„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache 
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
‚Die‘ Sprache gibt es Mauthner zufolge als konkrete Wirklichkeit nicht. Sie ist nur ein „leeres“ bzw. „ausgeblasenes“ „Abstraktum“ wie „Sein“ oder „Wesen“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.11, 165) Konkret ist immer nur der Akt des Sprechens selbst als eine „wirkliche Art des menschlichen Handelns“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.11)

Zwar verweist Mauthner auf eine gewisse reale ‚Wirksamkeit‘ (vgl. Mauthner 2/1906, S.49) ‚der‘ Sprache als Sozialform: „Als sozialer Faktor erst wird die Sprache, die vor Erfindung der Buchdruckerkunst noch nicht einmal in einem Wörterbuch beisammen war, etwas Wirkliches.“ (Mauthner 2/1906, S.17f.) – Aber letztlich will Mauthner nicht einmal den nationalen Einzelsprachen eine reale Eigenständigkeit zubilligen. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.5f., 11) Auch wenn er zunächst vor allem den Individualsprachen, also dem individuellen Gebrauch der Sprache eine gewisse Wirklichkeitshaltigkeit zugestehen will (vgl. Mauthner 2/1906, S.29f., 151), bleiben auch diese letztlich nicht vom Abstraktionsvorwurf verschont (vgl. Mauthner 2/1906, S.199). Mauthner gelangt bei seinen verschiedenen Versuchen, die Sprache auf eine letzte Realität zurückzuführen, schließlich zur „momentanen Bewegung des Sprechorgans“; und von dieser Bewegung will Mauthner wiederum nur den „letzte(n) mikroskopische(n) Bestandteil“ als die eigentliche, zugrundeliegende Wirklichkeit von Sprache akzeptieren. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.200) Alles andere ist unwirklich und abstrakt.

Alles, was mit Worten bezeichnet werden kann, allem voran Bewußtseinsphänomene wie Denken, Vernunft, Verstand, Gedächtnis, Seele etc., hat keine andere Realität als die Bewegung der Sprechorgane, die Erschütterung der Luft (vgl. Mauthner 2/1906, S.191) und die den einzelnen Worten zuzuordnenden Bewegungen in den Nervenbahnen (vgl. Mauthner 2/1906, S.186). Als Beispiel für das von ihm gemeinte Konkrete verweist Mauthner auf die Eisenbahnschienen, denen er als menschlichen Konstruktionen eine gewisse Unwirklichkeit attestiert. Es liegt ihnen ein geistiger Konstruktionsplan zugrunde, und dieser Konstruktionsplan besteht aus Worten, so daß die Eisenbahnschienen also auf Worte rückführbar und infolgedessen nicht real sind: „Die Eisenbahn ist ein Abstraktum. Der Umstand z.B., daß von Königsberg bis Marseille die Schienen gleich weit auseinander stehen, ist erfreulich, weil er die Eisenbahn erst fahrbar macht. Aber relativ wirklich ist nur jedes Kilo Eisen der Schienen; nicht einmal die einzelne Eisenschiene ist ganz real, weil zweckmäßige Form an ihr ist.“ (Mauthner 2/1906, S.185f.)

Weil aber der Mensch, „solange er lebt“, „glaubt, er habe etwas zu sagen, weil er spricht“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.2), personifiziert er abstrakte Worte wie „Gerechtigkeit und Gewissen“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.341). So kommt er zu einer Religion: „Denn Götter sind Worte, Worte sind Götter, und die griechische Religion ist nicht die einzige, die in den Worten der Sprache den ewigen Kreislauf zurücklegt, der von Metapher zu Metapher führt, vom Scheine einer Anschauung zu einem anderen Scheine, um in banalen Redensarten zu verblassen, die durch Eroberung neuer Stimmungen wieder neue Gefühlswerte erringen.“ (Mauthner 2/1906, S.125)

Sogar die aufgeklärte Gegenwart ist diesem „Wortaberglauben“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.33, 449 u.ö.) verfallen, solange sie noch mit Abstrakta wie „Natur“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.317) oder „Kraft“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.449) arbeitet: „Unsere gegenwärtige Weltanschauung, unsere Weise, Gott zu erkennen und zu verehren, d.h.: uns die Welt aus Ursachen zu erklären, ist uns nur darum keine Religion, weil diese Weltanschauung die unsere, die gegenwärtige ist. ... Es kommen vielmehr neue Weltanschauungen und Sprachen über ein Volk, wie die neue Behaarung über ein Tier. ... Denn die neue Weltanschauung oder Sprache kann nur unmerklich die Bedeutung und den Laut der älteren Weltanschauung oder Sprache umformen. ... Da ist nie ein Wort in der neuen Sprache oder Weltanschauung, welches nicht seine unverwischbare Geschichte hätte, welches nicht einen konservativen, einen veralteten, einen religiösen Sinn hätte. Darum kann nur die Kritik der Sprache uns zu einiger Klarheit über unsere eigene Weltanschauung verhelfen.“ (Mauthner 2/1906, S.173)

Mit dieser Beschreibung der Sprache als Glaubenssystem nähert sich Mauthner nun allerdings einem Zusammenhang, wie er seitdem mit Begriffen wie „shifting baselines“ und „Lebenswelt“ beschrieben worden ist. (Vgl. meine Posts vom 05.08. bis 08.08.2010 und vom 31.03.2011) Wäre Mauthner mit seiner Sprachkritik auf dieser Phänomenebene geblieben, hätte er zweifellos eine für die spätere Theorieentwicklung wertvolle Vorarbeit leisten können. Durch die maßlose Ausdehnung seines sprachkritischen Steckenpferds bis hinab zu molekularen Bewegungen hat er sich aber selbst leider ins theoriegeschichtliche Abseits begeben.

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