„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. Februar 2011

Jan Assmann, Griechenland und die Disziplinierung des Denkens

in: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992), S.259-292

Ähnlich wie zur Problematik individueller Intelligenzunterschiede gibt es anscheinend eine Diskussion zum kulturellen Potential unterschiedlicher Schriftsysteme. Das ist für mich nicht nur insofern interessant, als es meine These, daß es eine Analogie zwischen der Schrift (‚Textkörper‘) und dem Körperleib gibt (vgl. meine Posts vom 04.und 05.02.11), bestätigt, sondern darüberhinaus auch deshalb, weil Assmann hier eine ähnliche Position vertritt wie ich hinsichtlich der Intelligenz: daß es nämlich hinsichtlich des kulturellen Potentials nicht auf das „Schriftsystem“, sondern auf die „soziopolitische Verwendung“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269), also auf den Gebrauch ankommt, den eine Gesellschaft bzw. Kultur von ihrem Schriftsystem macht: „Unter dem Begriff ‚Schriftsystem‘ werden Fragen der Struktur, des inneren Aufbaus und der Funktionsweise einer spezifischen Schrift behandelt, z.B. ob eine Schrift ideographisch, syllabisch oder alphabetisch ist, ob sie an eine Einzelsprache gebunden ist oder ob sie auch Laute/Wörter/Sätze einer anderen Sprache wiedergeben kann usw. Unter dem Begriff der ‚Schriftkultur‘ geht es demgegenüber um Fragen der Institutionen und Traditionen des Schreibens, des Umgangs mit Texten, der Einbettung von Schrift und schriftlich fixierten Texten in die Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, daß die Konsequenzen der Schrift auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Einbettung, d.h. der Schriftkultur entschieden werden.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.264f.)

Da gibt es durchaus andere Positionen. Assmann zitiert z.B. einen E.A. Havelock, der der griechischen Alphabetschrift das kulturelle Potential zu Philosophie und Wissenschaft zuspricht, weil das Alphabet eine getreue Transkription der mündlichen Sprache ermöglicht, die das Textverständnis vom kulturellen Kontext unabhängig macht. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.260ff.) Um z.B. die ägyptischen Hieroglyphen zu verstehen, kommt man – so Havelock – ohne genaue Kenntnisse des kulturellen Kontextes nicht aus: „Havelock meint, daß ‚nicht-alphabetische‘ Schriften so schwer zu lesen seien, daß sie dem Leser nur Bekanntes zumuten könnten. Daher erginge sich die orientalische Literatur bis heute in Klischees und Formeln, die die Komplexität der Erfahrung auf leicht Wiedererkennbares reduzierten.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263) – Sprich: das kulturelle Potential (der IQ?) der Hieroglyphenschrift ist sehr gering; das kulturelle Potential (der IQ?) der Alphabetschrift ist sehr hoch.

Assmann wendet sich ganz entschieden gegen eine solche okzidentale Voreingenommenheit für die eigene Schriftlichkeit und stellt die Hieroglyphen und die semitischen Schriftsysteme auf eine Ebene mit der griechischen Alphabetschrift, insofern er festhält, daß jedes Schriftsystem zunächstmal vor allem dazu dient, die eigene Sprache möglichst perfekt zu kodieren: „In der Wiedergabe der eigenen Sprache stehen die semitischen Konsonantenschriften dem griechischen Alphabet in nichts nach. Sie sind lediglich durch ihre Bezogenheit auf die semitische Sprachstruktur weniger zur Wiedergabe fremder Sprachen geeignet.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263)

Wiedergabefähigkeit von fremden Sprachen – also weitgehende Unabhängigkeit von kulturellen Kontexten – wiederum ist ein besonderes Merkmal des griechischen Alphabets, und da ist es nun kein Wunder, daß es gerade „seefahrende Händler gewesen sind wie die Phöniker und Griechen“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263), die die Alphabetschrift entwickelt und perfektioniert haben. Also auch hier haben wir wieder einen Vorrang des soziopolitischen Interesses, also einen Vorrang des kulturellen Gebrauchs des Schriftsystems vor dem scheinbar ‚freischwebenden‘ kulturellen Potential des Schriftsystems.

Ein weiteres kulturelles Moment dieses Schriftgebrauchs besteht Assmann zufolge darin, daß die Schrift in Griechenland weder von Priestern noch von politischen Machthabern zum eigenen Machterhalt instrumentalisiert wurde, – anders als z.B. die Hieroglyphen, die eine Schrift der Eingeweihten und Priester war und deshalb nicht frei war für einen öffentlichen Gebrauch. Aufgrund dieses „Macht-Vakuums“ wurde „das Eindringen von Oralität in die griechische Schriftkultur begünstigt.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269) – Assmann geht also davon aus, daß es nicht eigentlich die zur Wiedergabe von gesprochener Sprache besonders geeignete Alphabetstruktur war, die das mündliche Element in der griechischen Schriftkultur so stark ausgeprägt hat, sondern das fehlende priesterliche und politische Interesse an der Schrift. So konnte die ‚Poesie‘ eines Homer zur „nationale(n) Urkunde“ des Hellenismus und letztlich des Abendlandes werden (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269) und an die Stelle der heiligen Texte der ägyptischen Tempelanlagen und der Thora treten.

Assmann läßt keinen Zweifel daran, daß er das besondere kulturelle Potential der ägyptischen Hieroglyphen zu schätzen weiß: „Sie bezieht sich mit ihrer realistischen Bildhaftigkeit unmittelbar auf die Welt, und mit ihrer Zeichenfunktion sowohl auf die phonetische als auch auf die semantische Ebene der Sprache. Sie gibt also nicht nur ‚was in der Stimme ist‘, sondern ‚was in der Psyche ist‘ und darüber hinaus auch noch ‚was in der Welt ist‘ wieder.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.265) – Die Hieroglyphen eröffnen damit mehr Ebenen des Textverstehens als die griechische Alphabetschrift, die nur das wiedergibt, „was in der Stimme ist“, was sie ja auch so außerordentlich geeignet macht, um kontextunabhängig gelesen zu werden. Diese Kontextunabhängigkeit bedeutet aber eben zugleich einen kulturellen Verlust an Welthaltigkeit und seelischem Ausdruck.

Die kulturellen Potentiale der Schriftsysteme sind also durchaus verschieden, aber sie entscheiden nicht darüber, welchen Gebrauch die Menschen von ihrer Schrift machen, – so wenig wie der Intelligenzunterschied zwischen den Menschen darüber entscheidet, welchen Gebrauch sie von ihrer Intelligenz machen. Aufgrund dieser weiteren Analogie zwischen dem Schriftgebrauch und dem Verstandesgebrauch war es mir hier noch einmal wichtig, auf Assmann zurückzukommen. Ich habe nämlich vor, mich in meinen nächsten Posts mit Stanislas Dehaenes Forschungen zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Gehirnentwicklung zu befassen. Und der kritische Punkt in dieser Verhältnisbestimmung ist letztlich, inwieweit kulturelle Innovationen auf neurophysiologische Mechanismen zurückgeführt werden können.

Es wird also auch hier um die Frage gehen, was das bestimmende Moment in diesem Verhältnis ist: die Dehaene zufolge begrenzte Plastizität des Gehirns oder der geschichtlich offene, kulturelle Gebrauch dieser plastisch begrenzten Gehirnfunktionen.

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