„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. Februar 2011

Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000)

(Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222)

1. Oberfläche und Tiefe
2. Haltung und „vertikale Verankerung“
3. Lebenswelt und Gedächtnis

Bei Günther Anders glaubte ich mit seiner im Zerbrechen des Generationenverhältnisses notwendig gewordenen Neubesinnung auf die Menschheit auf eine zur individuellen Leib-Körpergrenze analoge exzentrische Positionalität gestoßen zu sein. (Vgl. meinen Post vom 28.01.2011 zum homo excentricus) Dieser auf die Menschheit bezogenen exzentrischen Positionalität fehlt allerdings die materielle Basis, also eine mit dem Körperleib vergleichbare Verhältnisbestimmung. Anders bezieht die Neubestimmung von Menschheit als Handlungssubjekt auf das Faktum der mit der Atombombe jederzeit drohenden Auslöschung alles Lebens auf dieser Erde. Alles Wissen und Handeln des Menschen muß sich von nun an mit dem Bezug auf diese globale, die Menschheit als ganze einbeziehende Gefahrenlage rechtfertigen. Die Atombombe bildet also den ultimativen legitimierenden Hintergrund, vor dem sich die Gestalt der künftig noch einzig möglichen Menschheit als Überlebenssubjekt abhebt.

Aber diese Legitimitätsfolie ist in keiner Weise mit dem individuellen Körperleib vergleichbar, und deshalb kann man hier nicht wirklich, auch nicht im analogen Sinne, von einer exzentrischen Positionalität, weder der Menschheit noch von einzelnen Generationen sprechen, so sehr auch deren Handeln über den Fortbestand künftiger Generationen vorentscheidet. Deshalb habe ich versucht, mir bei einem Theoretiker des kulturellen Gedächtnisses Klarheit zu verschaffen, und ich bin bei Jan Assmann fündig geworden. Es gibt bei Assmann gewisse Parallelen zu Anders und zu Plessner, die hier sehr aufschlußreich sind. Die Parallele zu Anders besteht hauptsächlich in der Hervorhebung eines bestimmten geschichtlichen Datums, das von Assmann als eine menschheitliche Grenzmarkierung ins Zentrum aller künftigen wissenschaftlichen Forschung gestellt wird, also ähnlich der Atombombe bei Anders. Während Anders aber als Technologiekritiker mit der Atombombe sorgenvoll in die Zukunft schaut, sieht Jan Assmann als Altertumswissenschaftler (was ihn übrigens, nebenbei gesagt, schon aus beruflichen Gründen gegen jede Form von Nihilismus immun macht) mit dem Verweis auf ‚Auschwitz‘ vor allem sorgenvoll auf die Vergangenheit, – natürlich auf eine Vergangenheit mit dem ihr eigenen Zukunftsbezug: daß sie sich nicht wiederholen soll: „Auschwitz, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, hat längst die Dimensionen einer ‚normativen Vergangenheit‘ angenommen, die unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten kann und darf, weil sie weit über die Erinnerungen der Täter und Opfer hinaus Sache eines solchen universalisierten Bindungsgedächtnisses und fundierendes Element einer globalen Zivilreligion geworden ist ...“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.36f.)

Wichtig ist hierbei der Begriff des „universalisierten Bindungsgedächtnisses“, das auf ein Menschheitssubjekt verweist, das sein künftiges Handeln an eine Erinnerung ‚bindet‘. Es ist dieser Vergangenheitsbezug, der den Unterschied dieses Menschheitssubjekts zu jenem ausmacht, das Günther Anders beschreibt. Schwerwiegender aber als das ist, daß Assmann der Erinnerung eine materielle Basis, nämlich die Schrift, zugrundelegt, die, wie ich finde, sehr wohl eine Analogie zum individuellen Körperleib bildet und die darüberhinaus sogar als eine der exzentrischen Positionalität des Körperleibs angemessene Erweiterung des menschlichen Bewußtseins funktioniert. Dem Bindungsgedächtnis bzw. dem kulturellen Gedächtnis entspricht das, was Plessner „Geist“ nennt, also der Aspekt der Mitwelt im menschlichen Bewußtsein, was natürlich hier gleich die Frage aufwirft, wie wir in diesem und den folgenden Posts zwischen Bewußtsein und Gedächtnis differenzieren wollen.

Bewußtsein und Gedächtnis beinhalten einen je verschiedenen Doppelaspekt, der in einem wiederum unterschiedlichen Weltbezug besteht. Der Doppelaspekt des menschlichen Bewußtseins besteht darin, daß es der Welt entweder gegenübersteht, als Peripherie, oder sich mitten in ihr befindet, als Zentrum. Beides bedeutet eine Differenz zur Welt, mal eine exzentrische, also spezifisch menschliche Differenz, mal eine zentrische, also spezifisch animalische Differenz. Mal haben wir es mit einem Selbstbewußtsein und mal mit einem unmittelbaren Bewußtsein zu tun. Immer aber haben wir es mit einem Bewußtsein zu tun, dem die Welt die Gesamtheit aller möglichen Gegenstände aktueller Wahrnehmung und aktuellen Handelns ist. Niemals ist das Bewußtsein die Welt selbst.

Das Gedächtnis kann nun wie das Bewußtsein einen Weltbezug haben, als der Gesamtheit aller möglichen Gegenstände vergangener Wahrnehmungen und vergangenen Handelns; als solches bildet es ein integrales Moment des Bewußtseins. Zugleich bildet es aber eine eigene Welt, eine Innenwelt, dem gegenüber das Bewußtsein genauso exzentrisch positioniert ist wie gegenüber der Außenwelt. Das Bewußtsein ist also seinem Gedächtnis gegenüber gleichermaßen Zentrum wie Peripherie.

So sind Bewußtsein und Gedächtnis – anders als Bewußtsein und Welt – ineinander verschränkt. Denn das Gedächtnis ist keine Außenwelt, sondern eine Innenwelt. Deshalb kann das kulturelle Gedächtnis, obwohl es in erster Linie einen in kulturellen Objektivationen wie der Schrift verankerten Außenhorizont beinhaltet, einen eigenen Bewußtseinsbereich bilden: als ein die biographische Gestalt des individuellen Bewußtseins präformierendes kollektives Unbewußtes. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.38, 118f., 189, 191, 196 u.ö.)

Assmann beschreibt das Bewußtsein auch als „Oberfläche“ und das Gedächtnis als „Tiefe“: „Oberfläche: das ist der Raum des Bewußtseins. ... ‚Tiefe‘ bezeichnet den dem Bewußtsein entzogenen Raum der Latenz ...“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.119) – Das ist eine sehr schöne Beschreibung der Differenz von Bewußtsein und Gedächtnis. Denn das Bewußtsein ist immer Oberfläche, also Wahrnehmung, ob es sich nun der Welt als Außenwelt zuwendet oder der Welt als Erinnerung. Begegnen ihm die Gegenstände der Außenwelt von außen her, ‚spiegeln‘ sie sich in der Wahrnehmung genauso, wie wenn sie aus der Tiefe der Erinnerung auftauchen. Bewußtsein ist also immer Bewußtsein, nämlich Oberfläche; die Welt aber ist mal Außenwelt und mal Innenwelt, also Gedächtnis, und seine Dimension ist nicht der Raum, sondern die Tiefe.

Zusammengefaßt kann man also sagen: Bewußtsein meint den Bezug zur Welt als Gesamtheit der Gegenstände möglicher Wahrnehmung und möglichen Handelns. Gedächtnis meint den Bezug zur Welt als Gesamtheit realisierter Wahrnehmungen und realisierter Handlungen. Zugleich bilden Bewußtsein und Gedächtnis ein die biographische Gestalt des Bewußtseins formendes inneres Weltverhältnis.

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