„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 2. Juli 2018

Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Grundbedürfnisse
3. Köder
4. Suchtanthropologie
5. Digitalisierung
6. Intentionalitätsfehlschluß

Adam Alter weist mehrfach darauf hin, daß Technologie moralisch „weder gut noch böse“ sei. (Vgl. Alter 2018, S.16 und S.314) Aber angesichts einer technischen Infrastruktur, die die an eine analoge Realität angepaßten Grundbedürfnisse des Menschen so effektiv ‚bedient‘ wie die digitalen Medien, ist die Feststellung, Technologie sei ‚neutral‘ und es komme nur auf die Art ihres Gebrauchs an, fragwürdig. Zur Neutralität einer Technologie gehört, daß der Mensch die Wahl hat, sie zu verwenden oder auch nicht. Aber weder auf der Seite einer durchdigitalisierten Gesellschaft noch auf der Seite der ‚Willenskraft‘ des Menschen gibt es dieses anthropologisch fundierte, exzentrische Moment, das Wahlfreiheit gewährleisten würde.

Am Anfang der techno-kulturellen Evolution von der Schrift zur modernen Informations- und Kommunikationstechnologie vor 5000 Jahren hatte die Schrift dazu beigetragen, den Menschen auch auf kultureller Ebene exzentrisch zu positionieren. (Vgl. meine Blogposts vom 04.02.2011 und vom 05.02.2011) Die immersive Qualität der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie hebt diese Exzentrizität wieder auf.

Der Autor führt einige Grundbedürfnisse an, die die virtuelle Welt des Internets effektiver befriedigt als die Realität: da ist z.B. das neurophysiologische Belohnungssystem, das vor dem Internetzeitalter die Überlebensinstinkte des Menschen unterstützte und ihrer natürlichen Umwelt anpaßte (vgl. Alter 2018, S.110). In einer technologischen Zivilisation, die im Zeichen einer „Kultur des Zielesetzens“ die Menschen permanent unter Leistungsdruck setzt, läßt sie dieses Belohnungssystem obsessiv werden und impft ihnen eine unsinnige Rekordmentalität ein. Leslie Sim, Expertin für Fitneßsucht, hält fest: „Schritte- und Kalorienzählen hilft uns nicht, wenn wir abnehmen wollen; es macht uns nur zwanghafter. Wir verlieren, was Sport und Essen angeht, unsere Intuition.“ – Und Alter ergänzt:
„Es wäre demzufolge gesünder, die Messung von Zielen zu erschweren, und es ist gefährlich, Geräte zu benutzen, die alles messen – von unserer Herzfrequenz bis zur Anzahl der Schritte, die wir heute gelaufen sind.“ (Alter 2018, S.117f.)
Ein weiteres Grundbedürfnis ist Liebe. Bei der Sucht haben wir es vor allem mit fehlgeleiteter Liebe zu tun. Schon das Liebesbedürfnis als solches ähnelt in manchem einem Suchtverhalten. Fehlgeleitete Liebe, sei es nun der falsche Partner, dem wir hörig sind, oder die Flasche Wodka, die der Alkoholiker zärtlich streichelt, ist der Autorin Maia Szalavitz zufolge ein Suchtverhalten. (Vgl. Alter 2018, S.80f.) Es ist dieses Liebesbedürfnis, das so viele Menschen an ihre sozialen Netzwerke bindet und süchtig danach macht, ‚geliked‘ zu werden.

Auch die Notwendigkeiten der Gestaltwahrnehmung, die uns dazu befähigen, aus dem Chaos der Umwelt relevante Signale herauszufiltern und zu individuellen Gestalten zu formen, „Kontur und Bewegungen“ (Alter 2018, S.27), können durch Online-Spiele so effizient, ‚spielend leicht‘, bedient werden, daß sie unsere Aufmerksamkeit von der Realität abziehen und dauerhaft binden.

Sogar der Wunsch nach Meisterschaft kann zu einem Suchtverhalten führen, weil das der Meisterschaft innewohnende Flow-Erlebnis nach ständiger Wiederholung verlangt. Dieses Flow-Erlebnis kommt dem ungarischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi zufolge „nur  in jenen seltenen Situationen verlässlich“ zustande, „in denen die anstehenden Herausforderungen und die Fähigkeit, diese Herausforderungen gerade so zu meistern, in Einklang sind“. (Vgl. Alter 2018, S.177) – Die Videospiele sind mit ihren verschiedenen Levels so an das jeweilige Kompetenzniveau der Spieler angepaßt, daß sie ihnen genau diese Grenze der Meisterschaft vermitteln und Flow-Erlebnisse auslösen.

Krassimira Kruschkova hat übrigens in ihrem Aufsatz „Performance für Anfänger“ (2016) ein Gegenmittel für dieses Bedürfnis nach Meisterschaft empfohlen: Afformanz. (Vgl. meinen Blogpost vom 10.06.2016) Demnach zeigt sich wahre Meisterschaft darin, das, was man am besten kann, nicht zu tun.

Ein weiteres Grundbedürfnis, das zur Sucht werden kann, ist das Spielen. Der Autor beschreibt unter dem Stichwort „Gamification“, wie alles, was wir ungern tun, in dem Augenblick, wo es zu einem Spiel gemacht wird, Spaß macht. (Vgl. Alter 2018, S.291ff.) Übrigens hatte schon John Lock vor zweieinhalb Jahrhunderten dieselbe Entdeckung gemacht und sie für eine schwarze Pädagogik empfohlen: Kinder lernen am besten, wenn man alles zu einem Spiel macht. Und natürlich lassen sie sich so auch einfacher manipulieren. Der Erzieher hat dann leichtes ‚Spiel‘ mit ihnen. (Vgl. meinen Blogpost vom 16.03.2012)

Adam Alter beschreibt, wie die Werbeagentur DDB mit Hilfe von Gamification das Problem löste, daß die Pendler in einer schwedischen U-Bahn-Station immer die enge Rolltreppe benutzten und die breite Treppe vermieden, was in Stoßzeiten zu Staus führte. (Vgl. Alter 2018, S.291) Die DDB verwandelte die Treppenstufen in Klaviertasten, so daß die Fußgänger Melodien auslösten, wenn sie die Treppe benutzten. Von nun an benutzten die meisten Pendler die Treppe.

In einem anderen Fall stattete die DDB Mülltonnen mit Echoeffekten aus. Wenn Passanten Müll reinwarfen, erfolgte mit etwas Verspätung ein Plumpsgeräusch. Und bei der Abfallsortierung reagierten die Mülltonnen bei korrektem Einwurf „mit Blinklichtern und Punkten, die auf eine große rote Anzeigetafel übertragen wurden“. (Vgl. Alter 2018, S.292) Der Park wurde von nun an sichtbar sauberer.

Ein Spieledesigner entwickelte das Spiel „FreeRice“, dessen Ziel es war, Spenden für das Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen einzusammeln. Das Spiel war so erfolgreich, daß die Website bis 2014 100 Milliarden Reiskörner eingesammelt hatte. (Vgl. Alter 2018, S.294)

Wir haben es hier mit positiven Effekten von Gamification zu tun. Aber wie der obige Hinweis auf John Locke zeigt, hat Gamification seine Schattenseiten, auf die auch Adam Alter hinweist. Das Problem bei der Gamification ist die Motivation des Spielers. Er erfüllt seine Aufgabe nicht, weil ihm die Aufgabe wichtig ist, sondern weil er Spaß haben will. Wenn wir etwa ein Kind, das sein Essen verweigert, dazu bringen, Nahrung zu sich zu nehmen, indem wir daraus ein Spiel machen, wird es Lebensmittel nie wirklich zu schätzen wissen. Es wird immer nur nach dem Spaß dabei suchen. Und das wird natürlich von Fast-Food-Ketten wie MacDonald ausgenutzt. „Tatsächlich“, so Alter, kann „der Spaßfaktor, der einer Gamification innewohnt, wichtige Motive verdrängen, indem er die Art und Weise verändert, wie Menschen insgesamt auf Erlebnisse reagieren“. (Vgl. Alter 2018, S.313)

Die größte Gefahr liegt aber in der Manipulierbarkeit von Menschen. Wenn sie Spaß haben, ist ihr Verstand ruhig gestellt. Spaß macht die Menschen auf eine hinterhältige Weise geistig träge, und Trägheit ist, wie Adam Alter festhält, der „Grundzustand des Menschen“:
„Wenn die Sozialpsychologinnen Susan Fiske und Shelley Taylor Menschen als kognitive Geizhälse beschreiben, dann deuten sie damit an, dass wir das Denken genauso vermeiden wie der Geizhals unnötige Ausgaben. Tatsächlich ziehen es Menschen vor, nur so viel wie nötig zu denken, um zu einer gerade noch akzeptablen Schlussfolgerung zu kommen.“ (Alter 2018, S.303)
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