„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 21. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib 
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Der Körper spielt bei Mauthner eine im Vergleich zur Sprache nur untergeordnete Rolle. Wenn Mauthner ihn thematisiert, so nur auf der Organebene, wenn er die menschliche und tierische Physiologie mit der Sprache gleichsetzt. Eine Vorsprachlichkeit des Körpers wird generell geleugnet, aber im Rahmen seiner insgesamt inkonsequenten und sprunghaften Argumentationsweise kommt Mauthner trotzdem immer mal wieder auf so eine Vorsprachlichkeit zurück. (Vgl.u.a. Mauthner 2/1906, S.213, 217) Damit will ich mich hier nicht weiter aufhalten.

Wirklich interessant sind andere Stellen, die an Plessners Körperleib erinnern. So erhebt Mauthner z.B. den Körper zum Wirklichkeitsprinzip: „Solange ein fallender Eisenhammer von hundert Zentnern nicht durch irgend eine wissenschaftliche List für unseren Tastsinn wirkungslos gemacht ist, solange wird die Menschheit materialistisch bleiben. Die Molekulartänze sind nicht im stande, die Körperlichkeit aus der Welt zu schaffen; denn die Körperlichkeit ist immer noch die widerspruchslosere Hypothese.“ (Mauthner 2/1906, S.412)

Die „wissenschaftliche List“, aufgrund deren ein fallender Eisenhammer auf unseren Tastsinn keinen ‚Eindruck‘ mehr macht, erinnert schon sehr an die Digitalisierung des Analogen. Schon ist man so weit, Materie über einen Tintenstahldrucker auszudrucken. Etwas anderes macht der Replikator in den Star-Trek-Filmen auch nicht. So ist auch der umgekehrte Weg nicht mehr denkunmöglich: die Umwandlung eines im freien Fall befindlichen hundert Zentner schweren Eisenhammers in eine digitale Illusion mit Hilfe irgendeines Materiekonverters, als Teil einer Sicherheitstechnologie in der industriellen Produktion.

Aber zurück zu Mauthner. Körperliche bzw. leibliche Funktionen werden bei Mauthner sonst eher abgewertet. Dann ist auch schon mal von „Hengstmenschen“ die Rede, und Mauthner beschreibt den Menschen als einen „Wagen“, vor den ein „Wildschwein“ und ein „geflügeltes Pferd“ gespannt sind. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.41)

Es ist wohl unnötig, eigens darauf hinzuweisen, welchen Aspekt des Menschen Mauthner mit dem Prädikat „Wildschwein“ versieht. An dieser Stelle verwandelt er sich von einem materialistischen Monisten plötzlich in einen moralischen Dualisten, dem zum Körper nur sexuelle Phantasien einfallen, während der ‚Seele‘ eine kindliche Unschuld zugesprochen wird: „Glänzend in der Hitze der Lust, sieht das Auge das glänzende andere Auge, langsam gattet sich Lippe zu Lippe, und in der letzten Vereinigung geschieht das Wunder, daß die beiden Leidenschaften sich fortpflanzen in ein neues Wesen, an dessen Deichsel kein ekelhaftes Tier gespannt ist ... Das ist unsere Rührung beim Anblick eines gesunden Kindes, das unsere Sehnsucht nach der Unschuld des Kindes.“ (Mauthner 2/1906, S.42) – Nebenbei bemerkt: Ich frage mich, ob eine solche Rührung durch kindliche Unschuld die Kehrseite der Pädophilie bildet?

Neben der Stelle zum Körper als Wirklichkeitsprinzip gibt es aber eine weitere Stelle, die auf Plessners Körperleib-Konzept vorausdeutet. So thematisiert Mauthner den ‚Leib‘ als ein Zeichen bzw. als ein Symbol des ‚Ich‘: „... das, was an meinem Leib mehreren Subjekten, den Mitmenschen erfahrbar ist, das ist ja gerade nicht mein Ich, sondern nur der Leib, den auch ich sehen kann.“ (Mauthner 2/1906, S.672)

An dieser Stelle thematisiert Mauthner den Körper-Leib als Doppelaspektivität, als Teil der Welt und der Welt gegenüber, als Zentrum und Peripherie: „Objektiv sehe ich mein Ich, wie ich die Welt sehe, und wie ich meinen Fingernagel sehe, wenn ich ihn schneide. ... Die Welt sieht mein Ich, mein objektives Ich, und rechnet damit und stößt es dahin und dorthin. Ich will (einerlei ob mein Wille Schein oder Wirklichkeit ist), ich will gar sehr. Aber ich kann nicht, wie ich will.“ (Mauthner 2/1906, S.673)

Von hier aus ist nur noch ein kleiner Schritt zu einer Expressivität, wie sie Plessner beschrieben hat, in der gerade dieses Nicht-können-wie-man-will zur Grundstruktur der menschlichen Seele und ihres Ausdrucksbedürfnisses wird. Mauthner spricht analog zu diesem Körperleib von einem Verhältnis zwischen Seele und Leib, bei der es letztlich nur noch eine Frage der „Richtung unserer Aufmerksamkeit“ ist, „ob wir uns auf der konkaven oder auf der konvexen Seite der Welt glauben. Das wahre Verhältnis zwischen Seele und Leib werden wir niemals erkennen, aber nur darum nicht, weil wir uns mit unserem Denken oder mit unserer Sprache niemals auf beide Seiten zugleich stellen können. .. Die Vorgänge, welche wir bald physiologisch, bald psychologisch betrachten, sind von diesen beiden Standpunkten aus unvergleichlich, weil sie in der sprachlosen Naturwirklichkeit identisch, weil sie in der Menschensprache disparat sind.“ (Vgl. Mauthner 2/1906, S.291)

Daß Mauthner der Konsequenz dieser Einsicht aufgrund seiner dogmatischen Fixiertheit auf die Außenweltlichkeit von Sprache letztlich nicht gewachsen ist, habe ich schon im letzten Post angemerkt und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Ansonsten habe ich dieser Stelle nichts weiter hinzuzufügen.

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