1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn: der Körperleib
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz
Beauvoirs Überlegungen in der Einleitung ihres Buchs basieren auf einem Begriff von Zweiheit, demzufolge das menschliche Bewußtsein aus der Spaltung zwischen Selbst und Anderem hervorgeht. Dabei beruft sie sich auf die strukturale Anthropologie, in der alle Ordnung, alle Strukturen, auf Gegensätze zurückführt wird. (Vgl. Beauvoir 1987, S.11ff.) Auch Hegel wird als Gewährsmann zitiert: „Diese Phänomene“ ‒ daß alle Ordnung auf Gegensatzpaaren beruht ‒ „könnte man nicht begreifen, wenn die menschliche Wirklichkeit ausschließlich ein Miteinander wäre, das auf Solidarität und Freundschaft beruht. Sie erklären sich im Gegenteil, wenn man mit Hegel im Bewußtsein selbst eine grundlegend feindliche Haltung in bezug auf jedes Bewußtsein entdeckt; das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegensetzt ...“ (Beauvoir 1987, S.11)
Und Beauvoir ergänzt: „Nur setzt ihm das andere Bewußtsein einen gleichen Anspruch entgegen ...“ (Beauvoir 1987, S.11) ‒ denn: „Kein Subjekt setzt sich spontan und ohne weiteres als das Unwesentliche ...“ (Beauvoir 1987, S.12) ‒ Die logische Alternative wäre ein Bewußtseinskonzept, das von einer wechselseitigen Zweiheit von Ich und Du, also Ich = Du, ausgeht. Die Geschichte der letzten drei- bis viertausend Jahre, also seitdem sich das Patriarchat in den meisten Weltregioonen etabliert hat, zeigt aber, was das Geschlechterverhältnis betrifft, das Gegenteil: die eine Seite unterdrückt die andere Seite. Wir haben es mit einer immer wieder in Gewaltexzessen mündenden Subjekt/Objekt-Aporie zu tun.
Anstatt das Geschlechterverhältnis als gleiche wechselseitige Beziehungsform zu begründen, führt die Zweiheit zur Spaltung eines Einzelbewußtseins in Selbst und Anderes und wird von diesem Einzelbewußtsein dann so auf zwei Bewußtseine übertragen, daß eines der beiden das unwesentliche Andere zum eigenen wesentlichen Selbst darstellen muß. Der Irrtum dieses Bewußtseinsbegriffs liegt in der Verwechslung der Bewußtseinsperspektiven ,Innen‛ und ,Außen‛ mit den Seinsmodi ,Selbst‛ und ,Anderes‛. Im ersteren Fall befindet sich das Selbstbewußtsein auf der Grenze zwischen Innen und Außen, im anderen Fall befindet es sich nur auf einer Seite: dem Selbst, für das das andere Bewußtsein ihm gegenüber als unwesentlich gesetzt wird. Die Bewußtseinsperspektiven Innen und Außen hingegen erlauben eine echte Wechselseitigkeit zwischen Ich und Du.
Beauvoir fragt sich, warum sich in allen Befreiungsbewegungen irgendwann eine Gleichheit des wechselseitigen Anspruchs auf Transzendenz (Weiße/Sklaven, Christen/Juden, Bürgertum/Proletariat) durchgesetzt hat bzw. durchzusetzen begonnen hat, aber nicht bei Männern und Frauen. Eine Antwort sieht sie in der Besonderheit der biologischen (heterosexuellen) Paarbeziehung: Frauen leben anders als andere benachteiligte Gruppen nicht in zusammengehörigen, solidarischen Gemeinschaften, sondern „verstreut unter den Männern“, „mit einzelnen von ihnen ‒ Ehemann oder Vater ‒ enger verbunden als mit anderen Frauen.“ (Vgl. Beauvoir 1987, S.13) Solidarität wird auf diese Weise
behindert und
verhindert.
Der auf dem konfliktträchtigen Gegensatz von Selbst und Anderem mit seiner ungleichen Verteilung von Transzendenz und Immanenz, Freiheit und Unterwerfung beruhende Begriff der Zweiheit (vgl. Beauvoir 1987, S.15) läßt sich also Beauvoir zufolge bei Frauen wegen mangelnder Gelegenheiten zur Solidarität mit ihren Geschlechtsgenossinnen nicht ohne weiteres auf „Wechselseitigkeit“ hin überwinden.
Die aporetische Konstitution des Bewußtseins als einem Subjekt, dem seine Objekte grundsätzlich gleichermaßen äußerlich und unwesentlich sind, führt zunächst vor allem bei Frauen, aber letztlich auch bei Männern in verschiedene Teufelskreise.
Zum einen führt die konflikthafte Übertragung der Bewußtseinsspaltung auf zwei sich gegenüberstehende Subjekte, von denen eins nur als Objekt wahrgenommen werden soll, zu einer gewaltförmigen Beziehung: „Es sind zwei Transzendenzen, die aufeinanderprallen. Statt sich gegenseitig anzuerkennen, will jede Freiheit die andere beherrschen.“ (Beuvoir 1987, S.669)
Beide Seiten können ihre eigene Freiheit nur als Unterdrückung der Freiheit des Anderen oder als Unterwerfung unter die Überlegenheit des Stärkeren wahrnehmen. Auf Seiten des Unterlegenen bleiben also nur Revolte oder Kollaboration als Alternativen übrig.
Zum anderen muß sich die siegreiche Seite ständig der Infragestellung durch die subversiven Listen der anderen Seite erwehren, die sich mit den ,Waffen‛ der Unterlegenen zu behaupten versucht: „Die Auseinandersetzung wird so lange dauern, als Mann und Frau sich nicht als Gleiche anerkennen, d.h. solange sich das Frauentum als solches fortsetzt. ... Der Circulus vitiosus ist hier tatsächlich so schwierig aufzuheben, weil bei beiden Geschlechtern jedes gleichzeitig das Opfer des andern und seiner selbst ist.“ Beauvoir 1987, S.670)
Die Subjekt/Objekt-Aporie verwandelt die Zweierbeziehung in eine Beziehung zwischen zwei Gruppen, von denen die eine sich als Gruppe der Subjekte gegenüber der anderen Gruppe der unwesentlichen Objekte durchsetzt. Die Möglichkeit, daß sich Bewußtsein anders als durch ungleiche Rollenverteilung konstituieren könnte, nämlich als Wechselbeziehung zwischen Individuen außerhalb des Gruppenkontexts, kann so nicht in den Fokus kommen.
Die heterosexuelle Zweiheit, verstanden als Subjekt/Objekt-Spaltung, bildet also einen dunklen Schatten, der sich auch über meine Formel Ich = Du erstreckt: „Das Band, das sie (Frauen ‒ DZ) an ihre Unterdrücker fesselt, kann mit keinem anderen verglichen werden.“ (Beauvoir 1987, S.13) ‒ Wir haben es mit einer Zweiheit zu tun, in die hinein die Gruppe ihren Einfluß ausübt, ohne daß sie, also das Paar, sich in ihrer aporetischen Verfaßtheit als Subjekt-Objekt-Konstellation in ihrer Einzigkeit behaupten könnte. Ehemänner sind eher mit anderen Ehemännern solidarisch, als mit ihren eigenen Ehefrauen. Subjekte einer Selbstbehauptung innerhalb der Paarbeziehung wären deshalb einseitig die Frauen, die aber mit anderen Frauen weniger eng verbunden sind, als mit ihren Männern; aber ihre Interessen koinzidieren nur dann mit denen ihrer Ehemänner, wenn sie sich ihnen unterwerfen.
Eine solche Sackgassenkonstellation gibt es übrigens nicht nur bei Ehepaaren. Emmanuel Levinas konzipiert seine Ethik als eine Sackgasse. Das Du als „Antlitz“ kann bei ihm niemals zum Ich werden. Frauen wiederum bilden seiner Ansicht nach für den Mann ein absolutes Geheimnis. Beauvoir hält ironisch fest: „Ich vermute, es entgeht Herrn Levinas nicht, daß auch die Frau für sich Bewußtsein ist. Ins Auge fallend aber ist, daß er ohne weiteres den Gesichtspunkt des Mannes annimmt, ohne auf die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt hinzuweisen.“ (Beauvoir 1987, S.682)
Die Transzendenz auf ein für das Ich unempfängliches Antlitz zu verlegen oder auf geheimnisvolle Frauen, mit denen Männer nicht kommunizieren können, wie Levinas es tut, kann nur in einer Sackgasse enden. Es führt zum selben Abhängigkeitsverhältnis wie umgekehrt. Ich kann daraus nur die Lehre ziehen, daß Ich = Du als Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Zweien nur funktioniert, wenn beide ,Ichs‛ als zwei Transzendenzen (Freiheiten) in Beziehung treten und sich so als Transzendenzen entdecken und verwirklichen. Alles andere führt zu einem Teufelskreis: „Die Unterdrückung erklärt sich aus der Transzendenz des Existierenden, sich zu entfliehen und sich in dem anderen zu entfremden, den er zu diesem Zweck unterdrückt. Heute findet sich diese Tendenz in jedem einzelnen Mann wieder: Die allermeisten geben ihr auch nach. ... Er verfolgt in ihr den Mythos seines Mannestums, seiner Selbstherrlichkeit, seiner unmittelbaren Realität.“ (Beauvoir 1987, S.671)
Nicht im Anderen finden wir die Freiheit, die uns abgeht, sondern im Wechselbezug von Ich und Ich als Ich = Du, wo sich zwei Freiheiten begegnen, die sich im Bezug aufeinander transzendieren.