„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 3. Juli 2018

Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Grundbedürfnisse
3. Köder
4. Suchtanthropologie
5. Digitalisierung
6. Intentionalitätsfehlschluß

Den Kritikern der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie wird gerne vorgehalten, daß die Erfindung neuer Kommunikationsmedien immer schon von irrationalen Ängsten und übertriebenen Warnungen vor deren üblen Auswirkungen begleitet worden sind. Das stimmt natürlich. Ob es nun die Schrift war oder der Buchdruck, das Kino oder das Fernsehen, immer fanden sich Kritiker, denen die kulturellen Veränderungen, die mit ihrer Einführung einhergingen, ein Dorn im Auge gewesen waren.

Platon warnte vor den Auswirkungen der Schrift auf das Gedächtnis der Menschen: wenn wir uns nicht mehr auf unser eigenes Gedächtnis verlassen müssen, weil wir alles Wichtige der Schrift anvertrauen können, würde das Gedächtnis verkümmern. Und er hatte, zumindestens was das phonetische Alphabet der Griechen betraf, Recht! – Das Gedächtnis der Menschen reichte nicht mehr an das der Rhapsoden der Vorgeschichte heran, die Epen wie die Ilias und die Odyssee auswendig vortragen konnten. Nur in Kulturen mit Konsonantenschriften, die der Mündlichkeit noch nahestehen wie im arabisch-islamischen Kulturbereich, wird das Auswendiglernen des Koran noch praktiziert.

Rousseau warnte vor dem manipulativen Einfluß von Büchern auf das autonome Denken. Émile sollte nur ein einziges Buch zu lesen bekommen: Robinson Crusoe, das Rousseau pädagogisch als besonders wertvoll einstufte. Alle anderen Bücher aber würden Émile nur davon abhalten, die Welt mit seinen eigenen Sinnen selbst zu entdecken. Und er hatte Recht! – Bücher hatten tatsächlich lange Zeit den Effekt, den Verstand ihrer Leserschaft auszuschalten. Das war genau der Grund, warum die Wissenschaftler vor allem Naturwissenschaftler sein wollten. Nicht mehr das Wissen, das man in Büchern nachlesen konnte, vorzugsweise in den Büchern der Bibel oder in den Schriften von Aristoteles, sollte wahr sein, sondern das Wissen, was wir direkt der Natur entnehmen können.

Natürlich waren Platon und Rousseau gewissermaßen auf einem Auge blind gewesen. Beide wußten die positiven Aspekte von Schrift und Buch nicht zu würdigen: die Schrift erlaubte es den Menschen, sich dem Bann der Gemeinschaft zu entziehen und sich zu individualisieren. Was Platon selbst übrigens nicht als positiv bewertet hätte. Und das Lesen von Büchern stellte dem ‚Genuß‘ von billigen Romanen und ideologischen Agitationen, wie sie Rousseau befürchtet hatte, hohe Einstiegshürden entgegen. Um ein Buch so lesen zu können, daß es seine immersiven Qualitäten entfalten konnte, mußte man erst mal lesen lernen. Diese Einstiegshürde stellt eine hohe kognitive Herausforderung dar. Und diese Herausforderung wird längst nicht von allen Individuen und auch nicht von allen gesellschaftlichen Schichten gemeistert.

Ich weiß noch, wie mir die Mutter eines Spielkameraden stolz eine Reihe von Karl-May-Büchern auf dem Bücherbrett ihres Sohnes zeigte. Ich stand starr vor Staunen vor diesen Wälzern, deren Seiten voller gedruckter Buchstaben waren, ohne einem einzigen Bild dazwischen, und ich konnte es nicht fassen, das jemand fähig war, das alles zu lesen, sprich: mühsam Buchstabe für Buchstabe zu entziffern. Erst als ich später nach einer Blinddarmoperation eine Woche im Krankenhaus verbringen mußte und meine Eltern mir ein Karl-May-Buch, „In den Kordilleren“, schenkten, zwang mich die Langeweile, dieses Buch zu lesen, und es dauerte nicht lange, und ich war ‚angefixt‘. Ich lernte lesen, also nicht Buchstabe für Buchstabe entziffernd, sondern so, daß sich in meinem Kopf ein innerer Film abspulte. Das war übrigens Friedrich Kittler zufolge die kulturelle Voraussetzung dafür, daß so etwas wie ein Kino entstehen konnte. Die Menschen waren darauf vorbereitet gewesen, weil sie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatten, Bücher so zu lesen, als würden sich nicht Worte, sondern Bilder vor ihren geistigen Augen abspielen wie ein Film.

Lange Zeit war es dann bei mir so, wie Rousseau es befürchtet hatte: ich glaubte jedem Buch, das ich las. Die Autoren konnten behaupten, was sie wollten. Sobald ich ein Buch las, glaubte ich, was darin geschrieben stand. Mein Verstand war beim Lesen eines Buches praktisch ausgeschaltet. Es dauerte sehr lange, bis ich so weit war, meinen eigenen Standpunkt gegenüber dem Buch, das ich gerade las, zu behaupten. Eigentlich gelang es mir erst, als ich meine Dissertation schrieb. Von da an machte ich im Denken Fortschritte, wenn ich ein Buch las, und ich begann nicht mehr bei jedem Buch bei Null.

Es gibt also eine hohe Einstiegshürde, die kognitiv bewältigt werden muß, wenn man ein Buch so lesen will, daß sich ein innerer Film abspielt. Auch Adam Alter weist auf diese Einstiegshürde hin:
„Es ist ... schwerer, ein Buch zu lesen, als fernzusehen.“ (Alter 2018, S.241)
Diese Einstiegshürde gibt es beim Internet nicht. Die schriftbasierten Funktionen bilden zum großen Teil nur Stichwortverzeichnisse zu den bild- und videozentrierten Praktiken des Spielens und Chattens. Diese Praktiken erschließen sich auch funktionellen Analphabeten. Wir haben es hier primär mit einer Wiederkehr der Mündlichkeit zu tun und nicht mit einer Fortsetzung der Schriftlichkeit. Die immersiven Qualitäten des Internets ergeben sich unmittelbar mit seiner Nutzung. Ein eigenständiger Lernprozeß geht dem nicht voran: Learning by doing! Die damit einhergehenden kognitiven und psychischen Veränderungen sind unbestreitbar, und es ist nicht ratsam, einfach so weiterzumachen wie bisher. Was zur Zeit passiert, ist ein flächendeckender Freilandversuch am lebenden Personal: wie sich das auf die psychische Entwicklung von Kindern in ihren verschiedenen prägenden Phasen auswirkt, werden wir unmittelbar erleben; denn reflektiert wird hier nichts. Stattdessen wird Kritikern Irrationalität und Technikfeindlichkeit vorgeworfen.

Letztlich ist es also vor allem diese Einstiegshürde, die das Buch von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien unterscheidet. Tatsächlich werden Computerspiele so designed, daß man direkt mit dem Spielen beginnen kann, ohne erst irgendwelche Bedienungsanleitungen lesen zu müssen:
Super Mario Bros. fesselt Anfänger, weil das Spiel ohne jede Einstiegshürde beginnt. ... Man liest auch keine Anleitungen, die einen darüber aufklären, welche Taste was tut – stattdessen lernt man beim Spielen immer mehr dazu und freut sich über ein Gefühl der Meisterschaft, das in der Anhäufung von Wissen durch Erfahrung gründet. ... Der Novize lernt sehr viel und bewahrt sich die Illusion, dass ihm überhaupt nichts beigebracht wird.“ (Alter 2018, S.151)
Hinzu kommen Köder, die potentielle Spieler ‚anfixen‘ sollen. Ein mächtiger Köder ist z.B. das Anfängerglück. Es ist fast schon ein Klischee: in Spielfilmen sieht man immer wieder, wie professionelle Betrüger beim Pokern ihre Opfer zunächst gewinnen lassen, um sie dann hinterher, wenn der Mitspieler angebissen hat, um so sicherer ausnehmen zu können:
„Anfängerglück ist suchtgefährdend, weil es die Freuden des Erfolgs aufblitzen läßt, die es kurz darauf wieder entreißt. Es stachelt im Novizen einen unrealistischen Ehrgeiz an und setzt ihn hohen Erwartungen aus, die nur ein erfahrener Konkurrent erfüllen kann.“ (Alter 2018, S.162f.)
So arbeiten alle Spielcasinos und natürlich auch Designer von Computerspielen. Sie programmieren ihre Spiele so, daß Anfänger zu Beginn unverhältnismäßig viel Glück haben und deshalb ihre Fähigkeiten falsch einschätzen. Wenn dann auf den höheren Levels die Gewinne immer seltener werden, können die Spieler nicht mehr aufhören. Sie glauben weiterhin an ihre eigenen zu hoch eingeschätzten Fähigkeiten und führen die vielen Verluste lediglich auf ‚Pech‘ zurück. Nick Yee, Doktor in Kommunikationswissenschaften, beschreibt das Vorgehen folgendermaßen:
„Einer (der Faktoren, die Online-Rollenspiele für viele so attraktiv mach(en) – AA) ist der ausgeklügelte Belohnungszyklus, der genauso funktioniert wie die Karotte am Stiel. Zu Beginn des Spiels werden sehr schnell Belohnungen verteilt. Mit nur 2-3 Schlägen tötet man eine Kreatur. Schon in 5-10 Minuten erreicht man das nächste Level. Man erlernt ohne großen Aufwand handwerkliche Fähigkeiten. Doch die Intervalle zwischen diesen Belohnungen vergrößern sich recht schnell exponentiell. Schon bald wird es fünf, dann zwanzig Spielstunden dauern, bis man das nächste Level erreicht. Das Spiel funktioniert, indem es erst unmittelbare Belohnungen verteilt und einen dann in Schwierigkeiten bringt.“ (Alter 2018, S.163f.)
Ein anderer Köder wird  von den Spieledesignern einfach ‚Saft‘ (Juice) genannt, ein anderes Wort für Feedback. Der Computer vermittelt einem – nicht nur bei Spielen – ständig Feedback in Form von Geräuschen und visuellen Eindrücken. Was es mit diesem Feedback auf sich hat, beschreibt Adam Alter sehr anschaulich an einem Erlebnis:
„Letzte Woche betrat ich im 18. Stockwerk eines New Yorker Wolkenkratzers den Aufzug. Eine junge Frau blickte verschämt auf den Kopf ihres kleinen Kindes, das mich ansah und grinste. Als ich mich umdrehte, um den Knopf hinunter zum Erdgeschoss zu drücken, sah ich, dass bereits jeder einzelne Knopf gedrückt war. Kinder lieben es, Knöpfe zu drücken, doch sie drücken nur dann alle Knöpfe, wenn die Knöpfe auch aufleuchten.“ (Alter 2018, S.124)
Für den kleinen Jungen waren die Knöpfe des Fahrstuhls unwiderstehlich gewesen. Um alle Knöpfe in dem Fahrstuhl zu drücken, bedurfte es natürlich für das Kind eines Anreizes. Ansonsten reicht es aber, wenn einfach nur ein Knopf da ist, um Menschen dazu zu veranlassen, darauf zu drücken, egal was für Konsequenzen damit verbunden sind. (Vgl. Alter 2018, S.124f.) Deshalb gibt es ja auch auf Computeroberflächen so viele Buttons, mit denen man prima Geschäfte machen kann, weil irgendwer bestimmt drauf drückt, nur um zu sehen, was passiert. Diese Knöpfe im Fahrstuhl waren, wie erwähnt, noch mit einem zusätzlichen Lichteffekt versehen: sie leuchteten auf, wenn man sie drückte. Unwiderstehlich für ein kleines Kind (und nicht nur für ein kleines Kind). – Adam Alter hält fest:
„Ohne Juice verliert das Spiel seinen Reiz. Man ersetze nur die Bonbons mit grauen Blöcken und lasse alle Sounds und grafischen Elemente weg, die den Spaß des Spiels (Candy Crush – DZ) ausmachen. ‚Unerfahrene Spieledesigner vergessen oft den Juice‘, sagt Foddy (Bennett Foddy, Spieledesigner und Professor am Game Center der New York University – DZ). ‚Wenn eine Figur deines Spiels über eine Wiese läuft, sollte das Gras sich im richtigen Moment senken. Nur so denkt man, dass das Gras echt sei und zur selben Welt wie die Figur gehöre.‘“ (Alter 2018, S.140)
Die frühen Kritiker von Kommunikationsmedien wie Schrift und Buch hatten also durchaus recht, und wir sollten uns nicht allzu sehr über ihre vermeintlich antiquierte Haltung Medien gegenüber amüsieren. Denn was im Bereich der modernen Informations- und Kommunikationsmedien passiert, hat eine neue suchterzeugende Dimension, die weit über das, was sogenannte Schundromane in früheren Zeiten bewirkten, hinausgeht, schon allein deshalb, weil irgendwelche Einstiegshürden praktisch nicht vorhanden sind.

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