„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 15. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Martin Buber kennt zwar, wie schon im zweiten Blogpost erwähnt, das Ich-Wir als Grundwort nicht, befaßt sich aber dennoch an mehreren Stellen mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, die er sowohl unter dem Titel ,Gemeinschaft‛ wie auch unter verschiedenen anderen Titeln wie ,Menge‛, ,Öffentlichkeit‛ und ,Kollektiv‛ thematisiert, ohne zwischen diesen verschiedenen Titeln mehr als nur grobe begriffliche Unterschiede herauszuarbeiten. Gelegentlich verwendet er auch das Wort ,Gruppe‛ (vgl. 1929/1984, S.183ff., 1936/1984, S.245), das ich selbst am liebsten verwende, weil es am wenigsten mit zum Teil ideologisch bedingten Vorbedeutungen belastet ist.

Der Gemeinschaftsbegriff wird von Buber gerne gegen den Begriff der Menge angesetzt und religiös überhöht oder mystisch aufgeladen wie z.B. im Begriff der „Gemeinschaftsweihe“ (1929/1984, S.185) oder wenn er vom „Volk“ spricht, mit dem wir Gott ,meinen‛, wenn wir uns ihm „aufglühend“ hingeben (vgl. 1923/1984, S.107). Dabei soll das ,Gott meinen‛ keineswegs den volkhaften Gottesbezug relativieren, sondern im Gegenteil emphatisch hervorheben.

Um das klarzustellen hier noch mal die entscheidenden, von mir inkriminierten Sätze: „Wer einem Volk, aufglühend im unermeßlichen Schicksal, dient: wenn er sich ihm hingeben will, meint er Gott. Wem aber die Nation ein Götze ist, dem er alles dienstbar machen möchte, weil er in dessen Bild das eigne erhöht, ‒ wähnt ihr, ihr brauchtet es ihm nur zu verleiden und er schaute die Wahrheit?“ (Vgl. 1923/1984, S.107)

Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch mal, daß nur ein großer Wille die Bereitschaft zeigt, sein Leben zu opfern. (Vgl. 1923/1984, S.62) Hingewiesen werden muß auch auf Bubers feinsinnige Unterscheidung zwischen ,Volk‛ und ,Nation‛, nach der sich Gott Buber zufolge nur auf der Seite der Volksangehörigen wohlfühlt, während die Nation nur was für Götzendiener ist, die ihr eigenes Bild erhöhen. Damit verwirft er mit der Nation auch ihren Aufklärungsgehalt inklusive die französische Revolution.

Da bleibt mir nur noch zu erwähnen, daß Helmuth Plessner mit seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) ungefähr zur gleichen Zeit eine viel differenziertere Kritik zum ambivalenten Gehalt des Gemeinschaftsbegriffs geschrieben hatte.

Dennoch gibt es auch in „Das dialogische Prinzip“ von Buber kritischere Analysen zum Gemeinschaftsbegriff, wo er, diesmal ganz im Geiste von Plessner, vor den „massierten, vermengten, marschierenden Kollektivitäten“ warnt: „Die Kollektivität ist nicht Verbindung, sie ist Bündelung: zusammengepackt Individuum neben Individuum, gemeinsam ausgerüstet, gemeinsam ausgerichtet, von Mensch zu Mensch nur so viel Leben, daß es den Marschtritt befeure.“ (1929/1984, S.185)

Der Text, in dem dieser Satz steht, wurde 1929 geschrieben und war den immer dreister auftretenden nationalsozialistischen Organisationen geschuldet. Dennoch meint Buber, dem so etwas wie die weiter oben schon angedeutete „Gemeinschaftsweihe der Person“ entgegensetzen zu können, als wäre diese nicht genau das entpersonifizierende Moment im Nazismus. Überhaupt ordnet Buber widersinnigerweise den marschierenden Kollektivitäten das Individuum zu (natürlich als Gegensatz zur ,Person‛ gedacht), als hätten Individuen in Kollektiven irgendeine Überlebenschance.

So wurde aber, mit Ausnahme von Plessner, damals tatsächlich vielfach gedacht. Auch ein sozialistischer Denker wie Anton Semjonowitsch Makarenko soll ja geglaubt haben, das Kollektiv sei der Turnsaal des Individuums.

Es gibt noch andere gruppenkritische Textstellen im Zusammenhang mit Søren Kierkegaard. (Vgl. 1936/1984, S.199ff.) Kierkegaard gibt im Verhältnis von Einzelnem und Menge dem Einzelnen in seiner Unmittelbarkeit vor Gott den Vorzug. Die ,Menge‛ und alles, was irgendwie mit der Menge zusammenhängt, also letztlich jeder andere Mensch ist ihm nur ein Umweg zu Gott.

Kierkegaards Verdikt gilt so umfassend, daß er weder mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit noch mit der Ehe etwas anfangen kann. Buber zufolge glaubt Kierkegaard, daß die Ehe den Menschen, „als die entscheidende Verbindung eines Menschen mit dem Anderen, ... in die Konfrontation mit dem öffentlichen Wesen und seinem Schicksal (versetzt) ...“. (Vgl. 1936/1984, S.232)

Die Ehe ist für Kierkegaard eine gesellschaftliche Institution und mit ihr tritt der Einzelne in die Gesellschaft ein, was bedeutet: er entfernt sich von Gott. Das ist auch der Grund dafür, daß Kierkegaard von seinem Eheversprechen gegenüber Regine Olsen, seiner Verlobten, zurücktritt: „... die Ehe-Gemeinschaft ist Teil der großen Gemeinschaft, mit ihrer eigenen Problematik in die allgemeine gefügt, mit ihrer Heilshoffnung an die des großen Wesens gebunden, das in seinem unseligsten Zustand die Menge heißt.“ (19361984, S.232)

Buber respektiert Kierkegaards gesellschaftskritische Religionsauffassung und kann ihr auch das eine und andere abgewinnen, wenn er ihm auch in der Konsequenz einer völligen Abkehr von der Gesellschaft nicht folgt. Aber etwas von Kierkegaards Gedanken findet sich in Bubers Gewissensbegriff wieder, mit dem für die ,Person‛, in sorgsamer Abgrenzung zum Individuum, eine gewisse Autonomie in der Gemeinschaft und der Gemeinschaft gegenüber denkbar wird: „... kein Programm, kein taktischer Beschluß, kein Befehl kann mir sagen, wie ich, mich entscheidend, meiner Gruppe im Angesicht Gottes gerecht zu werden habe.“ (1936/1984, S.245; vgl. auch S.246)

Er geht sogar so weit, das Ich-Du-Grundwort von der Gruppenbindung zu unterscheiden: „Diese Verbundenheit aber bedeutet nur, daß all die einzelnen Existenzen in einer gruppenhaften beschlossen und von ihr umfangen sind; sie bedeutet nicht, daß zwischen einem und dem andern innerhalb der Gruppe eine irgend personhafte Beziehung bestehe.“ (1953/1984, S.271f.)

Dieses Zitat bestätigt ansatzweise meine Bemerkung im letzten Blogpost, daß eine Wechselseitigkeit von Ich und Du innerhalb einer Gruppe nur als exterritorialer Ort denkbar sei.

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