„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Juli 2018

Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Grundbedürfnisse
3. Köder
4. Suchtanthropologie
5. Digitalisierung
6. Intentionalitätsfehlschluß

Ich habe schon im ersten Blogpost zu Adam Alters Buch angedeutet, daß ich es anthropologisch verstehe: sein Buch liefert viele interessante Details zur Natur des Menschen, und deshalb haben wir es hier weniger mit einem Buch über Sucht als vielmehr mit einer Suchtanthropologie zu tun. Aus einer phänomenologischen Perspektive interessiert mich hier insbesondere die Ergänzung des Intentionalitätsbegriffs, also die Differenzierung des Spannungsbogens, der das menschliche Bewußtsein auf die Welt, also auf die Mitmenschen und die Dinge, ausrichtet. Eine solche Differenzierung besteht vor allem in den „sechs Zutaten“ , die Adam Alter zufolge unsere Anfälligkeit für „Verhaltenssüchte“ befeuern: (1) das Streben nach Zielen; (2) die Anfälligkeit für positives Feedback; (3) der Wunsch, uns selbst zu verbessern; (4) das Bedürfnis, Erfolgserlebnisse – eigentlich: das damit verbundene Belohnungserlebnis – zu wiederholen; (5) das Bedürfnis, Spannungen aufzulösen; und (6) das Bedürfnis nach starken sozialen Bindungen. (Vgl. Alter 2018, S.17 und S.97ff.)

Zu 1: Menschen werden Adam Alter zufolge „von einem Sinn für Fortschritt angetrieben“. (Vgl. Alter 2018, S.98) Dieser Sinn wird zusätzlich durch eine Kultur unterstützt, die das Zielesetzen als solches zu einem Wert an sich erhoben hat; eine Kultur, die durch Perfektionismus und Selbstoptimierung dominiert wird. (Vgl. Alter 2018, S.109) In so einer Kultur geht der Sinn für das bereits Erreichte verloren: hat man bestimmte Ziele erreicht, können wir sie nicht mehr genießen, sondern suchen uns sofort neue Ziele. Dieses Verhalten ist suchtaffin und wird von Computerspielen, aber auch von Serienangeboten weidlich ausgenutzt. Denn Serien verleiten uns dazu, uns Zielmarken zu setzen, die wir täglich oder wöchentlich oder jährlich einzuhalten versuchen, etwa 14 000 Schritte pro Tag zu laufen. Dabei versucht der Läufer zu vermeiden, auch nur einen Tag auszusetzen, da das die Serie entwerten würde:
„Serien decken den größten Makel bei der Verfolgung von Zielen auf: Man verbringt die ganze Zeit damit, einem Ziel hinterherzujagen, statt die Früchte seines Erfolgs zu genießen.“ (Alter 2018, S.119)
Inzwischen brauchen wir uns unsere Ziele nicht mehr mühsam selbst zu setzen. Diese Entscheidung wird uns durch die Technologie abgenommen:
„... heutzutage laden sich Ziele selbst ein, sie besuchen uns ungefragt. Kaum hat man sich bei einem sozialen Netzwerk angemeldet, beginnt man, sich Follower und Likes zu wünschen. Mit jedem neuen E-Mail-Account beginnt von neuem die vergebliche Jagd nach dem leeren Posteingang. Kaufen Sie sich eine Fitnessuhr, werden Sie nicht umhin kommen, jeden Tag eine gewisse Anzahl an Schritten zu gehen, spielen Sie Candy Crush, werden Sie sich gezwungen sehen, ihre persönliche Bestleistung immer wieder zu verbessern.“ (Alter 2018, S.122)
Zu 2: Die menschliche Anfälligkeit für positives Feedback habe ich schon im vorangegangenen Blogpost thematisiert. Computeroberflächen überfluten die Nutzer mit einer Vielzahl von positiven Feedbacks, die ihre Aufmerksamkeit dauerhaft binden. Im vorangegangenen Post hatte ich schon Alters Beispiel mit dem kleinen Kind erwähnt, das im Fahrstuhl eines Wolkenkratzers zum Ärger der Anderen alle Knöpfe drückt, weil die so schön leuchten:
„Wie der kleine Junge, der im Aufzug alle möglichen Knöpfe drückte, werden auch Erwachsene nie ganz der Faszination attraktiver Licht- undTonfolgen überdrüssig.“  (Alter 2018, S.136) 
Adam Alter zitiert Bennett Foddy, Spieledesigner und Professor am Game Center der New York University:
„Videospiele werden von vielen mikroskopischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt‘, sagt Foddy. ‚Sobald der Cursor über einen ausgewählten Bereich gleitet, erscheint ein Text oder wird ein Ton abgespielt. Entwickler setzen auf diese Art von Mikrofeedback, um die Spieler an den Bildschirm zu fesseln. Sie sollen dranbleiben.“ (Alter 2018, S.139)
Spieledesigner bezeichnen diese aufmerksamkeitsbindenden Effekte als „Juice“. (Vgl. Alter 2018, S.140f.)

Zu 3: Menschen haben ein starkes Bedürfnis danach, in irgendetwas besonders gut zu sein, also ein Bedürfnis nach Meisterschaft. Computerspiele wie Super Mario Bros. bedienen dieses Bedürfnis, indem sie für jeden Anfänger zugänglich sind, weil sie praktisch keine Einstiegshürden haben. Indem die Spieler nacheinander verschiedene Levels meistern, die sich immer in der „Zone der nächsten Entwicklung“ des Spielers befinden, werden die Spieler angefeuert, diesen nächsten Schritt zu bewältigen. (Vgl. Alter 2018, S.176) Dazu kommt ein „Flow“-Erlebnis, das „nur in jenen seltenen Situationen verlässlich aufkommt, in denen die anstehenden Herausforderungen und die Fähigkeit, diese Herausforderungen gerade so zu meistern, in Einklang sind“. (Vgl. Alter 2018, S.177) Adam Alter bezeichnet diese Spiele als „räuberische Spiele“, weil sie „die Art, wie wir Menschen gestrickt sind, missbrauchen“. (Vgl. Alter 2018, S.158)

Zu (4): Die Erfolgserlebnisse, die mit dem Bewältigen von Aufgaben (Zielen) verbunden sind, werden wie bei Substanzsüchten mit der Ausschüttung von Dopamin belohnt. Und wie bei Substanzsüchten bedarf es einer ständigen Erhöhung der Dosis, wenn das ‚erfolgreiche‘ Verhalten zu leicht bzw. in zu kurzen aufeinander folgenden Abständen belohnt wird. (Vgl. Alter 2018, S.76) Deshalb ist die Erhöhung des Schwierigkeitsgrads von Levels bei Computerspielen oder die Erhöhung der Schrittzahlen bei wöchentlichen und sogar jährlichen Laufpensen. wie  sie unter dem Dach der United States Running Streak Association (USRSA) protokolliert werden, fast schon zwangsläufig:
„Für die meisten Menschen, die eine Serie mit sich herumtragen, sind die Kosten psychischer Natur. Nachdem sie eine Serie von 130 Tagen aufgestellt hatte, erkannte Michelle Fitz, dass die Serie ‚zum Götzen‘ wird. Sie hatte keine Zeit mehr für ihren Ehemann und ihre Kinder und beschloss, einen Tag nicht zu laufen. ‚Nachdem ich die Serie beendet hatte, ging es mir wirklich besser‘, erinnert sie sich, obwohl sie mittlerweile in einer neuen Hundert-Tage-Serie steckt.“ (Alter 2018, S.119)
Zu (5): Wenn wir eine Aufgabe gestellt bekommen, wollen wir sie auch erledigen. Den meisten Menschen ist es regelrecht unangenehm, wenn man sie von ihrer Aufgabe entbindet, und sie beschäftigen sich danach noch längere Zeit innerlich damit, anders als diejenigen, die ihre Aufgabe zu Ende bearbeiten konnten, und die sie praktisch gleich danach sofort wieder ‚vergessen‘. (Vgl. Alter 2018, S.193f.) Die Psychologien Bluma Zeigarnik, die dieses Phänomen zum erstenmal beschrieb – wir bezeichnen es heute als „Cliffhanger“ –, entdeckte es, als sie einen Kellner in einem Wiener Café dabei beobachtete, wie er die vielen Bestellungen beim Rundgang durch sein Revier immer zuverlässig erledigte:
„Jede Bestellung war für den Kellner ein kleiner Cliffhanger, der sich auflöste, sobald das richtige Essen beim richtigen Gast angekommen war. Zeigarniks Kellner erinnerte sich an die offenen Bestellungen, weil sie ihn nicht in Ruhe ließen – sie gingen ihm genauso auf die Nerven, wie den frustrierten Zuschauern der schwankende Bus in The Italian Job. Doch sobald der Kellner die Bestellung servierte, löste sich seine Spannung, und er konnte sich unbeschwert dem neuen Cliffhanger zuwenden, den die nächste Bestellung darstellte.“ (Alter 2018, S.193)
Mit genau diesem menschlichen Unvermögen, Spannungen längere Zeit auszuhalten, arbeiten auch Fortsetzungsromane und Fernsehserien. Sie lösen die in einer aktuellen Folge erzeugte Spannung nicht einfach auf, wie es sich für eine gut erzählte Geschichte gehört, sondern beenden sie mit einer neuen Spannung, in der ein Protagonist einen Unfall erleidet oder von einem Unbekannten mit einer Schußwaffe bedroht wird; und natürlich möchte der Zuschauer nun unbedingt wissen, ob der Protagonist überlebt.

Zu 6: Das Bedürfnis nach starken sozialen Bindungen wird insbesondere von Online-Foren wie Facebook und Instagramm und von Handy-Apps wie SMS  und wiederum Instagramm manipuliert und ausgebeutet. Dabei verlernen die Nutzer, zwischen Online-Kommunikation und Face-to-Face-Interaktionen zu unterscheiden:
„‚Die Wirkung sozialer Netzwerke ist gewaltig‘, erzählte mir ein anderer Psychologe. ‚Soziale Netzwerke haben die Gehirne meiner jüngeren Patienten komplett umgeformt. ... Nachdem ich fünf bis zehn Minuten mit einer jungen Person über ihren Streit mit ihrem Freund oder ihrer Freundin gesprochen habe, frage ich sie, ob das Streitgespräch über SMS, Telefon, soziale Netzwerke oder von Angesicht zu Angesicht stattgefunden habe. Und immer öfter lautet die Antwort: ‚SMS‘ oder ‚soziale Netzwerke‘. Doch am Anfang, wenn sie mir die Geschichte erzählen, ist das für mich alles andere als klar. Für mich hört es sich an, als sprächen sie von einer ‚echten‘ Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht. Ich halte daraufhin kurz inne und denke nach. Die Person unterscheidet nicht auf dieselbe Weise wie ich zwischen verschiedenen Kommunikationsformen ... und das Ergebnis ist eine Landschaft voller Unverbundenheit und Sucht.‘“ (Alter 2018, S.14f.)
Dabei ist es interessant, daß es inzwischen nicht mehr nur die Eltern sind, die sich über die Handy-Abhängigkeit ihrer Kinder beklagen, sondern auch umgekehrt die Kinder sich über ihre Eltern beklagen:
„‚Meine Mutter sitzt immer mit ihrem iPad beim Abendessen‘, erzählte der siebenjährige Colin der Psychologin. ‚Sie ist immer nur kurz am Gucken.‘ Penny, ebenfalls sieben, berichtete: ‚Die ganze Zeit frage ich sie (ihre Mutter – DZ), ob wir was spielen können, aber sie schreibt immer nur SMS auf ihrem Handy.‘“ (Alter 2018, S.46)
Das Verhalten der Eltern ist in diesem Fall besonders wichtig, weil ihr Umgang mit dem mobilem Internet auch den Umgang der Kinder prägt:
„Mit Hilfe von Stirnkameras haben Forscher herausgefunden, dass Kinder instinktiv den Augen der Eltern folgen. Zerstreute Eltern ziehen zerstreute Kinder groß, denn Eltern, die sich nicht konzentrieren können, bringen ihren Kindern dieselben Aufmerksamkeitsmuster bei.“ (Alter 2018, S.46)
Die Gefahren für die entscheidenden Entwicklungsphasen von Kindern, was ihr Empathievermögen und ihr soziales Verhalten betrifft, sind enorm. Hilarie Cash, Psychologin und Mitgründerin der Therapieeinrichtung reSTART, benutzt bei Gruppensitzungen immer eine drastische Metapher:
„Denkt dran: Hat man euer Gurken-Gehirn einmal eingelegt, kann es nie wieder eine frische Gurke werden.“ (Alter 2018, S.229)
Wenn also einmal bestimmte Entwicklungsfenster verpaßt sind, ist das frische Gehirn endgültig zu einer sauren Gurke geworden:
„Erhalten Kinder nicht die Möglichkeit, von Angesicht zu Angesicht zu interagieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie diese Fähigkeiten nie erlernen. Cash hat Dutzende von Jugendlichen gesehen, vor allem Jungen, aber auch Mädchen, die ohne Probleme mit ihren Online-Freunden kommunizieren, aber keine Unterhaltung führen können, wenn sie jemandem am Tisch gegenübersitzen.“ (Alter 2018, S.232)
reStART behandelt übrigens nur Jungen, weil eine gemischte Klientel nicht in der Lage war, sich an das „Verbot physischer Intimität“ zu halten. Damals waren Mädchen bzw. Frauen mit Internetsucht noch in der Minderheit, so daß sich die Einrichtung für die Jungen entschied:
„Doch jetzt mit dem Durchbruch von nicht auf Gewalt basierenden Casual Games und Social Games, haben wir fast genauso viele Anfragen von Frauen wie von Männern. Vielleicht ist es an der Zeit, unser Reglement zu überdenken.“ (Alter 2018, S.232)
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