchat in den meisten Weltregioonen etabliert hat, zeigt aber, was das Geschlechterverhältnis betrifft, das Gegenteil: die eine Seite unterdrückt die andere Seite. Wir haben es mit einer immer wieder in Gewaltexzessen mündenden Subjekt/Objekt-Aporie zu tun.

Anstatt das Geschlechterverhältnis als gleiche wechselseitige Beziehungsform zu begründen, führt die Zweiheit zur Spaltung eines Einzelbewußtseins in Selbst und Anderes und wird von diesem Einzelbewußtsein dann so auf zwei Bewußtseine übertragen, daß eines der beiden das unwesentliche Andere zum eigenen wesentlichen Selbst darstellen muß. Der Irrtum dieses Bewußtseinsbegriffs liegt in der Verwechslung der Bewußtseinsperspek­tiven ,Innen‛ und ,Außen‛ mit den Seinsmodi ,Selbst‛ und ,Anderes‛. Im ersteren Fall befindet sich das Selbstbewußtsein auf der Grenze zwischen Innen und Außen, im anderen Fall befindet es sich nur auf einer Seite: dem Selbst, für das das andere Bewußtsein ihm gegenüber als unwesentlich gesetzt wird. Die Bewußtseinsperspektiven Innen und Außen hingegen erlauben eine echte Wechselseitigkeit zwischen Ich und Du.

Beauvoir fragt sich, warum sich in allen Befreiungsbewegungen irgendwann eine Gleichheit des wechselseitigen Anspruchs auf Transzendenz (Weiße/Sklaven, Christen/Juden, Bürgertum/Proletariat) durchgesetzt hat bzw. durchzusetzen begonnen hat, aber nicht bei Männern und Frauen. Eine Antwort sieht sie in der Besonderheit der biologischen (heterosexuellen) Paarbeziehung: Frauen leben anders als andere benachteiligte Gruppen nicht in zusammengehörigen, solidarischen Gemeinschaften, sondern „verstreut unter den Männern“, „mit einzelnen von ihnen ‒ Ehemann oder Vater ‒ enger verbunden als mit anderen Frauen.“ (Vgl. Beauvoir 1987, S.13) Solidarität wird auf diese Weise behindert und verhindert.

Der auf dem konfliktträchtigen Gegensatz von Selbst und Anderem mit seiner ungleichen Verteilung von Transzendenz und Immanenz, Freiheit und Unterwerfung beruhende Begriff der Zweiheit (vgl. Beauvoir 1987, S.15) läßt sich also Beauvoir zufolge bei Frauen wegen mangelnder Gelegenheiten zur Solidarität mit ihren Geschlechtsgenossinnen nicht ohne weiteres auf „Wechselseitigkeit“ hin überwinden.

Die aporetische Konstitution des Bewußtseins als einem Subjekt, dem seine Objekte grundsätzlich gleichermaßen äußerlich und unwesentlich sind, führt zunächst vor allem bei Frauen, aber letztlich auch bei Männern in verschiedene Teufelskreise.

Zum einen führt die konflikthafte Übertragung der Bewußtseinsspaltung auf zwei sich gegenüberstehende Subjekte, von denen eins nur als Objekt wahrgenommen werden soll, zu einer gewaltförmigen Beziehung: „Es sind zwei Transzendenzen, die aufeinanderprallen. Statt sich gegenseitig anzuerkennen, will jede Freiheit die andere beherrschen.“ (Beuvoir 1987, S.669)

Beide Seiten können ihre eigene Freiheit nur als Unterdrückung der Freiheit des Anderen oder als Unterwerfung unter die Überlegenheit des Stärkeren wahrnehmen. Auf Seiten des Unterlegenen bleiben also nur Revolte oder Kollaboration als Alternativen übrig.

Zum anderen muß sich die siegreiche Seite ständig der Infragestellung durch die subversiven Listen der anderen Seite erwehren, die sich mit den ,Waffen‛ der Unterlegenen zu behaupten versucht: „Die Auseinandersetzung wird so lange dauern, als Mann und Frau sich nicht als Gleiche anerkennen, d.h. solange sich das Frauentum als solches fortsetzt. ... Der Circulus vitiosus ist hier tatsächlich so schwierig aufzuheben, weil bei beiden Geschlechtern jedes gleichzeitig das Opfer des andern und seiner selbst ist.“ Beauvoir 1987, S.670)

Die Subjekt/Objekt-Aporie verwandelt die Zweierbeziehung in eine Beziehung zwischen zwei Gruppen, von denen die eine sich als Gruppe der Subjekte gegenüber der anderen Gruppe der unwesentlichen Objekte durchsetzt. Die Möglichkeit, daß sich Bewußtsein anders als durch ungleiche Rollenverteilung konstituieren könnte, nämlich als Wechselbeziehung zwischen Individuen außerhalb des Gruppenkontexts, kann so nicht in den Fokus kommen.

Die heterosexuelle Zweiheit, verstanden als Subjekt/Objekt-Spaltung, bildet also einen dunklen Schatten, der sich auch über meine Formel Ich = Du erstreckt: „Das Band, das sie (Frauen ‒ DZ) an ihre Unterdrücker fesselt, kann mit keinem anderen verglichen werden.“ (Beauvoir 1987, S.13) ‒ Wir haben es mit einer Zweiheit zu tun, in die hinein die Gruppe ihren Einfluß ausübt, ohne daß sie, also das Paar, sich in ihrer aporetischen Verfaßtheit als Subjekt-Objekt-Konstellation in ihrer Einzigkeit behaupten könnte. Ehemänner sind eher mit anderen Ehemännern solidarisch, als mit ihren eigenen Ehefrauen. Subjekte einer Selbstbehauptung innerhalb der Paarbeziehung wären deshalb einseitig die Frauen, die aber mit anderen Frauen weniger eng verbunden sind, als mit ihren Männern; aber ihre Interessen koinzidieren nur dann mit denen ihrer Ehemänner, wenn sie sich ihnen unterwerfen.

Eine solche Sackgassenkonstellation gibt es übrigens nicht nur bei Ehepaaren. Emmanuel Levinas konzipiert seine Ethik als eine Sackgasse. Das Du als „Antlitz“ kann bei ihm niemals zum Ich werden. Frauen wiederum bilden seiner Ansicht nach für den Mann ein absolutes Geheimnis. Beauvoir hält ironisch fest: „Ich vermute, es entgeht Herrn Levinas nicht, daß auch die Frau für sich Bewußtsein ist. Ins Auge fallend aber ist, daß er ohne weiteres den Gesichtspunkt des Mannes annimmt, ohne auf die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt hinzuweisen.“ (Beauvoir 1987, S.682)

Die Transzendenz auf ein für das Ich unempfängliches Antlitz zu verlegen oder auf geheimnisvolle Frauen, mit denen Männer nicht kommunizieren können, wie Levinas es tut, kann nur in einer Sackgasse enden. Es führt zum selben Abhängigkeitsverhältnis wie umgekehrt. Ich kann daraus nur die Lehre ziehen, daß Ich = Du als Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Zweien nur funktioniert, wenn beide ,Ichs‛ als zwei Transzendenzen (Freiheiten) in Beziehung treten und sich so als Transzendenzen entdecken und verwirklichen. Alles andere führt zu einem Teufelskreis: „Die Unterdrückung erklärt sich aus der Transzendenz des Existierenden, sich zu entfliehen und sich in dem anderen zu entfremden, den er zu diesem Zweck unterdrückt. Heute findet sich diese Tendenz in jedem einzelnen Mann wieder: Die allermeisten geben ihr auch nach. ... Er verfolgt in ihr den Mythos seines Mannestums, seiner Selbstherrlichkeit, seiner unmittelbaren Realität.“ (Beauvoir 1987, S.671)

Nicht im Anderen finden wir die Freiheit, die uns abgeht, sondern im Wechselbezug von Ich und Ich als Ich = Du, wo sich zwei Freiheiten begegnen, die sich im Bezug aufeinander transzendieren.

Freitag, 7. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn:
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Ich habe gerade „Das andere Geschlecht“ (1949/1951/1987) von Simone de Beauvoir gelesen. Das Buch wurde 1949 veröffentlicht, ist also längst nicht mehr einfach so auf das Jahr 2025 zu übertragen. Aber was ich daraus über die Sexualität zwischen Frauen und Männern lerne, enthält für mich immer noch viele, auf mich, auf meine Erfahrungswelt passende Einsichten, die mich beunruhigen und nachdenklich machen. Mir gefällt an Beauvoir, daß sie anders als die Dekonstruktivistinnen der Biologie eine gewisse Bedeutung für die Selbstwahrnehmung zuspricht, diese Selbstwahrnehmung aber insgesamt als von drei verschiedenen Perspektiven her beeinflußt beschreibt: neben der Biologie die Gesellschaft und die Psychologie, die ich in meinem Konzept unter ,Individualität‛ subsumiere. Insofern die Biologie also unsere gesellschaftlichen und individuellen Entwürfe als Menschen beeinflußt, hängt ihre Bedeutung doch immer zuallererst von dem gesellschaftlichen Umfeld ab, das die Bewertungsschemata, an denen wir uns messen, vorgibt.

Beauvoir verwendet in ihrem Buch, wenn sie vom weiblichen Geschlecht spricht, für gewöhnlich die Wortverbindung ,die Frau‛, also den Singular in Verbindung mit dem bestimmten Artikel. Ich bevorzuge in meinen folgenden Blogposts den Plural möglichst ohne bestimmten Artikel oder den Singular mit dem unbestimmten Artikel, um den Eindruck einer substanziellen Festlegung von Frauen auf eine konkrete Seinsform zu vermeiden.

Ich selbst habe schon sehr früh, ungefähr mit dem Beginn der Pubertät, ein tiefsitzendes Unbehagen angesichts der ungleichen Verteilung des Risikos zwischen Frauen und Männern bei ihren Versuchen, ihre Bedürfnisse auszuleben, in mir gefühlt. Das war einerseits durch die katholische Sexualmoral bedingt, für die alles ,Fleischliche‛ grundsätzlich von Übel war, aber andererseits eben auch von einem basalen Gefühl für Fairneß. In meinen Augen kamen wir Männer einfach zu gut weg bei dem ganzen Schlamassel, was die wechselseitigen, also Frauen und Männer betreffenden Bedürfnisse betrifft. Und ich stand schon immer verständnislos dem Anspruch der Männer auf den Körper der Frauen gegenüber, was das Verbieten von Abtreibungen betrifft.

Beauvoir entfaltet das Drama der ,Weiblichkeit' in allen physiologischen und gesellschaftlichen Details von der ersten Menstruation bis hin zum Klimakterium. Und genau das ist es, was mir bei der Lektüre unter die Haut ging. Ich habe mir eine Anthropologie zurechtgebastelt, die sich an Helmuth Plessners „Körperleib“ orientiert, der das existenzielle Drama zwischen Innen (Leib) und Außen (Körper) ins Zentrum unserer Menschlichkeit stellt. Jetzt bei der Lektüre von Beauvoir erkenne ich, daß Plessner hier nur die simple Physiologie des Mannes beschreibt, die zwar auch auf Frauen zutrifft, dabei aber dem Drama der weiblichen Physiologie mit ihrer weit komplexeren Verschachtelung von Innen- und Außenperspektiven nicht wirklich gerecht wird.

Beauvoir beschreibt äußerst lebendig, wie sehr der weibliche ,Körperleib‛, um bei dem Wort zu bleiben, nicht einfach nur eine einfache Grenzlinie zwischen Innen und Außen markiert, zu denen Frauen und Männer sich Plessner zufolge in ihrer exzentrischen Positionalität perspektivisch neutral verhalten können, sondern daß Frauen mit ihren monatlichen Blutungen zu ihrem eigenen Inneren eine ambivalente Haltung entwickeln: „Ihr physiologisches Schicksal ist sehr komplexer Art; sie selbst erlebt es als etwas, das nicht zu ihr gehört; ihr Körper ist für sie nicht ein klarer Ausdruck ihrer selbst; sie fühlt sich darin entfremdet; das Band, durch das in jedem Individuum das physiologische Leben mit dem psychologischen verknüpft ist, oder besser gesagt, die Beziehung, die zwischen der Faktizität eines Individuums und der Freiheit, die dieses auf sich nimmt, besteht, ist das am schwersten zu lösende Rätsel, das in der Lage des Menschen begründet ist. Bei der Frau aber stellt sich dieses Rätsel auf besonders verwirrende Art.“ (Beauvoir 1987, S.256)

Während einer Menstruation tritt das Innere als Blutung nach außen und wird so für eine Frau als ein ihr fremdes, Schmerzen bereitendes Innere zu etwas Äußerlichem. Und wenn ,in‛ ihr ein Kind heranwächst, befindet sich ein zweites Innen, eine fremde Freiheit, in ihrem Inneren, das für ihre eigene Freiheit eine Belastung und Bedrohung ist. Diese Verschachtelung von Innen und Außen zweier ,Freiheiten‛, wie Beauvoir Schwangere und Ungeborenes nennt, von denen die eine das andere in sich trägt, ist also schon als einfaches physiologisches Datum wesentlich komplexer als die für alle Menschen geltende existenzielle Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner beschreibt, die darin besteht, daß sich ein Wille (Innen) bzw. eine Freiheit an der Welt (Außen) bricht.

Beauvoir beschreibt in ihrem Buch die ganze Entwicklungsgeschichte von Frauen von der Geburt bis zum Alter, Kindheit, Pubertät (Jugend), Ehe, Mutterschaft, Klimakterium und die danach folgende späte Freiheit bis zum Alter. Ihr Leben ist ein einziger, ununterbrochener Kampf um ihre Freiheit, also gegen die Zumutungen, mit denen sie Biologie (Gattung) und Gesellschaft (Männer) konfrontieren. Ihr Buch beinhaltet keine systematische Entfaltung des Begriffs ,anderes Geschlecht‛, sondern bietet eine umfassende, detaillierte Materialsammlung zur Biologie (was die Biologie der Fortpflanzung betrifft zum Teil veraltet), Soziologie, Mythologie und Psychologie von Frauen und erstreckt sich damit über die drei fundamentalen Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der Individualität, die zusammen einen Menschen ausmachen.

Dieses von Beauvoir zusammengetragene Material aus den verschiedenen Wissensgebieten wird grundiert von einer existenzialistischen Begrifflichkeit, kombiniert mit einer Phänomenologie des weiblichen Bewußtseins in verschiedenen ontogenetischen Stadien von der Geburt bis zum Alter. Die existenzialistische Begrifflichkeit bleibt im Hintergrund von Beauvoirs Darlegungen und wechselt nur gelegentlich in den Vordergrund, um den Fortgang der Gedankenentwicklung zu orientieren. Beauvoirs Hauptinteresse besteht in der Aufklärung einer gleichermaßen drängenden wie problematischen Emanzipationspraxis, die immer wieder am patriarchalen status quo zu scheitern droht.

Ich schreibe hier, das will ich ausdrücklich festhalten, keine Rezension zu Beauvoirs Buch, sondern kommentiere es bloß. In meinen Kommentaren leugne ich meine heterosexuelle Orientierung nicht, strebe aber darüber hinaus eine universelle menschliche Perspektive an.