„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 5. Juli 2018

Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Grundbedürfnisse
3. Köder
4. Suchtanthropologie
5. Digitalisierung
6. Intentionalitätsfehlschluß

Die digitale Technologie beruht auf Rechenprozessen: deshalb ‚Computer‘. Ihre Grundlage bildet ein binäres Zahlensystem: deshalb ‚digital‘. Aber diese ‚Digitalisierung‘ der Technologie, die sie auch grundlegend von analoger Technik wie dem Rad oder der Mühle unterscheidet, beschränkt sich nicht nur auf Rechenmaschinen; sie prägt längst auch unseren Alltag, unsere Lebenswelt. Wir leben in einer durchdigitalisierten Lebenswelt, weil wir selbst uns eine „Rechenmentalität“ angeeignet haben, wie Katherine Schreiber, Expertin für Fitneßsucht, es ausdrückt:
„‚Technologien spielen insofern eine Rolle, als sie eine Rechenmentalität fördern‘, sagt Schreiber. ‚Sie verstärken zum Beispiel unsere Aufmerksamkeit auf die Anzahl der gelaufenen Schritte oder die Anzahl der Stunden, die wir im R.E.M.-Schlaf verbringen. Ich hatte noch nie eines dieser Geräte benutzt, ich weiß, sie würden mich in den Wahnsinn treiben. Sie lösen in mir alle möglichen suchtartigen Verhaltensweisen aus.‘“ (Alter, 2018, S.186)
Zahlen haben für viele Menschen eine magische Qualität, so wie für mich früher das gedruckte Wort. Ich glaubte alles, was in einem Buch geschrieben stand. Heute glauben viele, sehr viele Menschen alles, was in Zahlen ausgedrückt wird. Daher auch die Macht der Statistik. Zahlen unterdrücken die natürlichen Intuitionen unseres Körpers, der uns z.B. bei unseren Fitneßübungen ‚sagt‘, daß wir unsere physischen Grenzen erreicht haben; auf den wir aber nicht hören, weil wir unsere 14 000 Schritte noch nicht gelaufen sind. So hält Leslie Sims, ebenfalls Expertin für Fitneßsucht, fest:
„Schritte- und Kalorienzählen hilft uns nicht, wenn wir abnehmen wollen; es macht uns nur zwanghafter. Wir verlieren, was Sport und Essen angeht, unsere Intuition.“ (Alter 2018, S.117)
Zahlen unterdrücken also unsere körperliche Intuition, und sie fixieren uns auch auf eine extrinsische Motivation; denn wir mühen uns nicht um einer Sache willen ab, sondern für das Erreichen von Zahlenwerten. (Vgl. Alter 2018, S.187) Manche Menschen „tragen“, wie Alter sich ausdrückt, Serien mit sich „herum“ wie ein dumpfes Schicksal, wie eine Krankheit. (Vgl. Alter 2018, S.119) So versuchen Läufer täglich ein bestimmtes Pensum abzulaufen, Wochen, Monate und sogar über Jahre hinweg, und sie können keinen einzigen Tag aussetzen, weil das die Serie entwerten würde.

Adam Alter bezeichnet deshalb die digitalen Technologien als ‚aufdringlich‘. (Vgl. Alter 2018, S.26) Sie drängen uns ihre Rechenmentalität auf und verändern unser Bewußtsein, indem sie es entkörperlichen. Ohne Körperbezug aber werden unsere grundlegenden geistigen Fähigkeiten untergraben:
„Technologien untergraben grundlegende geistige Fähigkeiten, die einst universell gültig waren.“ (Alter 2018, S.240)
Das ist ein weiterer Unterschied der digitalen Technologie zur analogen Technik: Werkzeuge wie Messer, Hammer, Axt und Spaten bilden Fortsätze unserer körperlichen Fähigkeiten. Sie erweitern das Potential unseres Körperleibs. Unser Bewußtsein, wenn wir sie gebrauchen, bleibt geerdet. Deshalb kommt es bei ihrem Gebrauch, im Guten wie im Bösen, immer auf die Person an. Sie sind tatsächlich neutral.

Digitale Technologien sind hingegen keineswegs neutral. Sie bedienen unsere mentalen Bedürfnisse auf so perfekte Weise, daß die Realität ihnen gegenüber alt aussieht. Unser individuelles Bewußtsein wird entmachtet. Solche Technologien können nicht neutral sein. Wer sie gebraucht, beginnt einen Kampf um seine Selbstbehauptung. Und es ist ungewiß, wie er ausgehen wird.

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