„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 18. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus 
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Zwar ist Mauthner zufolge auch die Seele nur ein „leeres Wortgespenst“, aber „der Begriff bleibt dennoch wichtig für die Geschichte des menschlichen Denkens“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.243) Es gibt die unwägbare und nicht beobachtbare Stelle, den „letzten Punkt“, wo die „physische Molekularbewegung“ umschlägt in „psychische Empfindung“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.283) Allerdings handelt es sich auch hier um einen bloßen Umwandlungsprozeß, der letztlich auf der gleichen Ebene rätselhaft ist wie die „Umwandlung der Energie in Wärme“ oder wie das „Wachstum des Organismus aus dem Samen“. (Vgl. ebenda)

Mauthner vertritt also in der uralten Debatte zur Verhältnisbestimmung von Leib und Seele einen Monismus. Es ist besser, so Mauthner, „von Identität als von Parallelismus“ zu sprechen. (Vgl. ebenda) Bei der Diskussion zur Tauglichkeit des Parallelismus-Begriffes kommt Mauthner in die Nähe der Plessnerschen Doppelaspektivität. (Vgl. meine Posts vom 21.10., 22.10., 28.10.2010) Denn die mangelnde Tauglichkeit der Vorstellung zweier Parallelen, die sich im Unendlichen begegnen, für Leib und Seele liegt einfach darin, daß in ihnen die zwei Richtungen nach innen und nach außen nicht zur Darstellung kommen. Zwischen den beiden Parallelen gibt es keine Wechselwirkung: „Der gepriesene Parallelismus jedoch vernichtet die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib, vernichtet die unklaren Vorstellungen der alten, immerhin beziehungsreichen Begriffsfolge und gibt uns dafür ein völlig unbrauchbares, beziehungsloses, unvorstellbares Schlagwort. ... er erkennt nicht, daß aller Streit um Leib und Seele nur ein Wortstreit ist, daß nur die arme Menschensprache ein identisches Wesen zweimal benennen muß.“ (Mauthner 2/1906, S.280)

An dieser Stelle bewegt sich Mauthner mit seiner Kritik des Parallelismus-Begriffs auf der Höhe der Plessnerschen Doppelaspektivität, bei dem es ja ebenfalls nicht darum geht, Leib und Seele als zwei verschiedene ‚Dinge‘ bzw. ‚Substanzen‘ einander gegenüber zu stellen, sondern nur um die Unterscheidung von Richtungen, nämlich von innen nach außen und von außen nach innen. Plessner ergänzt diese Doppelaspektivität noch mit der exzentrischen Positionalität, die wir auch als das Schwanken der Seele auf der Grenze dieser beiden Richtungen verstehen können.

So wenig also Leib und Seele auf verschiedene ‚Welten‘ oder ‚Substanzen‘ verweisen, so sehr macht doch der Richtungswechsel den Unterschied zweier Dimensionen. Die Perspektive der Innenwelt ist eine andere Dimension als die Perspektive der Außenwelt. Plessner hätte an dieser Stelle Mauthner ohne weiteres zustimmen können: „Es ist also irreführend und schädlich, am Bilde vom Parallelismus festzuhalten; es ist auch dann noch irreführend durch den unglücklichen Begriff parallel, wenn es nur die Wahrheit sagen will, daß die Außenansicht oder der physiologische Vorgang und die Innenansicht oder der psychische Vorgang in irgend einer Wirklichkeitswelt die gleiche Sache seien ...“ (Mauthner 2/1906, S.285)

Wie immer hat Mauthner auch ein einleuchtendes, prägnantes Bild für diese Doppelaspektivität: „Wenn ich mit dem Zirkel und mit dem Bleistift eine Kreislinie ziehe, so ist es für die praktischen Zwecke gleichgültig, ob ich den Kreis an der Innenseite oder an der Außenseite der dünnen Bleistiftlinie annehme; die beiden Kreise kann man aber auch, wie eben erst gesagt, parallel nennen. Und doch ist der Anblick ein entgegengesetzter, wenn wir uns den Beobachter in die Ebene des Kreises hineindenken, und zwar das eine Mal nach innen, das andere Mal nach außen. Für den erzeugenden Zirkel ist die Linie konkav, für die unendlich große Außenwelt ist Linie konvex. ... Dieses Außen und dieses Innen könnte man wieder parallel nennen. Aber die materialistische Sprache ist immer außen, niemals innen und kann darum den Parallelismus gar nicht beschreiben.“ (Mauthner 2/1906, S.287f.)

Ein anderes Mal nimmt Mauthner die Seiten eines Würfels, wieder ein anderes Mal verweist er auf den Meeresspiegel oder eine gefrorene Wasseroberfläche. Jedesmal geht es darum, daß sich unterhalb einer Oberfläche nichts anderes befindet als oberhalb der Oberfläche. Blumenberg hat denselben Sachverhalt am Beispiel eines Eisbergs verdeutlicht. (Vgl. meinen Post vom 26.09.2012) Es ist genau dieser Bezug auf die Oberfläche, auf das Phänomen, der den Phänomenologen ausmacht. Der Phänomenologe begnügt sich mit dieser Oberfläche und macht sich nicht auf die Suche nach einer verborgenen, wirklicheren Wirklichkeit als diese.

In Diskussionen um die Dimensionalität einer Innenwelt werde ich immer wieder auf die inneren Organe wie die Nieren oder die Leber hingewiesen, und ich werde gefragt, ob diese sich nun innen oder außen befinden. Die Antwort ist einfach: auch Nieren und Leber sind Phänomene. Sie gehören zu den Innenhorizonten des Körperleibs. Sie bilden gewissermaßen nicht sichtbare Rückseiten des Körpers, die aber sichtbar gemacht werden können. Als solche Organe gehören sie derselben Dimension an wie die Außenwelt.

Die Innenwelt bzw. die Seele befindet sich aber nicht auf diese Weise ‚innerhalb‘ des Körpers. Sie gehört zur ‚Haut‘, die eine Oberfläche besonderer Art bildet. Es ist nämlich die Haut, die, wie Plessner sich ausdrückt, gegenüber Innen und Außen psychophysisch neutral ist. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.59) Auf der Grenze der Haut ändern die Innen- und Außenperspektiven ihre dimensionale Qualität. Was mir auf diese Weise ‚unter die Haut geht‘, berührt meine Seele.

Mauthner kommt sehr nah an diese Einsicht heran, wenn er den Parallelismus-Begriff kritisiert. Allerdings macht er diese Einsicht gleich wieder mit der Bemerkung zunichte, daß „die materialistische Sprache ... immer außen (ist), niemals innen und ... darum den Parallelismus gar nicht beschreiben (kann)“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.288) – Wobei an dieser Stelle mit „Parallelismus“ die Perspektiven auf Innen und auf Außen gemeint sind.

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