„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Januar 2023

Kompromißbildung und Güterabwägung

Politische Entscheidungen basieren immer auf Kompromissen. Gesetze kommen nie so aus dem Parlament heraus, wie sie ins Parlament eingebracht wurden. Das wird auch gerne als Argument gegen die verbreitete Unzufriedenheit und Frustration unter Bürgerinnen und Bürgern verwendet, wenn diese mit solchen Gesetzen konfrontiert werden. Das gilt selbstverständlich auch für frühere politische Entscheidungen zum Braunkohletagebau. Nur haben wir hier ein Problem ganz anderer Art: der Braunkohletagebau greift in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger ein; am sinnfälligsten dort, wo Dorfgemeinschaften dem Tagebau weichen und individuelle Lebens- und Wohnverhältnisse aufgelöst werden. So schon seit hundert Jahren. Und seit den immer sichtbarer werdenden Folgen des Klimawandels auch, was die Möglichkeit künftiger Generationen betrifft, ihr Leben zu führen.

An dieser Stelle kommen wir in den Bereich der Güterabwägung. Auf den ersten Blick sieht es aus, als ginge es hier wieder darum, Kompromisse zwischen dem individuellen Wohl und dem Gemeinwohl zu finden. Aber tatsächlich haben wir es bei der Güterabwägung mit etwas völlig anderem zu tun. Die Notwendigkeit, unveräußerliche Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen, ist der Grund, warum wir ein Grundgesetz haben.

Die Grundrechte


Das Grundgesetz schränkt im Bereich der Grundrechte die Möglichkeit der Kompromißbildung erheblich ein. Das erste, was das Grundgesetz festlegt, ist, welches Gut auf keinen Fall gegen andere Güter abgewogen werden darf: die Würde des Menschen. Damit haben wir einen Vorrang des Individualrechts vor den Gruppenrechten. Die Würde ist gewissermaßen der Kontrapunkt zum Gemeinwohl.

Inwiefern unterscheidet sich also die Güterabwägung von der politischen Kompromißbildung? Bei Kompromissen geht es um den Ausgleich von Gruppeninteressen. Bei der Güterabwägung geht es um den Ausgleich von Rechtsgütern.

Es gibt aber auch Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden politischen Praktiken: am ähnlichsten sind sie sich, wo Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und die freie Persönlichkeitsentfaltung gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Meinungsfreiheit (aggressive Meinungsführer, Internetblasen, Presse etc.) kann die für die freie Persönlichkeitsentfaltung unverzichtbare Privatsphäe eines Menschen und damit seine Integrität bedrohen. Umgekehrt kann wie bei dem vorgeblichen Recht auf Komfortabilität ein Primat der Privatsphäre die Meinungsfreiheit bedrohen. An dieser Stelle muß ein echter Kompromiß gefunden werden, der beides ermöglicht: Meinungsfreiheit und freie Prsönlichkeitsentfaltung. Beide müssen sich gegenseitig einschränken lassen, weil sie Grundrechte gleichen Ranges sind.

Anders ist das schon, was das Verhältnis von Individualrechten und Gruppenrechten betrifft. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß die Religionsfreiheit keineswegs dafür in Anspruch genommen werden darf, Individualrechte wie die Meinungsfreiheit und die freie Persönlichkeitsentfaltung einzuschränken. Dafür steht die Unantastbarkeit der menschlichen Würde. Es ist nicht gegen die Würde des Menschen, wenn sich Individualrechte gegenseitig beschränken. Aber es ist definitiv gegen die Würde des Menschen, wenn Individualrechte zugunsten religiöser Praktiken eingeschränkt werden.

Ich gebe zu, daß das ein streitbarer Punkt ist.

Aber wenn gläubige Menschen meinen, sie könnten als Gemeinschaft Privilegien in Anspruch nehmen, die für nicht gläubige Menschen so nicht gelten, dann haben sie das Recht verloren, im Namen der Religionsfreiheit staatlichen Schutz einzufordern.

Die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar und liegt jenseits dessen, was politische Kompromißbildung darf.

Das Eigentum

Was bedeutet das für das RWE und sein Eigentum? Nun handelt es sich beim RWE nicht um eine Gruppe, die Rechte für sich in Anspruch nimmt, die den Individuen nicht zugebilligt werden, sondern um eine juristische Person. Wenn es ganz schimm käme, würde man solchen juristischen Personen, den Konzernen, Individualrechte zusprechen, z.B. das Wahlrecht. So weit ist es glücklicherweise noch nicht gekommen. Ich gehe jedenfalls davon aus, daß wir es bei einer juristischen Person so wenig wie etwa bei einer Religionsgemeinschaft mit einem Individuum zu tun haben.
 
Nun nimmt RWE Eigenümerrechte für sich in Anspruch. Wie ist sie in ihren Besitz gekommen? Die Eigentümerrechte, die RWE in Anspruch nimmt, sind, so weit ich das sehen kann, ursprünglich durch Berufung auf ein Gemeinwohlinteresse (Enteignung) zustande gekommen, und da klaffen heute, unter den Bedingungen des Klimawandels, die damaligen politischen Entscheidungen mit ihren Kompromißbildungsprozeduren und eine den heutigen Umständen entsprechende aktuelle Güterabwägung in krasser Weise auseinander.

Nichts spricht dafür, daß die Eigentumsrechte von RWE höherrangig sind, als die von in Dorfgemeinschaften beheimateten Individuen. Auch für RWE gilt, daß Eigentum verpflichtet. (Art. 14 GG) RWE hat als Eigentümer keine besonderen Privilegien, die Dorfgemeinschaften und Individuen nicht hätten. Wenn also ein Gut wie die Freiheit künftiger Generationen, ihr Leben zu führen, durch die klimatischen Folgen des Braunkohletagebaus bedroht ist, spricht nichts dagegen, daß wir heute frühere Güterabwägungen revidieren und RWE genauso seiner Eigentumsrechte enteignen, wie zuvor Dorfgemeinschaften und Individuen ihrer Eigentumsrechte enteignet worden waren.

Die Freiheit künftiger Generationen, ihr Leben zu führen, ist ein Kernbestandteil ihrer Würde, deren Unantastbarkeit wir für uns selbst beanspruchen, und deshalb ist das heutige Gemeinwohl ein anderes als dasjenige, das über Generationen hinweg den Braunkohletagebau legitimiert hatte. Auch die Würde des Menschen ist heute anders gefährdet als früher. Wer die Zukunft in unser heutiges Handeln nicht einbezieht, ist verantwortungslos. In diesem Sinne hat auch das Verfassungsgericht den Geltungsbereich des Grundgesetzes ausgedehnt.

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Natürlich handelt es sich auch hier um völlig unverbindliche Überlegungen eines juristischen und verfassungsrechtlichen Laien.

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