„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 16. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Ungeachtet meines Vorwurfs an Buber, daß er mit dem dritten (ewigen) Du die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du mystisch überhöht, ist Bubers eigene Haltung gegenüber der Mystik durchaus nicht unkritisch. In folgendem längeren Zitat bewegt sich Buber auf einer schmalen Grat zwischen dem buddhistisch beeinflußten Gedanken des Nichttuns als höchster Form menschlichen Handelns und einer Anerkennung der Sinnenwelt als einzig relevanter Wirklichkeit des Menschen:
„So ist die Beziehung (also Ich-Du ‒ DZ) Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen und somit aller (nur in deren Grenzhaftigkeit gegründeter) Handlungsempfindungen, der Passion ähnlich werden muß. Das ist die Tätigkeit des ganz gewordenen Menschen, die man das Nichttun genannt hat ... Dazu bedarf es nicht eines Abstreifens der Sinnenwelt als einer Scheinwelt, es gibt nur die Welt, die uns freilich zwiefältig erscheint nach unserer zwiefältigen Haltung. ... Alles, was je in den Zeiten des Menschengeistes ersonnen worden ist an Vorschrift, angebbarer Vorbereitung, Versenkung, hat mit dem ureinfachen Faktum der Begegnung nichts zu schaffen. ... Im Sinn von Vorschriften ist das Ausgehen (aus der „Eswelt“ heraus ‒ DZ) unlehrbar. ... eine umso elementarere Umkehr ... ein Aufgeben nicht etwa des Ich, wie die Mystik zumeist meint: das Ich ist wie zu jeder Beziehung so auch zur höchsten unerläßlich, da sie nur zwischen Ich und Du geschehen kann ...“ (1923/1984, S.78f.)
Mit Bubers an dieser Stelle klarem Eintreten für eine Anerkennung der Sinnenwelt unterscheidet er sich auch von Keiji Nishitani, der die Sinnenwelt nur über den Umweg ihrer Negation durch das Feld der Leere hindurch als Vollendung eines Kreisgangs, der zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, anerkennen will. Eine weitere kritische Distanzierung von Nishitani wäre von Buber aus dort möglich, wo dieser am Schluß des Zitats das Ich als notwendigen Bestandteil der Ich-Du-Beziehung gegen die Mystik verteidigt. Außerdem erinnert Buber mit der „zwiefältigen Haltung“ gegenüber dem Scheincharakter der Welt an Plessners Begriff der Doppelaspektivität, die ja bedeutet, das Verhältnis zwischen Innen (Innenwelt) und Außen (Außenwelt) als eine Frage der Perspektive zu verstehen.

Und wie Hermann Hesse im „Siddhartha“ und im „Glasperlenspiel“ bezweifelt Buber, daß es einer Lehre bedarf, um den richtigen Weg zu finden bzw. den Weg Buddhas zu gehen: das Heraus-Gehen aus der „Eswelt“ ist „unlehrbar“: „Buddha kennt das Du-Sagen zum Menschen ‒ das zeigt der groß überlegene, aber auch groß unmittelbare Verkehr mit den Schülern ‒ doch er lehrt es nicht ...“ (1923/1984, S.94)

Das wäre dann der gute Sinn des Gebrauchs von Paradoxa, von denen auch schon im zweiten Blogpost die Rede gewesen war. Eine Lehrhaltung, die nichts von ,Vorschriften‛, ,angebbaren Vorbereitungen‛ hält, wird Paradoxien gegenüber klaren Anweisungen immer den Vorzug geben, um die Schüler daran zu gewöhnen, selber zu denken.

Sonntag, 15. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Martin Buber kennt zwar, wie schon im zweiten Blogpost erwähnt, das Ich-Wir als Grundwort nicht, befaßt sich aber dennoch an mehreren Stellen mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, die er sowohl unter dem Titel ,Gemeinschaft‛ wie auch unter verschiedenen anderen Titeln wie ,Menge‛, ,Öffentlichkeit‛ und ,Kollektiv‛ thematisiert, ohne zwischen diesen verschiedenen Titeln mehr als nur grobe begriffliche Unterschiede herauszuarbeiten. Gelegentlich verwendet er auch das Wort ,Gruppe‛ (vgl. 1929/1984, S.183ff., 1936/1984, S.245), das ich selbst am liebsten verwende, weil es am wenigsten mit zum Teil ideologisch bedingten Vorbedeutungen belastet ist.

Der Gemeinschaftsbegriff wird von Buber gerne gegen den Begriff der Menge angesetzt und religiös überhöht oder mystisch aufgeladen wie z.B. im Begriff der „Gemeinschaftsweihe“ (1929/1984, S.185) oder wenn er vom „Volk“ spricht, mit dem wir Gott ,meinen‛, wenn wir uns ihm „aufglühend“ hingeben (vgl. 1923/1984, S.107). Dabei soll das ,Gott meinen‛ keineswegs den volkhaften Gottesbezug relativieren, sondern im Gegenteil emphatisch hervorheben.

Um das klarzustellen hier noch mal die entscheidenden, von mir inkriminierten Sätze: „Wer einem Volk, aufglühend im unermeßlichen Schicksal, dient: wenn er sich ihm hingeben will, meint er Gott. Wem aber die Nation ein Götze ist, dem er alles dienstbar machen möchte, weil er in dessen Bild das eigne erhöht, ‒ wähnt ihr, ihr brauchtet es ihm nur zu verleiden und er schaute die Wahrheit?“ (Vgl. 1923/1984, S.107)

Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch mal, daß nur ein großer Wille die Bereitschaft zeigt, sein Leben zu opfern. (Vgl. 1923/1984, S.62) Hingewiesen werden muß auch auf Bubers feinsinnige Unterscheidung zwischen ,Volk‛ und ,Nation‛, nach der sich Gott Buber zufolge nur auf der Seite der Volksangehörigen wohlfühlt, während die Nation nur was für Götzendiener ist, die ihr eigenes Bild erhöhen. Damit verwirft er mit der Nation auch ihren Aufklärungsgehalt inklusive die französische Revolution.

Da bleibt mir nur noch zu erwähnen, daß Helmuth Plessner mit seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) ungefähr zur gleichen Zeit eine viel differenziertere Kritik zum ambivalenten Gehalt des Gemeinschaftsbegriffs geschrieben hatte.

Dennoch gibt es auch in „Das dialogische Prinzip“ von Buber kritischere Analysen zum Gemeinschaftsbegriff, wo er, diesmal ganz im Geiste von Plessner, vor den „massierten, vermengten, marschierenden Kollektivitäten“ warnt: „Die Kollektivität ist nicht Verbindung, sie ist Bündelung: zusammengepackt Individuum neben Individuum, gemeinsam ausgerüstet, gemeinsam ausgerichtet, von Mensch zu Mensch nur so viel Leben, daß es den Marschtritt befeure.“ (1929/1984, S.185)

Der Text, in dem dieser Satz steht, wurde 1929 geschrieben und war den immer dreister auftretenden nationalsozialistischen Organisationen geschuldet. Dennoch meint Buber, dem so etwas wie die weiter oben schon angedeutete „Gemeinschaftsweihe der Person“ entgegensetzen zu können, als wäre diese nicht genau das entpersonifizierende Moment im Nazismus. Überhaupt ordnet Buber widersinnigerweise den marschierenden Kollektivitäten das Individuum zu (natürlich als Gegensatz zur ,Person‛ gedacht), als hätten Individuen in Kollektiven irgendeine Überlebenschance.

So wurde aber, mit Ausnahme von Plessner, damals tatsächlich vielfach gedacht. Auch ein sozialistischer Denker wie Anton Semjonowitsch Makarenko soll ja geglaubt haben, das Kollektiv sei der Turnsaal des Individuums.

Es gibt noch andere gruppenkritische Textstellen im Zusammenhang mit Søren Kierkegaard. (Vgl. 1936/1984, S.199ff.) Kierkegaard gibt im Verhältnis von Einzelnem und Menge dem Einzelnen in seiner Unmittelbarkeit vor Gott den Vorzug. Die ,Menge‛ und alles, was irgendwie mit der Menge zusammenhängt, also letztlich jeder andere Mensch ist ihm nur ein Umweg zu Gott.

Kierkegaards Verdikt gilt so umfassend, daß er weder mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit noch mit der Ehe etwas anfangen kann. Buber zufolge glaubt Kierkegaard, daß die Ehe den Menschen, „als die entscheidende Verbindung eines Menschen mit dem Anderen, ... in die Konfrontation mit dem öffentlichen Wesen und seinem Schicksal (versetzt) ...“. (Vgl. 1936/1984, S.232)

Die Ehe ist für Kierkegaard eine gesellschaftliche Institution und mit ihr tritt der Einzelne in die Gesellschaft ein, was bedeutet: er entfernt sich von Gott. Das ist auch der Grund dafür, daß Kierkegaard von seinem Eheversprechen gegenüber Regine Olsen, seiner Verlobten, zurücktritt: „... die Ehe-Gemeinschaft ist Teil der großen Gemeinschaft, mit ihrer eigenen Problematik in die allgemeine gefügt, mit ihrer Heilshoffnung an die des großen Wesens gebunden, das in seinem unseligsten Zustand die Menge heißt.“ (19361984, S.232)

Buber respektiert Kierkegaards gesellschaftskritische Religionsauffassung und kann ihr auch das eine und andere abgewinnen, wenn er ihm auch in der Konsequenz einer völligen Abkehr von der Gesellschaft nicht folgt. Aber etwas von Kierkegaards Gedanken findet sich in Bubers Gewissensbegriff wieder, mit dem für die ,Person‛, in sorgsamer Abgrenzung zum Individuum, eine gewisse Autonomie in der Gemeinschaft und der Gemeinschaft gegenüber denkbar wird: „... kein Programm, kein taktischer Beschluß, kein Befehl kann mir sagen, wie ich, mich entscheidend, meiner Gruppe im Angesicht Gottes gerecht zu werden habe.“ (1936/1984, S.245; vgl. auch S.246)

Er geht sogar so weit, das Ich-Du-Grundwort von der Gruppenbindung zu unterscheiden: „Diese Verbundenheit aber bedeutet nur, daß all die einzelnen Existenzen in einer gruppenhaften beschlossen und von ihr umfangen sind; sie bedeutet nicht, daß zwischen einem und dem andern innerhalb der Gruppe eine irgend personhafte Beziehung bestehe.“ (1953/1984, S.271f.)

Dieses Zitat bestätigt ansatzweise meine Bemerkung im letzten Blogpost, daß eine Wechselseitigkeit von Ich und Du innerhalb einer Gruppe nur als exterritorialer Ort denkbar sei.

Freitag, 13. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Zu Meinen und Sagen habe ich mich schon im zweiten Blogpost geäußert. Obwohl Buber vom Standort des Wortes Gottes und des antwortenden Menschen aus mit dieser Differenz nichts anzufangen weiß, ist für ihn aus ontologischer Perspektive die Dimension des Unsagbaren trotzdem wichtig. Denn das Wesen bzw. das Wesentliche ist immer auch das Unsagbare. Auch hier haben wir es mit einer Differenz von Meinen und Sagen zu tun, nur daß hier mit anderen Begriffen hantiert wird.

Bei Buber handelt es sich hierbei um die Differenz von Schweigen und Sagen, und das Schweigen ist das Sagen des Unsagbaren. Diese Differenz ermöglicht die besondere Beziehung zwischen Ich und Du, in der das Du dem Ich zunächst uneinholbar vorausgesetzt und dann in einem weiteren Schritt als göttliches Du dem Ich auch übergeordnet werden kann: „Nur das Schweigen zum Du, das Schweigen aller Zungen, das verschwiegene Harren im ungeformten, im ungeschiedenen, im vorzunglichen Wort läßt das Du frei, steht mit ihm in der Verhaltenheit, wo der Geist sich nicht kundtut, sondern ist.“ (1923/1984, S.42)

Was bei Plessner mit dem Körperleib als innen/außen schon gesetzt ist, die Differenz von Meinen und Sagen als immanenter Bewegungsimpuls jeder Sprache, konstruiert Buber durch das Gegeneinander von Schweigen und Sprache. Das Ich, das einem anderen Ich zum Du werden könnte, verschwindet hinter diesem Schweigen. Es kommt als Ich nicht zur Selbstaussage.

Expressivität ist ein wesentliches Moment jedes Sprechaktes. Sich als Ich vor sich selbst und vor anderen wie Ich zur Aussage zu bringen, bildet eine Grundvoraussetzung der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du; eine Grundvoraussetzung, die auch das Du meint, das ,Ich‛ sagen will. Eine weitere Grundvoraussetzung ist das, was das andere Ich von dem, was ich über mich aussagen will, versteht und das für mich dadurch zum Maß für das wird, was ich gesagt habe. So kann ich prüfen, inwieweit ich gesagt habe, was ich meine, und inwieweit ich meine, was ich gesagt habe.

Das Ich „steht“ nicht in der Sprache. Das Ich ist sich selbst verborgen, und an der Grenze des Körperleibs begegnet es einem Du, das sich als Ich ebenfalls an der Grenze seines Körperleibs verborgen ist. So entsteht Sprache: als Differenz von Meinen und Sagen. Beide Ichs gleichermaßen werden in der wechselseitigen Ansprache als Du anerkannt und verbergen sich gleichzeitig. Gerade im Sich-Verbergen werden sie anerkannt. Sie werden angesprochen, aber nicht ausgesagt.

Deshalb zeigt sich das Unsagbare nicht einfach nur im Schweigen, was ich grundsätzlich durchaus für möglich halte, sondern vor allem in dem, was mein Sagen über mich verbirgt.

Auf den Seiten 64-68 stellt Buber das apperzipierende Ich, das er in einer wundervollen Wendung auch als „starken Goldfaden, an dem sich die wechselnden Zustände aufreihen“, bezeichnet (vgl. 1923/1984, S.64), in Frage. Was wie eine Aufwertung des Ich jenseits von Ich-Du klingt, wird in der Folge zu einem bloß „zahllose(n) Ich“ herabgestuft, das lediglich ein „unentbehrliches Pronomen“ sei, eine „notwendige Abkürzung für ,Dieser da, der redet‛“. (Vgl. ebenda) ‒ Wer aber das redende Ich derart abwertet, dem ist auch das denkende Ich nichts wert, ungeachtet dessen, daß er es kurz zuvor noch als starken Goldfaden besungen hatte.

Buber reduziert den Erfahrungsbegriff, zu dem ein apperzipierendes Ich unverzichtbar gehört, auf bloße auf Nützlichkeit ausgerichtete Mittelbarkeit. (Vgl. 1923/1984, S.65) Zugleich mystifiziert Buber die ,Person‛ als Beziehungsform, indem er spirituelle Umschreibungen („Hauch des ewigen Lebens“, ,Reifung‛ der „geistigen Substanz“) für das Ich-Du der Beziehung verwendet. (Vgl. 1923/1984, S.65 und 66) Die Person soll als Beziehung zu einem Du eine „Schau“ sein, während die Erfahrung, als „Eigenwesen“, sich bloß mit sich selbst „befaßt“. (Vgl. 1923/1984, S.67)

Mit Ich = Du hat das alles nichts mehr zu tun. Das Individuum, nicht bloß als mit sich selbst befaßtes Eigenwesen, sondern als notwendiges Moment einer Ich-Genese, vermag Buber nicht zu denken. Auch das für eine Wechselbeziehung scheinbar so inkompatible „Es“ kann ohne weiteres Bestandteil eine Wechselbeziehung von Ich und Du sein und muß es sogar. Nicht etwa im Nachhinein, wenn aus Du wieder Es geworden ist, sondern als Teil der lebendigen Gegenwart von Ich und Du. Ich = Du können sich durchaus im Kontext einer Sachbeziehung begegnen und die Struktur eines referentiellen Dreiecks bilden. Das ist sogar sehr oft so, nämlich zwischen Eltern und ihren Kindern und zwischen Lehrern und ihren Schülern und auch in anderen Sozialformen, in denen nicht das Wir, also die Gruppe, dominiert, sondern die Sache.

Unter all diesen Texten und Textfragmenten finden sich, wie schon gezeigt, immer wieder wunderschöne, poetische Sätze, denen ich von ganzem Herzen zustimmen kann: „Nach seinem Ichsagen ‒ danach, was er meint, wenn er Ich sagt ‒ entscheidet sich, wohin ein Mensch gehört und wohin seine Fahrt geht. Das Wort ,Ich‛ ist das wahre Schibboleth der Menschheit.“ (1923/1984, S.68)

So sehr mir dieser Satz gefällt, kann ich aber auch hier wieder nicht umhin, zu ergänzen, daß Buber nur genau eine richtige Weise des Ich-Sagens kennt. Er grenzt das Ich-Sagen des wahren Ich, der ,Person‛, vom Ich-Sagen des ,Eigenmenschen‛ ab. (Vgl. 1923/1984, S.68) Unter dem Eigenmenschen, wie Buber ihn nennt, verstehe ich den Gruppenmenschen. ,Eigen‛ im Buberschen Sinne ist der Mensch vor allem in der Gruppe. So wie ich mir die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du vorstelle, kann es sie in der Gruppe nicht geben. Wenn sich zwei Menschen ,in‛ einer Gruppe als Ich und Du begegnen, befinden sie sich innerhalb ihrer Gruppe an einem exterritorialen Ort.

In der Gruppe ist niemand gleich dem Anderen. Jede und jeder hat eine bestimmte, von der Gruppe zugewiesene Funktion, die ihn von allen anderen unterscheidet. Deshalb haben wir in Deutschland auch ein Grundgesetz, das den einzelnen Menschen vor der Gruppe schützen soll.

Im Gruppenmenschen kann Buber hier anscheinend keine Gefahr erkennen (an anderen Stellen, auf die ich im nächsten Blogpost eingehen werde, aber doch), und im Eigenmenschen sieht er die Individualität nicht, ohne die auch die Person nicht Person sein kann. (Vgl. 1923/1984, S.66; 1936/1984, S.204f., 246) Deshalb darf das „abgetrennte Ich“, als bloßes Individuum, auch nicht „mit großem Anfangsbuchstaben“ gesprochen werden. (Vgl. 1923/1984, S.68) Was immer sich da als ,Ich‛ aussagen will, muß klein gehalten werden und seine Größe aufsparen für ein Du. Darauf beschränkt sich Bubers Schibboleth.

Donnerstag, 12. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Was ist Liebe: etwas Romantisches? Etwas Spirituelles? Ein geistiges Prinzip? ‒ Mir fällt zu dieser Frage Rio Reisers Lied „Alles Lüge“ ein, wo er gesteht, daß er oft gar nicht mehr weiß, was Liebe ist.

Mir geht es oft ähnlich, wenn ich spirituelle, philosophische, religiöse Autoritäten über Liebe reden höre. Ich höre vor allem die Lüge dahinter; denn ich halte alles für eine Lüge, das darauf hinaus läuft, konkrete Gefühle, konkrete Bedürfnisse des Menschen schlecht zu reden. Und wenn solche Autoritäten über Liebe reden, dann tun sie es oft genau aus diesem Grund. Anscheinend ist aus ihrer Sicht das meiste, was die Menschen unter Liebe verstehen, egoistisch, verdorben, sündhaft und böse und vor allem eins: fleischlich.

Darum denke ich, entgegen allem, was uns immer wieder eingetrichtert wird, ist Liebe vor allem konkret. Und deshalb ist sie vielfältig. Und sie ist auch fleischlich. Denn unser Leib ist lebendiges Fleisch.

Martin Buber denkt an verschiedenen Stellen in diese Richtung: „... man müßte, auch mit dem Denken, auf den andern nicht gedachten, sondern leibhaft vorhandenen Menschen hin leben, auf seine Konkretheit hin. Nicht auf einen anderen Denker hin, von dem man nichts wissen will außer seinem Denken, sondern, auch wenn der andre ein Denker ist, auf sein leibhaftes Nichtdenken hin ...“ (1929/1984, S.179f.)

Vor allem auf dieses „leibhafte Nichtdenken“ werde ich im nächsten Blogpost noch mal detaillierter eingehen. Hier ist mir vor allem Bubers Hinweis auf das wichtig, was vor allem anderen für uns konkret ist: der Hinweis auf den Leib.

Das gilt dann auch für die Nächstenliebe. So hebt Buber hervor, daß die Nächstenliebe einen Unterschied macht. Der Nächste ist nicht einfach jeder beliebige Andere, sondern der Mensch mir gegenüber. Der Nächste ist mein Du, das mich als sein Du anspricht: „Wenn alles Konkrete gleich nah ist, gleich nächst ist, hat das Leben mit der Welt nicht Gliederung und Bau, nicht menschenhaften Sinn mehr.“ (1929/1984, S.169)

Wenn alles Konkrete gleich nah ist, dann ist es nicht konkret. Oder anders: Das Konkrete in anderen Weltgegenden oder auch nur in einer anderen Stadt ist nicht mein Nächstes.

Die Nächstenliebe macht also einen Unterschied und verleiht so der Welt „Gliederung und Bau“, und deshalb ist sie konkret und nicht abstrakt. Sie ist nicht romantisch, nicht spirituell und auch kein geistiges Prinzip. Sie ist konkret, weil auch der Mensch mir gegenüber konkret ist. Er ist konkret in seiner Leibhaftigkeit, in seiner Fleischlichkeit, die wir nicht denken können, die wir aber trotzdem wahrnehmen, als Empfindung, als Gefühl, als „menschenhaften Sinn“.

Es wäre schön, wenn ich hier jetzt innehalten könnte und sagen könnte, daß ich Buber ohne jede Einschränkung voll und ganz zustimmen kann. Aber leider gibt es andere Stellen, die diese einfache Wahrheit, die Konkretheit seiner Aussage in Zweifel ziehen. In einer solchen Textstelle zählt Buber verschiedene Momente auf, die seiner Ansicht nach Liebe ausmachen. Am Anfang steht die Behauptung, daß Liebe kein Gefühl sei. Dann folgen nach meiner Zählung insgesamt fünf Merkmale für das, was Buber an dieser Stelle ,Liebe‛ nennt (vgl. 1923/1984, S.18f.):
  1. Die Liebe ist ein „metaphysische(s) und metapsychische(s) Faktum“. (Vgl. 1923/1984, S.18)
  2. Die Liebe „haftet dem Ich nicht an“, sondern ist etwas „zwischen Ich und Du“. (Vgl. 1923/1984, S.18)
  3. Die Liebe ist „ein welthaftes Wirken“ und löst die Menschen „aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe“. (Vgl. 1923/1984, S.19)
  4. Die Liebe ist die „Verantwortung eines Ich für ein Du“, und darin besteht die „Gleichheit aller Liebenden“. (1923/1984, S.19)
  5. Die Liebe des Gekreuzigten vermag nicht nur den, sondern auch die Menschen zu lieben. (Vgl. 1923/1984, S.19)
Zu diesen angeblichen Merkmalen der Liebe habe ich Rückfragen, die ich hier ebenfalls in Form einer Liste aufführe:
  1. Warum darf die Liebe nicht einfach fleischlich sein?
  2. Die Liebe ist nicht einfach nur ,etwas‛ zwischen Ich und Du. Alles mögliche ist etwas zwischen Ich und Du. Liebe ist sehr wohl an ein Ich gebunden, insofern ,mein‛ Du ebenfalls ein Ich ist, so wie ich.
  3. Wieso und inwiefern ist das welthafte Wirken etwas anderes als das Verflochtensein im Getriebe?
  4. Ist die Verantwortung eines Ich für ein Du nicht etwas Spezielles: etwas Einzigartiges? Inwiefern kann sie als etwas so Konkretes eine übergreifende (allgemeine) Gleichheit aller Liebenden begründen?
  5. Bedeutet eine Liebe, die alle Menschen gleichermaßen umfaßt, nicht auch Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen?
Zur letzten Rückfrage wäre noch zu ergänzen, daß Buber an einer anderen Stelle festhält: „Ich weiß niemand in den Zeiten, der es fertiggebracht hätte, alle Menschen, denen er begegnete, zu lieben.“ (1929/1984, S.168f.) ‒ Aber die „Liebe des Gekreuzigten“ vermag dies sehr wohl. Buber unterscheidet also zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Liebe. Die Liebe des Menschen ist also etwas geringeres, weil sie einen Unterschied macht; weil Menschen den Menschen lieben und nicht die Menschen.

Letztlich ist die Liebe für Buber eben doch kein Gefühl, sondern etwas Geistiges, Abstraktes. Der konkrete Mensch hingegen, der Mensch mir gegenüber, der wie ich Mensch ist, Ich = Du, ist im Zweifel nur ein ,klein‛ wollender Mensch (vgl. 1923/1984, S.62f.), dessen Liebe eine fiebrige Lust ist: „Der willkürliche Mensch glaubt nicht und begegnet nicht. Er kennt die Verbundenheit (von Ich und Du ‒ DZ) nicht, er kennt nur die fiebrige Welt da draußen und seine fiebrige Lust, sie zu gebrauchen ...“ (1923/1984, S.62)

Diesem willkürlichen Menschen, seinem „entwirklichten Ich“, ist das Du nur sein „Gebrauchenkönnen“ (1923/1984, S.62), also nur ein Mittel; eben ein Es: „Er hat keinen großen Willen; nur die Willkür, die er dafür ausgibt.“ (1923/1984, S.63) Und wie wir schon aus dem vorhergehenden Blogpost wissen: der willkürliche Mensch ist „unfähig zum Opfer“, also unfähig zum „Menschentod“. (1923/1984, S.62f.)

Mittwoch, 11. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Martin Buber bezeichnet zwei Konstellationen von Personalpronomina als „Grundworte“: Ich-Du und Ich-Es. (Vgl.1923/1984, S.7) Schon der erste Unterschied zu meinem Konzept ist, daß Buber seine Grundworte, und da vor allem das erstere, nicht mit einem Gleichheitszeichen, sondern mit einem Gedankenstrich versieht. Hier stellt sich mir dann auch gleich die Frage, ob dieser Gedankenstrich vielleicht auch ein Trennungsstrich ist. Eine dritte denkbare Konstellation: Ich-Wir, führt Buber nicht eigens als Grundwort auf.

Ontologie statt Phänomenologie

Von den Grundworten heißt es: „Grundworte werden mit dem Wesen gesprochen.“ (1923/1984, S.7) ‒ Das ist ein ontologischer Satz. Er paßt nicht zu einer phänomenologischen Perspektive. Außerdem widersprechen solche Wesensbestimmungen ‒ das Du ist, so Buber, „wesenhaft anders“ als das Ich (vgl. 1953/1984, S.283) ‒ dem Gleichheitszeichen. Begriffe wie Identität und Authentizität hängen mit dem Wesensbegriff eng zusammen. Auch Buber glaubt, daß „Authentizität“ eine Grundvoraussetzung für das Gelingen einer Begegnung von Ich und Du sei. (Vgl. 1953/1984, S.280)

Ich und Du sind aber keine authentischen, also für sich unabhängigen, mit sich identischen Größen. Sie ergeben sich nur aus einer aktuellen Beziehung, die sich nicht auf zwei authentische Kerne bzw. identische Substanzen zurückführen läßt. Die Differenz zwischen Ich und Du jeweils als Ich ist nicht inhaltlich bestimmt, sondern lediglich raumzeitlich definiert. Sie befinden sich nicht zur gleichen Zeit am selben Ort. Sie sind einander gegenüber. Diese Differenz, nicht das Wesen, vereinzigartigt das Ich.

Authentizität läßt auch keine zweite Naivität zu. Sie verharrt in der ersten Naivität. Es kann für Buber keine zweite Naivität geben, wie wir sie von Nietzsche und von Plessner kennen, die es uns ermöglicht, in ein reflektiertes Verhältnis zur Scheinhaftigkeit unseres Soseins zu treten. Stattdessen beschreibt Buber Ich-Du als „hohe Aufrichtigkeit“, „die kein Schein mehr anficht, weil sie die Scheinhaftigkeit besiegt hat“. (Vgl. 1953/1984, S.280)

Da unvollkommene Menschen solche hohen Ansprüche nicht einlösen können, bedarf es eines göttlichen Garanten, wenn die Begegnung von Ich und Du nicht von vornherein scheitern soll. Wohl auch deshalb überhöht Buber die Zweiheit von Ich und Du in einer dritten Person: „... in jedem Du reden wir das ewige an ...“ (1923/1984, S.10) ‒ Und an wieder anderer Stelle: „Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du.“ (1923/1984, S.76) Dergleichen Textstellen, in denen das Primat des ewigen Du behauptet wird, gibt es viele.

Zugleich aber gilt angesichts dieser Überhöhung durch ein drittes Du: „Was die christliche Theologie ... nach meinem Wissen und Verständnis lehrt, ist dies, daß der Mensch, genauer der gefallene Mensch, seiner Unerlöstheit nach betrachtet, ,vor Gott‛ (coram Deo) sündig und verderbt sei.“ (1936/1984, S.258) ‒ Der Mensch, wie er ist, genügt nicht. Er ist durch und durch defizitär. Die Begegnung von Ich und Du geschieht nicht aus ihnen selbst. Buber ist also kein Phänomenologe: „(D)er Vordergrund trügt.“ schreibt er. (Vgl. 1953/1984, S.281) Deshalb ist bei ihm das Ich eben nicht gleich dem Du, sondern Du ist „wesenhaft anders“. (Vgl. 1953/1984, S.283) Buber kommt nicht auf den Gedanken, daß es, wenn es bei Ich-Du vor allem um ihre Wechselseitigkeit gehen soll, auf ihre Wesenslosigkeit ankommt. Weil Buber dieser Gedanke fernliegt, bedarf es eines Gottes bzw. eines ewigen Du, um die Wesensverschiedenheit von Ich und Du zu transzendieren.

Das zweite Grundwort, Ich-Es, begründet ein Zweck/Mittel-Verhältnis zwischen den Menschen untereinander und zu der Welt. Hier haben wir es mit einer „Es-Menschheit“ zu tun. (Vgl. 1923/1984, S.17) Ich spreche statt von einer Es-Menschheit lieber vom Gruppenmenschen. Dazu in einem anderen Post mehr. Buber zufolge hat das Du keine Dauer. Jede Ich-Du-Begegnung muß wieder zu einer Ich-Es-Beziehung werden. Aber auch umgekehrt gilt: jede Ich-Es-Beziehung kann wieder zur Ich-Du-Begegnung werden.

Bildung, Ich-Genese

Jedes Du hat Eigenschaften. Buber macht daraus ein Problem. (Vgl. 1923/1984, S.20f.) Aber es gibt keinen Widerspruch zwischen der Einzigkeit und Unbeschaffenheit, der Erfahrbarkeit und Unberührbarkeit des Du einerseits und seiner „Dinghaftigkeit“ (vgl. 1923/1984, S.21), also dem Vorhandensein von Eigenschaften andererseits. ,Ding‛ (Thing) ist nur ein anderes Wort für ,Gestalt‛, und in seiner Gestalt sind alle Eigenschaften eines Du vereinigt.

Das Du ist das Zentrum seiner Eigenschaften, die sich im Du zur Gestalt zusammenfügen. Diese Gestaltwerdung widerfährt dem Du in der Begegnung nicht von sich aus, als Ich, sondern vom anderen Ich her. Aber das Du ist auch ursprünglich nicht leer, sondern es ist immer schon eine Fülle für sich, als Ich, und für andere, die Du zu ihm sagen. Plessner bringt das in seinem Begriff des Körperleibs auf den Punkt.

Der Körperleib bildet eine Weiterentwicklung des transzendentalen Ichs, wie es Kant beschreibt. Das transzendentale Ich ist leer. Es ist die immer gleiche leere Form des Denkens, die wir in den verschiedenen Lebensaltern unterschiedlich füllen, die aber ihrer Form nach immer gleich und unverändert bleibt. Das transzendentale Ich ist etwas anderes als Ich = Du in seiner Vielfalt.

Das gilt so auch für das Du dort, wo es nur Ich für sich ist und nicht Ich und Du in Wechselwirkung. In gewisser Weise ist also nur das ,transzendentale‛ Ich einzig und unbeschaffen. Denn als dieses Ich, Descartes‛ cogito, bleiben und sind sich alle Menschen gleich, in Bezug auf sich selbst in allen ihren Lebensaltern, wie auch in Bezug auf alle anderen Menschen im umfassenden Sinne.

Aber da gibt es noch das individuelle Ich. Vielleicht sollte man hier besser statt von einem transzendentalen von einem transgenetischen oder transprozeduralen Ich sprechen. Ich denke dabei an Plessners Körperleib, der ebenfalls eine grundlegende Gleichheit in der Vielfalt von Ich = Du begründet, aber doch kein transzendentales Ich ist. Das transgenetische Ich oder eben das exzentrische Selbst wäre dann mit Plessner auf der Grenze zwischen Innen und Außen zu positionieren, was in der Sprache der Differenz zwischen Meinen und Sagen entspricht, zwischen deren Polen sich die Wechselbeziehung von Ich und Du vollzieht.

Dieses Körperleib-Ich ist vor der Ich = Du-Begegnung. Und in der Begegnung ist es, ob nun als Ich oder als Du, der Grund für deren Gleichursprünglichkeit. Ich und Du begegnen sich als Körperleib auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Meinen und Sagen. Buber bezeichnet das als das „Zwischenmenschliche“. (Vgl. 1953/1984, S.271ff.) Eine ähnliche Konstruktion kennen wir mit der „Zwischenleiblichkeit“ von Merleau-Ponty. In einer Nachbemerkung zitiert Buber sogar zwei ausführlichere Textstellen von Alexander von Viellers, in denen vom „Zwischenmenschen“ die Rede ist (vgl. 1953/1984, S.298), der exakt die Grenzsituation zwischen Innen und Außen zum Ausdruck bringt, wie man sie von Plessners Körperleib kennt.

Begrifflich gäbe es hier also eine Annäherung zwischen Plessner und Buber. Aber Buber kann trotz seiner Zwischenmenschlichkeit eine Gleichursprünglichkeit von Ich und Du nicht denken. Zuerst kommt das Du.

Daß Buber eine Gleichursprünglichkeit von Ich und Du, in der das Ich am Du zum Ich und das Du am Ich zum Du wird, nicht denken kann, ist darauf zurückzuführen, daß er das Ich-Du nicht an der Beziehung zwischen zwei konkreten Menschen festmacht, sondern eine kosmische Beziehung daraus macht. (Vgl. 1923/1984, S.32) Auf der kosmischen Ebene wird das Du zum ewigen Du, so daß das kleine irdische Ich auf eine aposteriorische Größe schrumpft. Das ewige Du hat das Primat gegenüber dem Ich als Du und dem Du als Ich.

Es gibt dieses Erst-noch-Werden des Ich am Du und in der Beziehung zum Du, wie Buber es beschreibt, nicht. (Vgl. 1923/1984, S.32) Das Ich ist in der Beziehung zum Du immer schon da; denn auch das Du ist immer schon Ich: als Körperleib. Der Bildungsprozeß, die Ich-Genese, wie sie Buber behauptet, als Werden des Ich am Du, findet nicht erst in der Begegnung mit Du statt. Es geht in der Bildung vielmehr um das individuelle Bewußtsein und seine Geschichte, zu der fundamental das Ich = Du gehört. Beides läßt sich nicht trennen, aber es handelt sich dennoch um zwei verschiedene Phänomene.

Das individuelle Bewußtsein, wenn es auch in seiner ganzen Fülle in die Wechselbeziehung eingeht, ist nicht identisch mit Ich = Du. Es hat seine eigene zeitliche Dimension, die die Genese eines Ich beinhaltet, das sich in allen Lebensaltern als dasselbe wiedererkennt und das sich dennoch in der Wechselbeziehung als das Andere seines Gleichen erlebt. Diesen Bildungsprozeß eines individuellen Bewußtseins könnte man analog zu Kants transzendentalem Ich als transgenetisches Ich bezeichnen. Nur haben wir es beim transgenetischen Ich nicht mit einer leeren Form zu tun, sondern mit einer körperleiblichen Grenze.

Bildungsprozeß und Lebenswelt wären dann zwei verschiedene Modi dieses transgenetischen Egos, die sowohl Individualität wie auch Kollektivität ermöglichen würden.

Meinen und Sagen

Der Körperleib impliziert, neben der Grenze von Innen und Außen, ein zu dieser Grenze sich verhaltendes individuelles Bewußtsein. Das hat auch eine fundamentale Relevanz für unser Sprechen, also für die Wechselbeziehung von Ich und Du, die sich im wechselseitigen Sagen auf das jeweilige Meinen des anderen Ich einstellen. So wird das Verstehen des Hörenden zum Maß für den Sagenden, ohne das die Differenz in Gänze aufgehoben werden könnte.

Bei Buber hingegen ist ein völlig anderes ,Wort‛ im Schwange. Buber verdreht die Innen/Außen-Problematik, indem er die Sprache zu einem Gehäuse macht, in dem wir ,drinstecken‛: „... in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, ‒ so alles Wort, so aller Geist. Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.“ (1923/1984, S.41)

Das ist richtig und falsch zugleich. Die durchaus zustimmenswerte Aufwertung der Sprache als einer Beziehungsform von Ich und Du wird durch eine Abwertung des Ich erkauft. Das Ich für sich spricht nicht. Das Ich für sich ist stumm.

Mit der Abwertung des Ich geht die Differenz von Innen und Außen, die Differenz des Körperlichen verloren. Der Mensch befindet sich nicht mehr auf der Grenze. Bubers ,Wort‛ ist vor allem das Gotteswort: „Wort von ihm, Wort, das in keinem Wörterbuch steht, Wort, das jetzt gewortet worden ist ‒ und was es von mir heischt, ist meine Antwort an ihn“. (Vgl. 1936/1984, S.244) ‒ Wenn alle Sprache vor allem Verantwortung vor Gott ist, spielen Meinen und Sagen keine Rolle mehr. Nicht einmal die Frage, ob wir das Richtige tun, spielt eine Rolle. Es geht nur darum, auf Gottes Wort zu ,antworten‛.

Darauf werde ich in einem der kommenden Blogposts noch näher eingehen.

Zur Notwendigkeit von Paradoxien

Im Nachwort von Oktober 1957 (1957/1984, S.122ff.) bezeichnet Buber das „ewige() Du“ als eine „,personifizierende()‛ Metapher“, und er verweist auf die „Gefahr einer problematischen ,Mystik‛“ (vgl. 1957/1984, S.129), die möglicherweise mit dieser Metapher einhergeht. Deshalb hält er fest: „Die klare und feste Struktur des Ich-Du-Verhältnisses, jedem vertraut, der ein unbefangenes Herz und den Mut hat, es einzusetzen, ist nicht mystischer Natur.“ (1957/1984, S.129)

Was die klare und feste Struktur des Ich-Du-Verhältnisses betrifft, die ich als Ich = Du-Beziehung beschreibe, kann ich Buber nur zustimmen. Allerdings gilt diese strukturelle Klarheit nur dort, wo ihre Zweiheit ins Zentrum der Reflexion gestellt wird. Sobald ihr ein drittes, ewiges Du hinzugefügt wird, sind wir schon mittendrin in der problematischen Mystifizierung, vor der Buber meint warnen zu müssen.

Ein solches Paradox ergibt sich z.B. dort, wo Buber das Dienstverhältnis des Individuums zu Gott und zur Gemeinschaft (dem ,Volk‛) beschreibt und von der Notwendigkeit, den eigenen Willen zu ,opfern‛, spricht. (Vgl. 1923/1984, S.62, 107, 108; 1936/1984, S.245f.) Diese Opferbereitschaft soll bis zum Tod gehen. Der „groß“ wollende Mensch soll bereitwillig den „Menschentod“ in Kauf nehmen. (Vgl. 1923/1984, S.62)

Zugleich aber soll der groß wollende Mensch vor allem seinem Gewissen folgen. (Vgl. 1936/1984, S.246) Dieses individuelle Gewissen setzt sogar der Gemeinschaft Grenzen (vgl. 1936/1984, S.245), nämlich immer dort, wo die Gemeinschaftszwecke nicht dem Willen Gottes entsprechen. Hier befindet sich der kleine Mensch mit seinem großen Willen nun in dem Paradox, seinem eigenen ,Volk‛ „aufglühend im unermeßlichen Schicksal“ dienen zu wollen, da ja in diesem Dienst, wie Buber selbst festhält, Gott selbst gemeint ist (vgl. 1923/1984, S.107), andererseits aber seinem Gewissen gegenüber, mit dem ebenfalls Gott gemeint ist, verpflichtet sein könnte, sich gegen das ,Volk‛ zu entscheiden.

Was an dieser paradoxen Ich-Du-Struktur ist jetzt noch „klar und fest“? Durch die Einbeziehung eines ewigen Du mit seinem Primat gegenüber der Zweiheit von Ich als Du und Du als Ich verunklart Buber diese Struktur. Er vernebelt und mystifiziert das Ich-Du-Verhältnis.

Jetzt wird verständlich, warum Buber schreibt, über „Gott“ könne nur mit Hilfe von Paradoxa gesprochen werden. (Vgl. 1957/1984, S.133f.) In diesem Durcheinander von sich widersprechenden Feststellungen hat es schon wieder etwas Rührendes, wenn Buber schreibt: „Der Widerspruch muß der höheren Einsicht weichen.“ (1957/1984, S.135) So wird tatsächlich jedem eigenständigen Verstandesgebrauch der Boden unter den Füßen weggezogen.

Das ewige Du als Gottesverhältnis

Bubers Primat des (ewigen) Du beinhaltet ein Gottesverhältnis, das eine Wechselbeziehung von Ich = Du nicht etwa ermöglicht, sondern behindert und sogar verhindert. Und zwar in drei Hinsichten: hinsichtlich der Sündhaftigkeit bzw. Scheinhaftigkeit des individuellen Menschen; hinsichtlich der Unterdrückung seines ,kleinen‛ Willens; hinsichtlich der Umwegigkeit des Ich-Du-Bezugs.

Zur Scheinhaftigkeit des individuellen Menschen habe ich mich in diesem Blogpost schon weiter oben geäußert. Buber verpflichtet den kleinwollenden Menschen, der sich mit dem „Schein“ als „Aushilfe“ arrangieren will ‒ man möchte ja irgendwie mit sich und der Welt zurecht kommen ‒ zur Größe einer „hohen Aufrichtigkeit“; zur „Authentizität“. (Vgl. 1953/1984, S.280)

Das Gegenteil der Authentizität ist dann nicht nur die Scheinhaftigkeit, sondern auch die „absolute() Sündhaftigkeit“ des Menschen. (Vgl. 1936/1984, S.258)

Im Gottesverhältnis ist zweitens die Unterdrückung des menschlichen Willens zugunsten Gottes Willen bis hin zum Opfertod des Gläubigen impliziert. Auch darauf wurde schon weiter oben eingegangen.

Und drittens führt die Hinzufügung eines dritten Prinzips zur Zweiheit von Ich = Du zu einer Umwegigkeit des Ich-Du-Verhältnis. Nur der Umweg über Gott macht eine Wechselbeziehung zwischen Ich und Du möglich. Das macht auf fast schon ironische Weise Kierkegaards Versuch deutlich, das Gottesverhältnis ganz auf den Einzelnen zu gründen, ohne ,Umweg‛ über das menschliche Du. (Vgl. 1936/1984, S.215ff.)

Folgt man Bubers Ausführungen, dann war für Kierkegaard der andere Mensch als Du nur ein unnötiger Umweg zum göttlichen Du. Kierkegaard glaubte als Einzelner in ein unmittelbares, erfüllteres Verhältnis zum Du Gottes treten zu können. Diese Spiegelumkehrung, statt Gott als Umweg zum Du das Du als Umweg zum Gott und die entsprechenden Verzerrungen des Ich-Du-Bezugs, lehrt uns etwas über das Gottesverhältnis. Denn auch umgekehrt gilt: im Ich = Du als Wechselbeziehung zweier Menschen bildet auch Gott bloß eine Verzerrung. Diese Verzerrung behindert eine unmittelbare, erfüllte Beziehung zum anderen Menschen.

Besser ist es, den Gedanken aufzugeben, ein drittes Du könnte die zwei Ich-Dus so transzendieren, daß dabei etwas Wesentlicheres daraus wird, als bloß zu zweit zu sein.

Dienstag, 10. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Im Nachtrag zu meiner Auseinandersetzung mit Ludger Lütkehaus in meinem Blogpost vom 07.03.2024 habe ich angekündigt, daß ich mich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit Martin Buber befassen wolle. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.

Vorweg möchte ich festhalten, daß Bubers Fundierung der zweiteiligen Ich/Du-Struktur in einem dritten, diese Struktur begründenden Prinzip, dem „ewigen Du“, meine Auseinandersetzung mit ihm erheblich erschwert. Es gibt kaum einen Satz oder Textausschnitt, der in einem ersten Teil fundamentale Aussagen zur Wechselbeziehung von Ich und Du enthält, ohne dann unmittelbar im zweiten Teil des selben Satzes bzw. Textausschnitts auf dieses nach meiner Zählung ,dritte‛ Du zu sprechen zu kommen. ,Drittes‛ deshalb, weil ja auch das Ich ein Du ist, nämlich für das Du, das wiederum, für sich, ein Ich ist. Wir haben es also schon in der zweiteiligen Ich/Du-Struktur mit zwei Dus zu tun.

Indem Buber dem noch ein drittes Du hinzufügt, das er meist als ,ewiges‛ Du bezeichnet und immer wieder mit Gott gleichsetzt, wird die eigentliche Wechselbeziehung von Ich und Du durch metaphysische und spirituelle Mystifizierung aufgehoben und negiert. In meiner Auseinandersetzung mit Buber führt das dazu, daß ich, um auf den Punkt zu kommen, immer wieder gezwungen bin, Bruchstücke von Sätzen und Textausschnitten zu zitieren, in denen ich den Teil verwende, um den es mir gerade geht, und den anderen weglasse, um mich dann womöglich an passender anderer Stelle auf diesen zunächst weggelassenen Teil zu beziehen.

Es ist ein seltenes Glück für mich, gelegentlich einen vollständigen Satz von Buber zitieren zu können, dem ich vorbehaltlos zustimmen kann.

Die von mir benutzte, 1984 erschienene Ausgabe von „Das Dialogische Prinzip“ besteht aus verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeiten publizierten Texten. Ich nenne deshalb immer die Jahreszahl der jeweiligen Erstveröffentlichung des Textes, dem ich ein Zitat entnehme, zusammen mit der Jahreszahl der Gesamtausgabe von 1984: „Ich und Du“ (1923/1984); „Nachwort vom Oktober 1957“ (1957/1984); „Zwiesprache“ (1929/1984); „Die Frage an den Einzelnen“ (1936/1984); „Elemente des Zwischenmenschlichen“ (1953/1984)