„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Zu Meinen und Sagen habe ich mich schon im zweiten Blogpost geäußert. Obwohl Buber vom Standort des Wortes Gottes und des antwortenden Menschen aus mit dieser Differenz nichts anzufangen weiß, ist für ihn aus ontologischer Perspektive die Dimension des Unsagbaren trotzdem wichtig. Denn das Wesen bzw. das Wesentliche ist immer auch das Unsagbare. Auch hier haben wir es mit einer Differenz von Meinen und Sagen zu tun, nur daß hier mit anderen Begriffen hantiert wird.

Bei Buber handelt es sich hierbei um die Differenz von Schweigen und Sagen, und das Schweigen ist das Sagen des Unsagbaren. Diese Differenz ermöglicht die besondere Beziehung zwischen Ich und Du, in der das Du dem Ich zunächst uneinholbar vorausgesetzt und dann in einem weiteren Schritt als göttliches Du dem Ich auch übergeordnet werden kann: „Nur das Schweigen zum Du, das Schweigen aller Zungen, das verschwiegene Harren im ungeformten, im ungeschiedenen, im vorzunglichen Wort läßt das Du frei, steht mit ihm in der Verhaltenheit, wo der Geist sich nicht kundtut, sondern ist.“ (1923/1984, S.42)

Was bei Plessner mit dem Körperleib als innen/außen schon gesetzt ist, die Differenz von Meinen und Sagen als immanenter Bewegungsimpuls jeder Sprache, konstruiert Buber durch das Gegeneinander von Schweigen und Sprache. Das Ich, das einem anderen Ich zum Du werden könnte, verschwindet hinter diesem Schweigen. Es kommt als Ich nicht zur Selbstaussage.

Expressivität ist ein wesentliches Moment jedes Sprechaktes. Sich als Ich vor sich selbst und vor anderen wie Ich zur Aussage zu bringen, bildet eine Grundvoraussetzung der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du; eine Grundvoraussetzung, die auch das Du meint, das ,Ich‛ sagen will. Eine weitere Grundvoraussetzung ist das, was das andere Ich von dem, was ich über mich aussagen will, versteht und das für mich dadurch zum Maß für das wird, was ich gesagt habe. So kann ich prüfen, inwieweit ich gesagt habe, was ich meine, und inwieweit ich meine, was ich gesagt habe.

Das Ich „steht“ nicht in der Sprache. Das Ich ist sich selbst verborgen, und an der Grenze des Körperleibs begegnet es einem Du, das sich als Ich ebenfalls an der Grenze seines Körperleibs verborgen ist. So entsteht Sprache: als Differenz von Meinen und Sagen. Beide Ichs gleichermaßen werden in der wechselseitigen Ansprache als Du anerkannt und verbergen sich gleichzeitig. Gerade im Sich-Verbergen werden sie anerkannt. Sie werden angesprochen, aber nicht ausgesagt.

Deshalb zeigt sich das Unsagbare nicht einfach nur im Schweigen, was ich grundsätzlich durchaus für möglich halte, sondern vor allem in dem, was mein Sagen über mich verbirgt.

Auf den Seiten 64-68 stellt Buber das apperzipierende Ich, das er in einer wundervollen Wendung auch als „starken Goldfaden, an dem sich die wechselnden Zustände aufreihen“, bezeichnet (vgl. 1923/1984, S.64), in Frage. Was wie eine Aufwertung des Ich jenseits von Ich-Du klingt, wird in der Folge zu einem bloß „zahllose(n) Ich“ herabgestuft, das lediglich ein „unentbehrliches Pronomen“ sei, eine „notwendige Abkürzung für ,Dieser da, der redet‛“. (Vgl. ebenda) ‒ Wer aber das redende Ich derart abwertet, dem ist auch das denkende Ich nichts wert, ungeachtet dessen, daß er es kurz zuvor noch als starken Goldfaden besungen hatte.

Buber reduziert den Erfahrungsbegriff, zu dem ein apperzipierendes Ich unverzichtbar gehört, auf bloße auf Nützlichkeit ausgerichtete Mittelbarkeit. (Vgl. 1923/1984, S.65) Zugleich mystifiziert Buber die ,Person‛ als Beziehungsform, indem er spirituelle Umschreibungen („Hauch des ewigen Lebens“, ,Reifung‛ der „geistigen Substanz“) für das Ich-Du der Beziehung verwendet. (Vgl. 1923/1984, S.65 und 66) Die Person soll als Beziehung zu einem Du eine „Schau“ sein, während die Erfahrung, als „Eigenwesen“, sich bloß mit sich selbst „befaßt“. (Vgl. 1923/1984, S.67)

Mit Ich = Du hat das alles nichts mehr zu tun. Das Individuum, nicht bloß als mit sich selbst befaßtes Eigenwesen, sondern als notwendiges Moment einer Ich-Genese, vermag Buber nicht zu denken. Auch das für eine Wechselbeziehung scheinbar so inkompatible „Es“ kann ohne weiteres Bestandteil eine Wechselbeziehung von Ich und Du sein und muß es sogar. Nicht etwa im Nachhinein, wenn aus Du wieder Es geworden ist, sondern als Teil der lebendigen Gegenwart von Ich und Du. Ich = Du können sich durchaus im Kontext einer Sachbeziehung begegnen und die Struktur eines referentiellen Dreiecks bilden. Das ist sogar sehr oft so, nämlich zwischen Eltern und ihren Kindern und zwischen Lehrern und ihren Schülern und auch in anderen Sozialformen, in denen nicht das Wir, also die Gruppe, dominiert, sondern die Sache.

Unter all diesen Texten und Textfragmenten finden sich, wie schon gezeigt, immer wieder wunderschöne, poetische Sätze, denen ich von ganzem Herzen zustimmen kann: „Nach seinem Ichsagen ‒ danach, was er meint, wenn er Ich sagt ‒ entscheidet sich, wohin ein Mensch gehört und wohin seine Fahrt geht. Das Wort ,Ich‛ ist das wahre Schibboleth der Menschheit.“ (1923/1984, S.68)

So sehr mir dieser Satz gefällt, kann ich aber auch hier wieder nicht umhin, zu ergänzen, daß Buber nur genau eine richtige Weise des Ich-Sagens kennt. Er grenzt das Ich-Sagen des wahren Ich, der ,Person‛, vom Ich-Sagen des ,Eigenmenschen‛ ab. (Vgl. 1923/1984, S.68) Unter dem Eigenmenschen, wie Buber ihn nennt, verstehe ich den Gruppenmenschen. ,Eigen‛ im Buberschen Sinne ist der Mensch vor allem in der Gruppe. So wie ich mir die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du vorstelle, kann es sie in der Gruppe nicht geben. Wenn sich zwei Menschen ,in‛ einer Gruppe als Ich und Du begegnen, befinden sie sich innerhalb ihrer Gruppe an einem exterritorialen Ort.

In der Gruppe ist niemand gleich dem Anderen. Jede und jeder hat eine bestimmte, von der Gruppe zugewiesene Funktion, die ihn von allen anderen unterscheidet. Deshalb haben wir in Deutschland auch ein Grundgesetz, das den einzelnen Menschen vor der Gruppe schützen soll.

Im Gruppenmenschen kann Buber hier anscheinend keine Gefahr erkennen (an anderen Stellen, auf die ich im nächsten Blogpost eingehen werde, aber doch), und im Eigenmenschen sieht er die Individualität nicht, ohne die auch die Person nicht Person sein kann. (Vgl. 1923/1984, S.66; 1936/1984, S.204f., 246) Deshalb darf das „abgetrennte Ich“, als bloßes Individuum, auch nicht „mit großem Anfangsbuchstaben“ gesprochen werden. (Vgl. 1923/1984, S.68) Was immer sich da als ,Ich‛ aussagen will, muß klein gehalten werden und seine Größe aufsparen für ein Du. Darauf beschränkt sich Bubers Schibboleth.

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