„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Was ist Liebe: etwas Romantisches? Etwas Spirituelles? Ein geistiges Prinzip? ‒ Mir fällt zu dieser Frage Rio Reisers Lied „Alles Lüge“ ein, wo er gesteht, daß er oft gar nicht mehr weiß, was Liebe ist.

Mir geht es oft ähnlich, wenn ich spirituelle, philosophische, religiöse Autoritäten über Liebe reden höre. Ich höre vor allem die Lüge dahinter; denn ich halte alles für eine Lüge, das darauf hinaus läuft, konkrete Gefühle, konkrete Bedürfnisse des Menschen schlecht zu reden. Und wenn solche Autoritäten über Liebe reden, dann tun sie es oft genau aus diesem Grund. Anscheinend ist aus ihrer Sicht das meiste, was die Menschen unter Liebe verstehen, egoistisch, verdorben, sündhaft und böse und vor allem eins: fleischlich.

Darum denke ich, entgegen allem, was uns immer wieder eingetrichtert wird, ist Liebe vor allem konkret. Und deshalb ist sie vielfältig. Und sie ist auch fleischlich. Denn unser Leib ist lebendiges Fleisch.

Martin Buber denkt an verschiedenen Stellen in diese Richtung: „... man müßte, auch mit dem Denken, auf den andern nicht gedachten, sondern leibhaft vorhandenen Menschen hin leben, auf seine Konkretheit hin. Nicht auf einen anderen Denker hin, von dem man nichts wissen will außer seinem Denken, sondern, auch wenn der andre ein Denker ist, auf sein leibhaftes Nichtdenken hin ...“ (1929/1984, S.179f.)

Vor allem auf dieses „leibhafte Nichtdenken“ werde ich im nächsten Blogpost noch mal detaillierter eingehen. Hier ist mir vor allem Bubers Hinweis auf das wichtig, was vor allem anderen für uns konkret ist: der Hinweis auf den Leib.

Das gilt dann auch für die Nächstenliebe. So hebt Buber hervor, daß die Nächstenliebe einen Unterschied macht. Der Nächste ist nicht einfach jeder beliebige Andere, sondern der Mensch mir gegenüber. Der Nächste ist mein Du, das mich als sein Du anspricht: „Wenn alles Konkrete gleich nah ist, gleich nächst ist, hat das Leben mit der Welt nicht Gliederung und Bau, nicht menschenhaften Sinn mehr.“ (1929/1984, S.169)

Wenn alles Konkrete gleich nah ist, dann ist es nicht konkret. Oder anders: Das Konkrete in anderen Weltgegenden oder auch nur in einer anderen Stadt ist nicht mein Nächstes.

Die Nächstenliebe macht also einen Unterschied und verleiht so der Welt „Gliederung und Bau“, und deshalb ist sie konkret und nicht abstrakt. Sie ist nicht romantisch, nicht spirituell und auch kein geistiges Prinzip. Sie ist konkret, weil auch der Mensch mir gegenüber konkret ist. Er ist konkret in seiner Leibhaftigkeit, in seiner Fleischlichkeit, die wir nicht denken können, die wir aber trotzdem wahrnehmen, als Empfindung, als Gefühl, als „menschenhaften Sinn“.

Es wäre schön, wenn ich hier jetzt innehalten könnte und sagen könnte, daß ich Buber ohne jede Einschränkung voll und ganz zustimmen kann. Aber leider gibt es andere Stellen, die diese einfache Wahrheit, die Konkretheit seiner Aussage in Zweifel ziehen. In einer solchen Textstelle zählt Buber verschiedene Momente auf, die seiner Ansicht nach Liebe ausmachen. Am Anfang steht die Behauptung, daß Liebe kein Gefühl sei. Dann folgen nach meiner Zählung insgesamt fünf Merkmale für das, was Buber an dieser Stelle ,Liebe‛ nennt (vgl. 1923/1984, S.18f.):
  1. Die Liebe ist ein „metaphysische(s) und metapsychische(s) Faktum“. (Vgl. 1923/1984, S.18)
  2. Die Liebe „haftet dem Ich nicht an“, sondern ist etwas „zwischen Ich und Du“. (Vgl. 1923/1984, S.18)
  3. Die Liebe ist „ein welthaftes Wirken“ und löst die Menschen „aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe“. (Vgl. 1923/1984, S.19)
  4. Die Liebe ist die „Verantwortung eines Ich für ein Du“, und darin besteht die „Gleichheit aller Liebenden“. (1923/1984, S.19)
  5. Die Liebe des Gekreuzigten vermag nicht nur den, sondern auch die Menschen zu lieben. (Vgl. 1923/1984, S.19)
Zu diesen angeblichen Merkmalen der Liebe habe ich Rückfragen, die ich hier ebenfalls in Form einer Liste aufführe:
  1. Warum darf die Liebe nicht einfach fleischlich sein?
  2. Die Liebe ist nicht einfach nur ,etwas‛ zwischen Ich und Du. Alles mögliche ist etwas zwischen Ich und Du. Liebe ist sehr wohl an ein Ich gebunden, insofern ,mein‛ Du ebenfalls ein Ich ist, so wie ich.
  3. Wieso und inwiefern ist das welthafte Wirken etwas anderes als das Verflochtensein im Getriebe?
  4. Ist die Verantwortung eines Ich für ein Du nicht etwas Spezielles: etwas Einzigartiges? Inwiefern kann sie als etwas so Konkretes eine übergreifende (allgemeine) Gleichheit aller Liebenden begründen?
  5. Bedeutet eine Liebe, die alle Menschen gleichermaßen umfaßt, nicht auch Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen?
Zur letzten Rückfrage wäre noch zu ergänzen, daß Buber an einer anderen Stelle festhält: „Ich weiß niemand in den Zeiten, der es fertiggebracht hätte, alle Menschen, denen er begegnete, zu lieben.“ (1929/1984, S.168f.) ‒ Aber die „Liebe des Gekreuzigten“ vermag dies sehr wohl. Buber unterscheidet also zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Liebe. Die Liebe des Menschen ist also etwas geringeres, weil sie einen Unterschied macht; weil Menschen den Menschen lieben und nicht die Menschen.

Letztlich ist die Liebe für Buber eben doch kein Gefühl, sondern etwas Geistiges, Abstraktes. Der konkrete Mensch hingegen, der Mensch mir gegenüber, der wie ich Mensch ist, Ich = Du, ist im Zweifel nur ein ,klein‛ wollender Mensch (vgl. 1923/1984, S.62f.), dessen Liebe eine fiebrige Lust ist: „Der willkürliche Mensch glaubt nicht und begegnet nicht. Er kennt die Verbundenheit (von Ich und Du ‒ DZ) nicht, er kennt nur die fiebrige Welt da draußen und seine fiebrige Lust, sie zu gebrauchen ...“ (1923/1984, S.62)

Diesem willkürlichen Menschen, seinem „entwirklichten Ich“, ist das Du nur sein „Gebrauchenkönnen“ (1923/1984, S.62), also nur ein Mittel; eben ein Es: „Er hat keinen großen Willen; nur die Willkür, die er dafür ausgibt.“ (1923/1984, S.63) Und wie wir schon aus dem vorhergehenden Blogpost wissen: der willkürliche Mensch ist „unfähig zum Opfer“, also unfähig zum „Menschentod“. (1923/1984, S.62f.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen