„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 20. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität 
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Wie schon in meinem Post vom 14.10.2013 angemerkt, hebt Mauthner immer wieder die Mangelhaftigkeit der Sprache als Werkzeug der Außenwelterkenntnis hervor. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso eine soziale Beziehungsstruktur wie die Sprache – denn darin allein billigt Mauthner ‚der‘ Sprache eine gewisse Wirklichkeit bzw. ‚Wirksamkeit‘ zu (vgl. Mauthner 2/1906, S.17f.) – ihr ursprüngliches und eigentliches ‚Wesen‘ in der Wirklichkeitserkenntnis haben soll, wenn sie doch genau dazu am wenigsten taugt.

Ist es nicht vielmehr so, daß ‚die‘ Sprache erst in der sozialen Beziehung, und auch hier nicht in der Mitteilung von Wissen, ihren eigentlichen Zweck erfüllt? Mauthner selbst kommt in einem Kapitel zur „Wortkunst“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.91-151), das aus der argumentativen Tendenz des ganzen Buches herausfällt, zu diesem Schluß. Dort heißt es, daß ‚die‘ Sprache zwar ein „elendes Erkenntniswerkzeug“ sei, dafür aber ein „herrliches Kunstmittel“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.93) – Warum? Weil sie besonders dazu geeignet ist „Stimmungen“ mitzuteilen und eine „Seelensituation“ wiederzugeben. (Vgl. ebenda) An anderer Stelle wieder ist davon die Rede, daß ohne „gemeinsamen Sprachgebrauch“ keine „gemeinsame Seelensituation“ möglich ist (vgl. Mauthner 2/1906, S.191), womit wir wieder beim „sozialen Faktor“ wären (vgl. Mauthner 2/1906, S.17f.).

Tomasello kehrt dieses Begründungsverhältnis von „gemeinsamem Sprachgebrauch“ und „gemeinsamer Seelensituation“ übrigens im Sinne der Rekursivität noch einmal um: kein gemeinsamer Sprachgebrauch ohne gemeinsame Seelensituation. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 06.06. und 07.06.2012)

Das Soziale ist also der eigentliche Zweck der Sprache, nicht Wirklichkeitserkenntnis. Und was im sozialen Umgang mitgeteilt wird, sind auch nicht in erster Linie Informationen, sondern Stimmungen, Seelensituationen. Der eigentliche Zweck der Sprache ist also Expression. Als Grund für diese besondere Qualität der Wortkunst verweist Mauthner auf den Gestaltcharakter: „Was der Stimmung zu Grunde liegt, das Wirklichkeitsbild, hält die Poesie nur zusammen, wie der Strick einen Rosenkranz. Mag auch (wie es immer wieder vorkommt) falsch aufgefaßt werden, nach der Seelensituation des Lesers oder Hörers übersetzt; schadet gar nicht viel. ... Anders in der wissenschaftlichen Untersuchung. Hier soll nichts Stimmung sein, hier ist nichts ein sinnfälliger Vorgang. Die Mehrdeutigkeit jedes einzelnen Wortes wird durch kein Ganzes vorher gemildert oder gedeutet, und so kann am Ende kein Ganzes entstehen.“ (Mauthner 2/1906, S.93f.)

Anstatt wie bei der Mitteilung von Erkenntnissen nur einzelne Wörter lose aneinanderzureihen, fügen sie sich bei der Mitteilung von Stimmungen zu Bildern. Als Teile eines Ganzen, eines ‚Wirklichkeitsbildes‘, werden sie von diesem Ganzen zusammengehalten wie die Perlen eines Rosenkranzes durch den „Strick“. Da macht es gar nichts, wenn jemand ein einzelnes Wort mißversteht. Die Seelensituation als solche bleibt von solchen kleinen Fehlern unberührt.

Ich habe in meinen Posts in diesem Zusammenhang immer mit Tomasello von der extravaganten Syntax gesprochen. (Vgl. meinen Post vom 26.04.2010) Sie fügt der ernsthaften Syntax ein narratives Bewegungsmoment hinzu, das es den Zuhörern erleichtert, auch kompliziertere Sachverhalte zu verstehen. Sie können beim Hören einer Geschichte ihre eigenen Sinnbezüge in die Geschichte eintragen. Auf diese Weise werden nun die Sinnlücken in der Geschichte und die damit verbundenen Mißverständnisse geradezu zu Einladungen an die verschiedenen Zuhörer, an einer gemeinsamen Geschichte („Seelensituation“) teilzuhaben. (Vgl. meine Posts vom 22.03. und 24.03.2011)

Eine ganz ähnliche Einsicht in die notwendige Lückenhaftigkeit gemeinsamen Sinnverstehens finden wir bei Mauthner: „Im Ernst, die ganze Begriffsbildung der Sprache wäre nicht möglich, wenn wir nicht unter lauter lückenhaften Bildern herumtappten, eben wegen der Lückenhaftigkeit die Ähnlichkeit überschätzten und so aus der Not eine Tugend machten. Je weniger wir von etwas wissen, desto leichter werden wir von Ähnlichkeiten ‚frappiert‘.“ (Mauthner 2/1906, S.437)

Das führt bei Mauthner zu einem Wahrheitskonzept, das sich von der ganzen sonst in seinem Buch vorherrschenden Fixierung auf die Gleichheit von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis bzw. ‚Sprache‘ distanziert: „Wenn das menschliche Denken, oder das Gedächtnis, oder die Sprache, ungeeignet ist für das Zustandekommen oder für das Ausdrücken einer Welterkenntnis, so ist darunter selbstverständlich eine wahre Welterkenntnis gemeint. ... Doch die (in einem Brunnen lebende und hinauswollende – DZ) Wahrheit, der man auf die Finger klopft, ist nicht die objektive Wahrheit, sie ist nicht einmal die subjektive Wahrheit, sie ist einzig und allein ein dichterisches Bild der Ehrlichkeit oder Offenheit, hat also nur mit dem Charakter zu tun und nicht mit der Erkenntnis.“ (Mauthner 2/1906, S.693)

Das Bild vom „Brunnen“, aus dem die Wahrheit herauswill – und der Mauthner bezeichnenderweise „auf die Finger klopft“, um sie genau daran zu hindern (warum eigentlich?) –, steht jenseits der üblichen Subjekt-Objekt-Dichotomien. Möglicherweise ein weiterer Hinweis auf die Plessnersche Doppelaspektivität? (Vgl. meinen Post vom 18.10.2013) In ihr geht es vor allem um „Ehrlichkeit“ und „Offenheit“, nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Wir haben es hier mit expressiven Qualitäten zu tun.

Ganz im Sinne der Plessnerschen ‚Seele‘ und ihrem noli me tangere will diese Wahrheit nicht dingfest (Gleichheit) gemacht werden. Sie begnügt sich mit ‚Ähnlichkeiten‘: „... denn unsere Sprachbegriffe beruhen auf Ähnlichkeit, die mathematischen Formeln auf Gleichheit.“ (Mauthner 2/1906, S.436) – Und diese Ähnlichkeit eröffnet ‚Lücken‘ in der mathematischen Geschlossenheit der Gleichheitsformeln: „Dabei möchte ich aber behaupten, daß diese bloße Ähnlichkeit, d.h. die wissenschaftliche oder mathematische Unvergleichlichkeit der Dinge erst unser Sprechen oder Denken möglich gemacht hat, daß also erst die Lücken unserer Vorstellungen, die Fehler unserer Sinneswerkzeuge unsere Sprache gebildet haben. ... würden wir von jedem Einzelding ein so scharfes Bild auffassen und im Gedächtnis behalten, dann wäre die begriffliche Sprache vielleicht unmöglich.“ (Mauthner 2/1906, S.437)

„Unvergleichlichkeit der Dinge“ meint, daß die Dinge nur auf mathematischer Ebene unvergleichlich sind: „ In der Wirklichkeitswelt gibt es nur Ähnlichkeit.“ (Mauthner 2/1906, S.469) – In der Wirklichkeitswelt gibt es also keine Gleichheit, sondern nur Ähnlichkeit. Was die Dinge vergleichbar macht, ist die Ungenauigkeit der Wahrnehmung, also die Unvollkommenheit unserer Sinnesorgane. So wird wieder die Ungenauigkeit der Wahrnehmung zur Grundlage für die exakte Mathematik. Denn was wir in der Wirklichkeit nur ungenau als ‚ähnlich‘ wahrnehmen, das wird in den mathematischen Formeln zur Gleichheit gebracht.

So kompliziert kann sich Mauthner manchmal ausdrücken. Und manchmal trifft er dabei sogar etwas Richtiges. Denn von Blumenberg wissen wir, daß allen Begriffen Metaphern zugrundeliegen, daß alle Begriffe irgendwann aus Metaphern hervorgegangen sind. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis 10.09.11)

Mauthner erweist sich geradezu als ein Vorläufer von Blumenberg, wenn auch er von der Funktion von Metaphern spricht. So bezeichnet er die Metapher z.B. „als Grundquelle aller Sprachentwicklung ...“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.36) Und er behauptet, relativ dreist wie ich finde, daß „es gut zu meiner Lehre (stimmt), daß nämlich die Sprache durch Metaphern entstanden ist und durch Metaphern wächst, wenn dichterische Phantasie die Worte immer ergänzen und beleben muß.“ (Mauthner 2/1906, S.113) – Wenn das wirklich so gut zu seiner „Lehre“ passen würde, wie er behauptet, wieso macht Mauthner dann ‚die‘ Sprache im Wesentlichen zu einem Werkzeug der Außenwelterkenntnis?

Aber bleiben wir an dieser Stelle beim Zustimmenswerten. Vor dem Hintergrund der notwendigen Lückenhaftigkeit des Sprachverstehens kommt Mauthner zu Einsichten, die an Plessners „Hiatus“ erinnern (vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.245): „Wir besitzen aber nur eine einzige arme Sprache und quälen uns umsonst, an ihren Krücken den Abgrund zwischen Physiologie und Psychologie zu überspringen. Nur Metaphern bietet uns die Sprache, nur Bilder, und eines dieser Bilder ist das wissenschaftliche Modewort: Parallelismus zwischen Seele und Leib.“ (Mauthner 2/1906, S.2887f.)

So kommt das Bild der Parallelen doch noch zu ihrem Recht. Gerade weil sie sich nur im Unendlichen berühren, stehen sie für die Unschließbarkeit der Lücke.

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