„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Mich irritiert, wieso Augustinus die Ursünde so unmittelbar auf die Sexualität bzw. auf die Wollust (Libido) zurückführen kann. Schließlich geht es in der Bibel nicht um den Baum der Sexualität, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen, sondern um den Baum der Erkenntnis. Zwar geht es dabei wiederum nicht um irgendeine beliebige Erkenntnis aus dem Bereich der Naturwissenschaften, um es mal so zu formulieren, sondern um die „Erkenntnis von Gut und Böse“, die mit wissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun hat. Dennoch bin ich irritiert.

Augustinus und mit ihm die anderen Kirchenväter, allen voran Cassian, unterschieben diesem „Gut und Böse“ das sexuelle Schema, als Scham vor der eigenen Körperlichkeit ‒ auch das ist Teil der biblischen Erzählung ‒, aber dennoch haben wir es mit einer Erkenntnis zu tun, von der die Menschen der Erzählung zufolge nichts ,wissen‛ dürfen. Es handelt sich eindeutig um ein Erkenntnisverbot. Klostervorsteher wie Cassian, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Abt gewesen ist, haben dann aber dieses Übel, zumindest für die Menschen, denn Gott hatte ja verhindern wollen, daß sie bestimmte Dinge ‚wissen‛, zum Hauptzweck der klösterlichen Askese gemacht. Die Gottesbeziehung sollte eine reine „Erkenntnisbeziehung“ sein, „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“. (Vgl. SuW 4, S.298) Und diese Erkenntnisbeziehung stellte sich Cassian wiederum als einen „Akt der Betrachtung“ vor, „der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)

Wie kann das funktionieren? Wie konnte das paradiesische Erkenntnisverbot für die nachparadiesische Welt ausgerechnet das Vorbild für eine erstrebenswerte Gottesbeziehung werden?

Erkenntnis, Anerkenntnis, Verdachtserkenntnis ‒ Foucault bietet als Erklärung für diesen Umstand an, daß wir es mit zwei verschiedenen Erkenntnisbegriffen zu tun haben: mit einer Erkenntnis, die die christliche ‚Wahrheit‛ betrifft, und mit einer epistemologischen Erkenntnis, wie wir sie von den heutigen Wissenschaften kennen. Die Beziehung des Christen zur Wahrheit, wie sie ‚Hermas‛, der namentlich unbekannte Autor von „Der Hirte des Hermas“ (ca. 150), der zu den apostolischen Vätern gezählt wird, am Beispiel der Taufe beschreibt, hat nichts mit Erkenntnis zu tun, sondern mit Anerkenntnis. Foucault: „(Die Wahrheitsakte) gehören eher zur Ordnung der Anerkenntnis denn der Erkenntnis(.)“ (Vgl. SuW 4, S.84)

Die Wahrheit ist also nicht das Ergebnis von Reflexion und somit ein Bewußtseinsakt (vgl. SuW 4, S.81f.), sondern das Ergebnis einer Erleuchtung (vgl. SuW 4, S.80), und die Taufe besiegelt diese Erleuchtung, die das getaufte Subjekt ,bezeugt‛ (vgl. SuW 4, S.85): „Die metanoia (der Taufe) teilt die Seele (des Getauften) nicht in einen Teil, der erkennt, und in einen anderen, der erkannt werden muss. ... Sie besteht darin, den ‚Übergang‛ (in die Wahrheit ‒ DZ) zu bezeugen ‒ die Trennung, die Bewegung, die Transformation, den Zugang ‒ und zwar gleichzeitig als realen Prozess in der Seele und als tatsächliche Verpflichtung der Seele.“ (SuW 4, S.85)

Die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit ist also die eines Zeugen der Verwandlung, die in seiner Seele stattgefunden hat. Diese Beziehung besteht nicht in einem Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit (Subjekt-Objekt-Konstellation), sondern es ist in der Wahrheit. Der Taufakt erkennt diese Verwandlung an und besiegelt sie zugleich. So beschreibt es Hermas in „Der Hirte des Hermas“.

Ich frage mich, ob später, über Augustinus und dann in der Inquisition, aus dieser Anerkenntnis des Glaubens eine Verdachtserkenntnis geworden ist, aufgrund deren die Gläubigen nicht mehr als Gläubige anerkannt wurden, sondern potenziell des Abfalls vom Glauben verdächtigt wurden? So daß sie nicht mehr ,in Wahrheit‛ gläubig, sondern ,in Wahrheit‛ ungläubig waren? So daß sie also mit inquisitorischen Mitteln dazu gezwungen werden mußten, ihren Unglauben zu bezeugen?

Für eine solche Verdachtserkenntnis mit einer damit verbundenen Hermeneutik des Verdachts stehen Tertullians Überlegungen zu den begrenzten Taufeffekten: „Die Zeit, die der Taufe vorausgeht, darf daher keine des selbstgefälligen Vertrauens in sich selbst sein. Sie ist im Gegenteil eine Zeit ‚der Gefahr und der Furcht‛.() Tertullian misst der Notwendigkeit der ,Furcht‛ auf dem Weg, der zur Taufe führt, und auch im Leben eines Christen eine sehr große Bedeutung bei. ... Unter der Notwendigkeit des ‚metus‛ als ständiger Dimension des christlichen Lebens versteht er sowohl die Furcht vor Gott als auch die Furcht vor sich selbst ‒ das heißt die Angst vor der eigenen Schwäche, den Fehlern, deren man fähig ist, den Einschmeichelungen des Feindes in der Seele, der Blindheit oder Selbstgefälligkeit, dank deren wir uns von ihm überlisten lassen werden.“ (SuW 4, S.90)

Die Folgesätze gehören hier auch noch hin: „Derjenige, der die Taufe empfangen soll, muss Vertrauen haben, aber nicht in sich selbst, sondern in Gott. Die Unsicherheit, nicht bezüglich Gott, sondern bezüglich seiner eigenen Natur, seiner Schwäche, seinem Unvermögen, darf ihn nicht verlassen.“ (Ebenda)

Konversion versus Autonomie ‒ In seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) bietet Foucault noch eine andere Version für den merkwürdigen Umstand an, daß die Kirchenväter so ein großes Gewicht auf die Erkenntnis legten. Foucault unterscheidet auch hier zwischen zwei verschiedenen Erkenntnisformen, aber diesmal zwischen einer Erkenntnisform, die auf die Konversion des Subjekts setzt, und einer Erkenntnisform, die die Autonomie des Subjekts behauptet. Natürlich ist die letztere Erkenntnisform die der Aufklärung und der Neuzeit ab dem 17. Jhdt., für die Foucault beispielhaft René Descartes und Immanuel Kant nennt.

Schon lange vor dem Christentum, in der griechischen Antike und später in der Kaiserzeit, hielt man den Menschen, so wie er ist, nicht für wahrheitsfähig. Es bedurfte einer Konversion, einer Korrektur des Menschen: „Daß das Subjekt als solches, so wie es sich selbst gegeben ist, der Wahrheit nicht fähig ist, das ist ein allgemeines Merkmal und ein Prinzip. Und es ist der Wahrheit nur fähig, wenn es an sich selbst eine Reihe von Operationen durchführt, eine Reihe von Veränderungen und Wandlungen durchmacht, die es zur Wahrheit befähigen. Dies ist, wie ich meine, ein grundlegendes Thema, in dem dann übrigens das Christentum sehr leicht seinen Platz findet ...“ (Foucault 2004, S.241)

Descartes (1596-1560) steht für den Moment, wo im aufgeklärten Denken des modernen Menschen „das Subjekt als solches der Wahrheit fähig wurde“: „Es genügt, die Augen zu öffnen, es genügt, gesund und geradewegs zu räsonieren (räsonieren steht für: seinen eigenen Verstand gebrauchen ‒ DZ), indem man sich stets und unfehlbar an die Gewißheit hält, und schon ist man der Wahrheit fähig.“ (Vgl. Foucault 2004, S.241f.)

Kant, so Foucault, geht hier noch einen Schritt weiter: „Was wir nicht zu erkennen fähig sind, das macht gerade die Struktur des erkennenden Subjekts aus, die bewirkt, daß wir es nicht erkennen können. Und infolgedessen ist die Idee, daß eine bestimmte geistige (spirituelle) Transformation des Subjekts diesem schließlich den Zugang zu etwas gewähren könnte, zu dem es gegenwärtig noch keinen Zugang hat, illusorisch.“ (Foucault 2004, S.242)

Letztlich lassen sich also die beiden Erkenntnisweisen dadurch unterscheiden, daß wir es bei der einen mit der Frage nach dem „Zugang zur Wahrheit“ und bei der anderen mit der Erkenntnis von Objekten zu tun haben. (Vgl. Foucault 2004, S.243)

Verzicht statt Konversion ‒ Zwar weist Foucault daraufhin, daß sich auch das Christentum dem Konversionsschema zuordnen läßt, verweist aber an späterer Stelle darauf, daß die Einstellung des Christentums zur Konversion ambivalent und widersprüchlich ist: „... daß wir im Christentum, der wichtigsten Achse der christlichen (Spiritualität), wie ich meine, eine Zurückweisung, eine ‒ von Widersprüchen nicht ganz freie ‒ Zurückweisung und Ablehnung dieser Umkehr zu sich finden werden.“ (Vgl. Foucault 2004, S.311)

Wie können christliche Praktiken wie etwa die klösterliche Askese, die ganz wesentlich auf einen „Verzicht auf sich selbst“ als Bestandteil ausschließlicher Gotteserkenntnis ausgerichtet ist, widerspruchsfrei als eine Form der Konversion, der Rückkehr zu sich selbst verstanden werden?

Gar nicht. Allerhöchstens im Sinne einer Rückkehr ins Paradies vor dem Sündenfall. Foucault jedenfalls nimmt seine frühere Behauptung einer Vereinbarkeit des Christentums mit der antiken Sorge um sich als Rückkehr zu sich selbst wieder zurück: „Ich meine also, daß im gesamten Christentum das Thema der Umkehr zu sich in starkem Maße ein zu bekämpfendes Thema geblieben ist und nicht etwa eins, welches das christliche Denken tatsächlich in sich aufgenommen hat und einbezogen hat.“ (Foucault 2004, S.312)

Samstag, 12. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, schreibt über die Macht der Zweisamkeit: „Ohne dass jemand sie einander näher bringt, sie dazu anhält, sie in ihre Pflichten einweist, müssen sich so Gatte und Gattin nur sehen, um verbunden zu sein.“ (Zitiert nach SuW 4, S.344)

Chrysostomos unterstreicht diese Macht, indem er sie noch höher einschätzt als die Macht der Elternliebe, die „eine so langwährende Gewohnheit“ gewesen ist, aber „von nun an weniger Macht hat als diese zufällige Entscheidung“. (Zitiert nach SuW 4, S.344)

Foucault ergänzt, daß es sich Chrysostomos zufolge bei der Bindungskraft zwischen „Knabe“ und „Mädchen“ „um eine Kraft (handelt), die stärker ist als alle anderen Kräfte in der Natur: gebieterischer, tyrannischer als jene, die uns an andere Menschen binden oder Dinge begehren lassen(.)“ (Vgl. SuW 4, S.343 und S.344)

Hier deutet sich einerseits die Möglichkeit einer Zweiheit außerhalb der Gruppe an. Foucault spricht von „zwei Einzelwesen“, wenn auch durch Ehepflichten zur „wechselseitigen Aneignung der Körper“ gezwungen (vgl. SuW 4, S.370), aber eben doch Einzelwesen, die der Zufall zusammengeführt hat. Ein Zufall, den der fromme Chrysostomos zu einem Wunder und zu einem „Zeichen für den Willen Gottes“ umdeutet. (Vgl. SuW 4, S.345)

Andererseits aber wird die Einzigkeit der beiden als eine „Verschmelzung“ bzw. wechselseitige „Verschlingung“ gedacht: „... ,symphoke‛, Verschlingung, Verschränkung, die zwei Substanzen und zwei Körper miteinander verschmelzt und eine neue Einheit zu bilden versucht.“ (SuW 4, S.345)

Dabei wird der Substanzbegriff großzügig bis hin zur Beliebigkeit verallgemeinert. Nicht nur die Ehe wird als Verschmelzung zweier Substanzen, sondern auch gleich die ganze Menschheit als eine alle umfassende Substanz gedacht: „Beide (Adam und Eva ‒ DZ) sind aus derselben Substanz hervorgegangen, Adam und Eva waren substantiell vereinbar. Und ihre Nachkommen haben noch immer dieselbe Substanz. ... Über die Generationen hinweg bleibt die Menschheit mit sich selbst verbunden und auf ihre eigene Substanz beschränkt.“ (SuW 4, S.345)

Dieser Substanzbegriff ist eine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen als zukunftsoffenen Prozeß. Die Ehe bezeugt nicht die freie und gleiche Wechselseitigkeit zweier, für sich und füreinander einzigartiger Menschen, sondern die menschheitliche, übergeschichtliche Substanz, da hier zwei einander fremde Menschen miteinander zu eben dieser Substanz ‚verschmolzen‛ werden. (Vgl. SuW 4, S.346) Es mag sein, daß dieser Substanzbegriff auch dafür verantwortlich ist, daß Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, die Ursünde im Paradies als Erbsünde bezeichnen konnte, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Dieser Argumentationszusammenhang, der auch die Komplementarität zwischen Frauen und Männern begründet (vgl. SuW 4, S.350), in der die Frauen für das Haus und die Männer für die Welt zuständig sind ‒ gedacht als substanzielle Arbeitsteilung ‒, ist der Grund dafür, daß meine Formel von Ich = Du auf einer Differenz basiert und nicht auf einer Verschmelzung. Wir haben es hier mit einer Differenz zu tun, die die Gleichheit zwischen Zweien allererst begründet, weil sie deren Eingliederung in eine vorgegebene, eben ,substanzielle‛ Arbeitsteilung verhindert. Jedes Substanzdenken, jede Wesentlichkeit ist zur Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Zweien unangebracht.

Gleichwohl ist es gerade die enorme Bindungskraft, die mit den intimen sexuellen Praktiken zwischen Zweien einhergeht, die für mich das Modell auch für andere Zweierkonstellationen bildet.

Foucault verweist auf den Dimorphismus, der zwischen dem Kloster- und dem Eheleben besteht und mit der Differenz zwischen dem „kompletten Weltverzicht“ der Klostergemeinschaft und der weltlichen Zweisamkeit des Ehelebens, die auch die Geschlechtslust mit einbezieht, zusammenhängt: „Sein Ursprung liegt in dem Bestreben, bei der Ausübung der Pastoralmacht eine ‚techne‛ (Lebensführung ‒ DZ) des Ehelebens ‒ die unter der des Mönchslebens steht, zu dieser aber nicht heterogen ist ‒ auszubilden, die sowohl dazu geführt hat, aus der Wollust eines jeden der beiden Ehepartner (und nicht aus der gemeinsamen Nachkommenschaft) die entscheidende Form der ehelichen Beziehung zu machen, als auch dazu, zwischen diesen beiden Einzelwesen eine Verschränkung der Verantwortlichkeiten und Verkettung zu bewerkstelligen. Selbst in der Zweierform der Ehe ist das Hauptproblem die Frage, was man mit seiner eigenen Wollust machen soll, mithin die Beziehung zu sich selbst. Und das Recht auf innerehelichen Sex wurde in erster Linie als eine Form eingerichtet, die dazu dient, die grundlegende Beziehung zu sich selbst vermittels des anderen zu gestalten.“ (SuW 4, S.379)

Mit „Pastoralmacht“ ist die weltliche Seelsorge gemeint. Chrysostomos steht für eine vergleichsweise liberale Position. Er hat den Begriff der „Pflicht-Schuld“ geprägt (vgl. SuW 4, S.376f.), derzufolge die Ehepartner gegenseitig zur Befriedigung ihrer Wollust verpflichtet sind und es einander schuldig sind, sich vor der Unzucht zu bewahren. Auch der frühe Augustinus neigte noch zu dieser Auffassung vom Eheleben, bevor er zu dem Standpunkt wechselte, daß die Wollust ein grundsätzliches Übel sei.

Sloterdijk bezeichnet Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“. Aber verglichen mit dem Abt und Schriftsteller Cassian (360-435), von dem in den vorangegangenen Blogposts mehrfach die Rede gewesen ist, ist Augustinus geradezu ein Ausbund an Toleranz und Menschenfreundlichkeit, der den Geschlechtsunterschied nicht als Übel, sondern als von Gott gewolltes Gut versteht und der ein Bestandteil des göttlichen Schöpfungsaktes ist.

Foucault zufolge beinhaltet die christliche Auffassung von der Ehe zwei „ungleiche Güter“ (vgl. SuW 4, S.381), nämlich die Güter selbst, im engeren Sinne, und die Zweckbestimmung der Ehe: „Die Güter der Ehe, die ihren Wert ausmachen, sind neben der Enthaltsamkeit, doch dieser untergeordnet: die Nachkommenschaft, der Glaube, der die Ehegatten vereint, das Sakrament, das sie unauslöschlich prägt. Die Zwecke der Ehe, die Richtlinien für den ‚Gebrauch‛ der Ehe darstellen und zu bestimmen erlauben, welche sexuellen Beziehungen verboten und welche erlaubt sind, sind: die Zeugung und die Abhilfe gegen die Wollust.“ (SuW 4, S.408)

Mit dem Gut der Enthaltsamkeit sind zum einen die Monopolisierung der Ehe als rechtmäßigem Ort für den Geschlechtsverkehr, zum anderen die Regulierung des Gebrauchs, den man davon macht, gemeint. Was die Zwecke betrifft, die zu den Gütern niederrangig sind, nennt Foucault später noch einen dritten Zweck, der anders als die anderen beiden Zwecke die Ehe nicht zu einem Mittel für etwas macht, sondern einen Selbstzweck darstellt: die Freundschaft. (Vgl. SuW 4, S.410) Diese Zweckbestimmung würde dann sogar in Richtung meiner Formel von Ich = Du gehen, wäre da nicht die Rollenverteilung, die den Mann zum Besitzer der Frau macht. (Vgl. SuW 4, S.406)

Deshalb war ich zunächst überrascht, als ich auf eine Textstelle stieß, in der Augustinus auf die Notwendigkeit eines „consensus“ zu sprechen kommt. Foucault übersetzt ‚consensus‛ mit ,Zustimmung‛. (Vgl. SuW 4, S.470ff.) An einer früheren Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ war ich schon auf dem Begriff der „Einwilligung“ gestoßen, ein Begriff, mit dem es um die freie und gleiche Wechselseitigkeit zwischen Frauen und Männern geht (vgl. SuW 3, S.265; vgl. meinen Blogpost vom 07.07.2025), und ich erwartete mir jetzt an dieser Stelle im vierten Band etwas ähnliches. Dann wurde aber meine Erwartung, daß es hier um die Möglichkeit des Partners, nein zu sagen, geht, enttäuscht. Es geht Augustinus vielmehr um die Sündlosigkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs, insofern beide, Frau und Mann, jeweils für sich entscheiden (zustimmen), die eigene mit dem Geschlechtsverkehr verbundene Wollust ,freizugeben‛. Es geht also darum, sich selbst zu erlauben, Wollust zu erleben.

Diese innerliche Zustimmung erlaubt die Umsetzung eines sexuellen Motivs (Begierde) in Handlung; zu wollen, „was die Begierde will“ (vgl. SuW 4, S.470): „(Augustinus) zufolge besteht die Zustimmung nicht in der Akzeptanz eines fremden Elements mittels des Willens; vielmehr ist sie für den Willen eine Weise, als freier Akt zu wollen, was er als Begierde will. Bei der Zustimmung ‒ und das Gleiche könnte man für das Gegenteil der Ablehnung sagen ‒ ist der Wille selbst das Objekt.“ (SuW 4, S.471)

Es geht aber noch weiter. Die „Nicht-Zustimmung“, die Ablehnung, besteht Augustinus zufolge nicht etwa darin, das Motiv als solches abzulehnen: „(Die) Nicht-Zustimmung (besteht) nicht darin, das Begehren zu besiegen, indem man der Seele die Vorstellung des begehrten Objekts verwehrt, sondern darin, es nicht zu wollen, wie es die Begierde will.“ (Vgl. SuW, S.472)

Augustinus will also an dieser Stelle nicht, und das finde ich jetzt tatsächlich bemerkenswert, die Begierde, die Wollust als solche dämonisieren, sondern nur auf die Art und Weise, sie zu praktizieren, aufmerksam machen. Inwiefern er damit wieder von der Ansicht abrückt, daß die Wollust grundsätzlich von Übel sei, wird von Foucault nicht weiter erläutert. Wahrscheinlich haben wir es hier mit dem Zugeständnis zu tun, daß die Wollust zwar grundsätzlich von Übel, aber für das Gut der Erzeugung einer Nachkommenschaft unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang erfüllt die Wollust ihren notwendigen Zweck.

Freitag, 11. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Im vorangegangenen Exkurs ging es um die Problematik eines ,angemessenen Wollens‛, das Seneca zufolge in seiner ,Unbedingtheit‛ besteht, was heißen soll, daß wir immer nur eine Sache wollen sollen und nicht mehrere Dinge gleichzeitig. Diesen Exkurs habe ich als Überleitung zum Thema des heutigen Blogposts eingefügt, weil es hier um eine, wie mir scheint, heillos verworrene Begrifflichkeit geht; nämlich um die Frage, wann wir eigentlich wollen und wann nicht. Um diese Frage zu klären, versuchen sich die frühchristlichen Kirchenväter bezeichnenderweise an einer Verhältnisbestimmung von Unwillkürlichkeit und Willkür.

Ich weiß nicht, wie die französische Sprache mit diesem seltsamen Phänomenbereich umgeht. Im Deutschen bleibt es jedenfalls nicht aus, daß man sich fragt, was denn eigentlich der Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür ist? Was die Worte selbst betrifft, also unabhängig von ihrem Gebrauch, ist der Sachverhalt eigentlich klar. Willkür ist der Wille. Das steckt schon im ersten Bestandteil des Wortes. Aber auch der zweite Bestandteil, die ,Kür‛, ist eigentlich nicht mißzuverstehen. Die Kür ist die Wahl, wie etwa beim Sport, wenn der Pflichtteil absolviert ist und nun der Teil folgt, den sich Sportlerin oder Sportler ausgesucht hat.

Was den täglichen Gebrauch des Wortes betrifft, sieht die Sache schon ganz anders aus. Da sieht man auf den ersten Blick keinen Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür. Willkürlich handelt jemand, der offensichtlich grundlos und launenhaft handelt. Dessen Wille nicht berechenbar ist. Willkürlich handeln bedeutet also im täglichen Sprachgebrauch, unwillkürlich zu handeln. Entsprechend verwirrend sind die Stellungnahmen der frühchristlichen Kirchenväter zum Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür.

Die christliche Sexualmoral geht von einem Willen aus, der nicht einmal mit der „unschuldigste(n) Regung des Fleisches“ etwas zu tun hat. (Vgl. SuW 4, S.321) Das beinhaltet die paradoxe Vorstellung, daß die „Regungen des Körpers“ deshalb nichts mit dem Willen zu tun haben, weil sie „unwillkürlich“ seien. (Vgl. ebenda) Als könnte es einen frei schwebenden, körperlosen Willen geben. Und als könnte es einen Willen geben, der keinen Anlaß für sein Wollen bräuchte. Seneca nennt einen solchen Willen, wie wir gesehen haben, ,unbedingt‛, meint damit aber nicht einen anlaßlosen Willen, sondern einen Willen, der nicht mehrere Dinge gleichzeitig will.

Ist nicht der Wille selbst in gewisser Weise ,unwillkürlich‛, insofern man üblicherweise davon ausgeht, daß er keine Ursache im Sinne eines Kausalverhältnisses hat? Hätte er eine Ursache, wäre er kein Wille mehr, sondern nur eine Folge. Ist der Wille aber keine bloße Folge einer Ursache, ist er natürlich ,willkürlich‛. Wie sollte man den Willensakt, der die Wahl hat und eine Entscheidung trifft, sonst bezeichnen? Das ist alles ziemlich verworren.

Der christliche Denkfehler ‒ In welchem Verhältnis stehen also Unwillkürlichkeit und Willkür? Ich glaube, es ist die Komplexität der Motive, die einem Willensakt vorausgehen und es schwierig machen, die Handlung eines Menschen auf ein einzelnes Motiv und damit auf einen Willen zurückzuführen. Der Abt und Schriftsteller Cassian (360-435) spricht deshalb zurecht von der „Verwicklung des Willens“ und zählt sechs verschiedene Stufen dieser Verwicklung auf. In Foucaults Worten:
„Die sechs Grade des Aufstiegs zur Keuschheit sind ... sechs Stufen in einem Prozess, der die Verwicklung des Willens aufheben soll. Die Befreiung aus der Verwicklung in die Regungen des Körpers ist der erste Grad. Darauf folgt die Befreiung aus der Verwicklung in die Phantasien (nicht bei dem verweilen, was im Geiste ist). Sodann die Befreiung aus der Verwicklung in das Sinnliche (die Regungen des Körpers nicht mehr spüren). Dann die Befreiung aus der Verwicklung in die Anschauung (an die Objekte nicht mehr als Objekte eines möglichen Begehrens denken). Und schließlich die Befreiung aus der Verwicklung in den Traum (was den dennoch unwillkürlichen Bildern des Traums an Begehren anhaften mag).“ (Vgl. SuW 4, S.323)
Der Fehler ist, diese ganzen Verwicklungen des Willens einfach nur als ‚unwillkürlich‛ zu denken, weil das der seltsamen Doppelnatur des Willens als gleichermaßen unwillkürlich wie willkürlich nicht gerecht wird. Letztlich ist der Wille entweder nur eine Entscheidung, die eine Handlung auslöst, wie ein Schwert, das den gordischen Knoten unserer Motive durchschneidet, oder er ist das Ganze unseres Gefühlshaushalts mit seinen Rangordnungen und Dringlichkeiten, als wache Aufmerksamkeit für die passende Gelegenheit.

Cassian selbst gibt zu, daß der Unterschied zwischen unwillkürlichen körperlichen Regungen und eigentlichen Willensakten nur ein scheinbarer Unterschied ist: „Cassian weist darauf hin, dass dabei nicht notwendig alle (nächtlichen ,Beschmutzungen‛ ‒ DZ) unwillkürlich sind. Übermäßige Nahrungsaufnahme und unreine Gedanken während des Tages sind hier eine Art Einwilligung, wenn nicht sogar eine Vorbereitung.“ (SuW 4, S.326)

Gerade Cassians Hinweis auf die angeblich ,unreinen‛ Gedanken macht deutlich, daß die Motive und die Umstände, in die diese Motive verwickelt sind, die uns beeinflussen, stets über bloß physiologische Prozesse hinausgehen. Stets mischen sich biologische und soziale Bedürfnisse auf je individuelle Weise, weshalb es ja auch der Arbeit an einem Gefühlshaushalt bedarf, als Arbeit an sich selbst. Diese Arbeit beinhaltet aber niemals die Vernichtung der Individualität, sondern im Gegenteil deren Entfaltung zur vollen Menschlichkeit.

Natürlich harmonieren unsere unterschiedlichen Motive nur selten oder sogar nie miteinander. Das macht es möglich, zwei verschiedene Motive so gegeneinander zu wenden, daß das eine als freier Wille und das andere als unfreier Trieb klassifiziert werden kann. Dieser Klassifikation liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Trieb einen Zwang beinhaltet, der einem keine Wahl läßt. Der freie Wille hingegen ist dann das Ergebnis einer Abwägung und einer Entscheidung, also einer Wahl.

Was also bedeutet es, wählen zu können? Es bedeutet, urteilen zu können, was gleichbedeutend mit Denken ist. Der freie Wille ist also ein Denken und Urteilen. Aber dieses Denken und Urteilen findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Ohne Motive, zwischen denen wir uns entscheiden müssen, gäbe es kein Denken und kein Urteilen. Diese Motive aber treten wiederum als Willensregungen mit unterschiedlicher Dringlichkeit in Erscheinung, bis hin zum Zwang, der keine anderen Motive mehr zuläßt als nur ein einziges. Der Wille ist also selbst kein Denken. Er ist Anlaß und Gegenstand des Denkens. Das Prinzip der Freiheit besteht nicht im Wollen selbst, sondern in der Möglichkeit, über das Wollen nachzudenken und seine Dringlichkeit im Gesamt der Motive und in Bezug auf die Gelegenheiten, die aktuelle Situation, abzuwägen. Je größer dabei die Dringlichkeit bis hin zum Zwang ist, um so größer ist auch die Not des Denkens, so daß es tatsächlich dazu kommen kann, daß wir dem Zwang unterliegen.

Niemals aber ist die Disziplin des Denkens ein Wille, der sich gegen sich selbst richtet. Niemals ist die Disziplin des Denkens selbst ein Wille. Die Disziplin des Denkens dient unserem Wollen in der Vielfalt der auf Situationen bezogenen Motive.

Zu diesen Motiven gehören auch die Vorstellungen, die wir uns von unseren Motiven machen. Zusammen mit den Situationen eröffnet sich hier mit den Vorstellungen ein Grenzraum zwischen Innen und Außen, in dem sich unser Denken bewegt. In diesem Grenzraum wägt es unsere Motive ab, unterscheidet sie nach ihrem fiktiven und realen Charakter, und es beurteilt sie nach ihrer individuellen und lebensweltlichen Herkunft. All diese Abwägungsprozesse setzen Selbsterkenntnis voraus und führen zu einem Gefühlshaushalt.

Insofern ist die Disziplin des Denkens zwar selbst kein Wille; doch ohne sie gäbe es keine Willensfreiheit. So wenig wie es ohne unsere Willensregungen ein Denken gäbe.

,Gott‛ ist ein dem Christentum inhärenter Denkfehler. Weil das Christentum den Willen dafür verantwortlich macht, daß die Menschen in ihren Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen ,versagen‛ ‒ gemessen an den antiken und frühchristlichn Moralvorstellungen mit ihrem patriarchalen Hintergrund ‒, schließt es die menschlichen Willensregungen mit dem Willen Gottes kurz. Weil die Menschen den eigenen Willensregungen nicht gewachsen sind, sollen sie gleich gar nicht mehr wollen dürfen. Wo Seneca darauf Wert legte, den Willen nicht zu zerstreuen, sondern immer nur eins nach dem anderen zu wollen, soll der gläubige Christ sein ganzes Leben lang überhaupt nur noch eins wollen: Gott.

Gottes Wille wiederum wird mit der Wahrheit gleichgesetzt, der sich die gläubigen Christen in Form einer reinen Erkenntnis, also jenseits des ,Fleisches‛ und seiner Begierden, zuwenden sollen. Der einzige Bewußtseinsakt, der dem Gläubigen angemessen ist, ist eine Form des Denkens, dessen Zweck die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und die Unterdrückung aller eigenen Willensregungen ist. Der christliche Denkfehler liegt in der Verhältnisbestimmung von Denken und Wollen nach Maßgabe des Willens Gottes.

Vegetativ und somatisch ‒ Dieser Denkfehler ist typisch für eine monotheistische Religion wie das Christentum. Hinzu kommt eine Verwechslung, die spezifisch ist für die augustinische Denkweise. Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, vergleicht den männlichen Penis mit anderen Organen wie Händen und Füßen, die dem Willen unterworfen sind. (Vgl. SuW 4, S.442) Der Penis reagiert auf diesen Willen nicht wie Hände und Füße. Also muß das, was eine Erektion des Penisses bewirkt, etwas anderes als ein freier Wille sein. Augustinus nennt dieses Etwas die Libido und behauptet, daß der Geschlechtsakt infolge des Sündenfalls im Paradies, als der Penis noch ein Organ wie die Hände und die Füße gewesen war und wie diese unserem Willen jederzeit zur Verfügung gestanden hatte, libidinisiert wurde. (Vgl. SuW 4, S.452) Der Penis reagierte jetzt nicht mehr auf den freien Willen, sondern nur noch auf die Wollust. Daß die ‚Wollust‛ bzw. die Libido nichts anderes sein könnte ‒ im Deutschen wörtlich: ‚Lust des Wollens‛ ‒, als eine dem Geschlechtsakt entsprechende Willensregung, die sich auf eine andere Weise vollzieht als die bewußte Entscheidung, nach etwas zu greifen oder irgendwohin zu gehen, ist ihm nicht in den Sinn gekommen.

Auch Hände und Füße können erogene Zonen sein, die durch eine bestimmte Art der Berührung Lust erzeugen. Auch hier ist die entsprechende Willensregung eine andere als wenn wir mit der Hand nach einer Türklinke greifen oder den Fuß auf eine Pedale setzen, um uns aufs Rad zu schwingen und loszufahren. Tasten, streicheln, küssen versetzen nicht nur die Geschlechtsteile selbst in Erregung. Erogene Zonen sind über den ganzen Körper verteilt und teilen sie mit anderen organischen Funktionen. Auch verschiedenartige Willensregungen können durchaus beim gemeinsamen Geschlechtsakt kooperieren und komplexe Dimensionen unserer Menschlichkeit integrieren: ‚Fleisch‛ und ‚Geist‛, ‚Fleisch‛ und ‚Seele‛ müssen einander nicht widerstreiten. Wo sie es aber tun, heißt das eben nicht, daß das eine als Wille zu bezeichnen wäre, das andere aber nicht. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ist nicht die Willkürlichkeit, sondern mit welcher Intensität sie auftreten und von welcher Herkunft (innen/außen) sie sind.

Es ist, wie ich finde, interessant, daß Augustinus das Böse („böser Wille“: vgl. SuW 4, S.456) mit einer Umkehr des Willens gegen sich selbst begründet, also gerade den zentralen Denkfehler, den ich dem Christentum vorwerfe, zum Argument für eben die Notwendigkeit der Erlösung des Menschen von der Ursünde von Adam und Eva macht. Diese Wendung des Willens gegen sich selbst ist nämlich, so Augustinus, die Konsequenz einer Revolte, eben der Ursünde, in der sich der Mensch gegen den Willen Gottes wandte. (Vgl. SuW 4, S.444ff.)

Die Strafe für diese Revolte besteht, trickreich wie Gott ist, in einer Spaltung des männlichen Willens (wieder die Männermoral!): sein Penis kann jetzt nicht mehr eregieren, wenn der Mann es will, sondern nur in Verbindung mit der Wollust, die demnach selbst kein Wille ist: „In der Regung der libido, die den Geschlechtsakt unterfüttert und begleitet, ohne dass er davon getrennt werden kann, darf man nicht das Auftauchen einer Natur sehen, die dem Subjekt äußerlich ist und frei von seinem Einfluss ihre eigenen Gesetze walten lässt, ohne dass es hierbei etwas ausrichten könnte; sondern vielmehr die Spaltung, die, indem sie ein jedes Subjekt teilt, dieses wollen lässt, was es nicht will.“ (SuW 4, S.457f.)

Die Wollust ist also kein Wille, für den Menschen nämlich, weil die Wollust kein freier bzw. kein geistiger Wille ist, wie Augustinus erläutert, denn bei den Tieren ist die Wollust nichts Böses, sondern etwas natürliches, „weil das Unwillkürliche, das sie kennzeichnet, bei ihnen keine Auflehnung ist, sie markiert keine Teilung zwischen den Begierden des Fleisches und den Begierden des Geistes ...“ (Vgl. SuW 4, S.459)

Der Hinweis auf das Unwillkürliche bei Tieren, das bei ihnen keine Auflehnung ist, ist die augustinische Variante des Paradoxes eines menschlichen Willens, der sich in Gestalt zweier Erscheinungsformen, als Unwillkürlichkeit und als Willkür, gegen sich selbst richtet.

Im Unterschied zu seiner früheren Position, die der von Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, nahestand, postuliert Augustinus im „Gottesstaat“, daß es im Paradies den Geschlechtsakt zwar schon gegeben hatte, dieser aber noch nicht mit der Wollust (Libido) verbunden, sondern dem freien Willen des Mannes unterworfen gewesen sei. Erst mit dem Sündenfall, mit der Abwendung von Gottes Willen spaltete sich der menschliche Wille und von nun an war jeder Geschlechtsakt unlösbar mit der Libido verbunden und unabhängig vom Willen des Mannes.

An dieser Stelle gelingt es Augustinus, das Paradox aus Unwillkürlichkeit und Willkür zu überwinden. Foucault schreibt: „Die Analyse von Augustinus macht aus der Begierde nun aber weder eine spezifische Kraft in der Seele noch eine Passivität, die ihre Macht einschränkt, sondern die Form des Willens selbst, das heißt die Form dessen, was aus der Seele ein Subjekt macht. Sie ist für ihn nicht das Unwillkürliche gegen den Willen, sondern das Unwillkürliche des Willens selbst: Sie ist das, ohne das der Wille nicht wollen kann.“ (SuW 4, S.460)

Foucaults Formulierung „das Unwillkürliche des Willens selbst“ kann man auch so verstehen, daß der Wille sein eigener Ursprung ist, ein ursprünglicher Akt und nicht die Folge von etwas anderem. Sie kann aber auch bedeuten, daß unsere Willensregungen keine Denkakte sind. Sie sind planlos und gehen aus keinem Entschluß hervor, sondern sind Gegenstand von Planung und Entschluß.

Hier macht es Sinn, auf die medizinische Anatomie zurückzugreifen. Es gibt ein vegetatives und ein somatisches Nervensystem. Das vegetative Nervensystem läuft nicht über das Gehirn und ist also vom Bewußtsein unabhängig. Das somatische Nervensystem verläuft über das Gehirn und ermöglicht dem Bewußtsein die Kontrolle über die gestreifte Muskulatur. Hände und Füße werden vom somatischen Nervensystem gesteuert (gestreifte Muskulatur); der Penis hingegen wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert (glatte Muskulatur), kann also nicht vom Bewußtsein kontrolliert werden.

Dennoch können Männer mit ihren Händen ihren Penis auf eine Weise manipulieren, daß er erigiert bis hin zur Ejakulation. Penis und Hand, vegetatives und somatisches Nervensystem, arbeiten also gewissermaßen Hand in Hand. Das Gleiche funktioniert auch mithilfe unserer Vorstellungen. Auch mit ihnen können Männer den Penis erigieren lassen. Für alles weitere bedarf es dann allerdings der Hand, der eigenen oder der des Partners.

Es gibt also eine Kooperation zwischen vegetativem und somatischem Nervensy­stem samt dazugehörigen Organen. Das vegetative Nervensystem sorgt für die Begierden, um derentwillen wir mittels des somatischen Nervensystems unser Denken und unsere Hände und Füße in Bewegung setzen, um sie auf die eine oder andere Weise zu befriedigen. Beides ist Wille. Und nur als dieser Wille findet er seine Erfüllung. Die neue Position von Augustinus besteht also darin, daß der Mensch infolge der Ursünde in ein ,geistiges‛ Denken und in ,fleischliche‛ Begierden gespalten ist, Aber diese fleischlichen Begierden sind ihm nicht äußerlich. Sie sind Teil von ihm, und deshalb richtet sich sein Wille gegen sich selbst mit allen damit verbundenen, durchaus unerfreulichen Folgen.

Das, worin sich letztlich aber der augustinische Willensbegriff von meinem vor allem unterscheidet, ist die Rolle, die Gott bei all dem spielt. Gott ist der Grund, weshalb Sloter­dijk Augustinus zurecht als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnen kann.

sui generis ‒ Foucault schreibt: „Nun wird verständlich, weshalb der Umstand, dass die Begierde ,sui generis‛ (die eigene Begierde ‒ DZ) ist, nicht ausschließt, dass sie dem Subjekt angelastet werden kann. Dies kann sie, insofern sie ‚von unserem Willen‛ kommt, der durch diese Tatsache selbst ,sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) ist; und umgekehrt kann sich unser Wille der Begierde nur entziehen, indem er darauf verzichtet, ‚sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) zu sein, und erkennt, dass er das Gute nur durch die Macht der Gnade wollen kann. Die ,Autonomie‛ der Begierde ist das Gesetz des Subjekts, wenn es seinen eigenen Willen will. Und die Machtlosigkeit des Subjekts ist das Gesetz der Begierde.“ (SuW 4, S.460)

Die Absurdität dieser augustinischen Konstruktion einer, wie Foucault schreibt, ‚Autonomie‛ des in sich gespaltenen Willens als Folge des Sündenfalls wirft ein erhellendes Licht auf den Umstand, daß die christliche Fundamentalrelation nicht im Mensch-Weltverhältnis besteht, sondern im Gottesverhältnis. Wenn der Mensch aus seiner weltlichen Bestimmtheit herausgelöst und einem göttlichen Gnadenakt unterworfen wird, kann er seine Freiheit bzw. Autonomie bzw. seinen Willen nicht mehr am Widerstand der Welt bilden. Alles das, was den Menschen zum Menschen macht, wird nun zur Sünde. Seine Autonomie ist eine Abwendung von Gott, und selbst etwas zu wollen, ist eine Revolte gegen Gott. Die Welt, die Mitmenschen und er selbst spielen keine Rolle mehr.

Foucault bringt die Absurdität der augustinischen Konstruktion in einer schlichten Frage zum Ausdruck: „Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“ (SuW 4, S.461)

Mit dieser Frage leitet Foucault über zur Thematik der „Entstehung des Begeh­rens­menschen“ (vgl. SuW 4, S.459), der wiederum eng mit der augustinischen Erfindung der Erbsünde verknüpft ist, derzufolge der Sündenfall nicht in einem Erkenntnisakt, sondern in einem Akt der Wollust besteht. (Vgl. SuW 4, S.396 und S.463)

Foucault zufolge haben wir es hier mit einer „Konstanten des abendländischen Denkens in Bezug auf den Sex“ zu tun: „Dieses Thema ist der grundlegende und untrennbare Zusammenhang zwischen der Form des Geschlechtsakts und der Struktur des Subjekts.“ (SuW 4, S.463)

Donnerstag, 10. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts.Vorlesung am Collége de France

Exkurs: stultitia und sapientia

In meinem Blogpost zur Diätetik der Kaiserzeit (06.07.2025) bin ich kurz auf den von Seneca behaupteten Zusammenhang von „stultus“ und Weltoffenheit zu sprechen gekommen. Seneca disqualifiziert Weltoffenheit, Offenheit gegenüber den Mit­men­schen, als dumm und töricht (stultus). Dabei geht es vor allem um die Mitmenschen, um die Gesellschaft, also um die Menschenwelt, die diejenigen, für die die Sorge um sich selbst vor allem in der Kontrolle über die eigenen Regungen und Begehrlichkeiten besteht, immer wieder in eine Unruhe versetzt, die ihr souveränes in-sich-selbst-Ruhen bedroht. Jemand also, der diesen Störfaktoren gegenüber ,offen‛ ist, ist Seneca zufolge ,stultus‛.

Ich platziere diesen Exkurs zwischen zwei Blogposts, in denen es zentral um diese inneren und äußeren Vorstellungen geht, die, wie ich im vorangegangenen Blogpost dargelegt habe, schon im Kaiserreich, noch mehr aber im frühen Christentum das zentrale Thema einer neuen Diätetik sind. Seneca wird so zum Vorläufer einer christlichen Seelenführung. In seinen Hermeneutikvorlesungen an der Collége de France geht Foucault nochmal kritisch auf die stultus-Problematik ein, und die diesbezügliche Vorlesung vom 27.01.1982 (Foucault 2004, S.164ff.) steht im Zentrum meines Exkurses.

Vorweg möchte ich kurz auf meine eigene Motivlage eingehen. Als ich Senecas stultus-Äußerungen las, war ich doch einigermaßen irritiert gewesen. Von meiner eigenen pädagogischen Denkrichtung als Bildungstheoretiker her war für mich das anthropologische Verhältnis von Mensch und Welt und von Mensch und Mitmensch immer grundlegend gewesen. Ich verweise hier insbesondere auf Wilhelm von Humboldt, für den es undenkbar gewesen war, daß es eine Chance auf Menschlichkeit und Humanität geben könne ohne Weltoffenheit und Weltzugewandtheit.

Von Jean-Jacques Rousseau („Émile“, 1760) lernte ich, zwischen der Welt und den Mitmenschen in der Hinsicht zu differenzieren, daß in einer bestimmten Phase der Entwicklung, als Kind, der Mensch vor allem von der nicht-menschlichen Welt, der Natur, lernt, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Rousseau mißtraute der Menschenwelt, insbesondere in den Städten, die dem jungen Menschen in der Kindheit Vorstellungen und Gedanken einflößen, die er noch nicht denken und infolgedessen auch noch nicht verstehen kann. Das hielt Rousseau in einer Phase, in der wir anfangen, selber denken zu lernen, für schädlich. Darin könnte man eine Parallele zu Senecas Weltfeindlichkeit sehen. Aber Senecas Empfehlung, sich von der Welt abzuwenden, bezog sich nicht auf Kinder, sondern richtete sich an Erwachsene.

Ganz spontan dachte ich auch, als ich die betreffende Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ las, an Bodhidharma (5./6.Jhdt.) und seinen Spruch „offene Weite, nichts von heilig“. Für das Gegenteil von Weltoffenheit und als Beispiel für Weltfeindlichkeit steht hingegen für mich seit vielen Jahren das Christentum. Aufgrund dieser Konstellation von Positionen weckte Senecas Diätetik in mir Mißtrauen.

Zunächst definiert Foucault in seiner Vorlesung Senecas stultus-Begriff: „,Stultus‛ ist derjenige, der sich allen äußeren Anreizen aussetzt, für die äußere Welt offen ist, d.h. derjenige, der alle Vorstellungen, die ihm die äußere Welt zu bieten hat, in seinen Geist einläßt. Er nimmt diese Vorstellungen an, ohne zu prüfen, was sie vorstellen.“ (Foucault 2004, S.171)

So weit also wie bereits bekannt. Foucault ergänzt dann aber noch, „daß der ‚stultus‛ nicht fähig ist, angemessen zu wollen“, und stellt gleich darauf die interessante Frage: „Was bedeutet das: angemessen zu wollen?“ (Foucault 2004, S.172)

Das ist auch die zentrale Frage des nächsten Blogposts, in dem es um das schwierige Problem geht, wie man zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür unterscheiden kann. Foucault verweist auf einen Brief Senecas an Lucilius, den Seneca in Fragen der Lebensführung beriet: „Der Wille des ,stultus‛ ist ein unfreier Wille, ein Wille, der nicht unbedingt ist und der nicht immer will.“ (Foucault 2004, S.173)

Wie Foucault weiter ausführt, besteht der freie Wille erstens darin, „frei zu wollen, ohne irgendeine Bedingtheit zu wollen“, und zweitens darin „angemessen zu wollen, unbedingt () zu wollen“. (Vgl. Foucault 2004, S.173)

In diesem Fall bedeutet ,unbedingt‛ nicht absolut unbedingt, sondern unbedingt insofern, als man immer nur eine Sache nach der anderen wollen soll und nicht mehreres gleichzeitig. Der stultus „will nicht nur eins und eins unbedingt“. (Vgl. Foucault 2004, S.173) Von allen Dingen, die man wollen kann, gibt es aber nur einen Gegenstand, „den wir frei wollen können, ohne von außen Bedingendes berücksichtigen zu müssen“, und das „ist selbstverständlich das Selbst“. (Vgl. ebenda)

In letzter Konsequenz ist also stultus derjenige, der nicht allererst sich selbst will. Und jetzt wird es nochmal besonders interessant, jedenfalls für mich: Seneca setzt der stultitia die sapientia entgegen, also die Weisheit. (Vgl. Foucault 2004, S.174) Der stultus kann sich nicht selbst retten. Es bedarf des „Eingreifens des anderen“ (vgl. ebenda), und zwar nicht irgendeines anderen, sondern desjenigen, der weise ist.

Von jetzt an wird Foucault im hohen Maße ironisch. Geradezu bissig ironisch. Er fragt seine Zuhörerinnen und Zuhörer, was für ein sapiens es wohl konkret sei, der dem stultus seine „ausgestreckte Hand“ entgegenreckt: dieser „Vermittler, der sich sofort anbietet, der Operator, der sich in dieser Beziehung, in dieser Herstellung der Beziehung des Subjekts zu sich selbst aufdrängt ... lärmend drängt er sich auf, und laut verkündet er, daß nur er fähig ist, diese Vermittlung zu vollziehen ...“ usw. (Vgl. Foucault 2004, S.175)

Foucaults Antwort ist überraschend, jedenfalls für mich, obwohl er selbst meint, daß sie allzu naheliegend sei: „Der derart Wirkende ist natürlich der Philosoph.“ (Foucault 2004, S.176)

In der Folge beschreibt Foucault, wie sich die gesellschaftliche Position der Philosophen seit der griechischen Antike, seit Platon und Aristoteles, verändert hat. Bei Platon waren die Philosophen immer auf der richtigen, guten Seite, nützlich für die Polis und die Menschen in der Polis, also für die wohlhabenden, männlichen Grundbesitzer. Die Rhetoriker hingegen galten als geldgierige Berufsberater, also als diejenigen, die das Beraten zu ihrem Beruf, zu ihrem Geschäft gemacht haben. In der römischen Kaiserzeit ist es genau umgekehrt. Jetzt wurden die Rhetoriker als nützliche und redliche Dienstleister in lebenspraktischen Dingen anerkannt, während die Philosophen als schädliche Scharlatane galten.

Das also ist die sapientia, die die Philosophen zu bieten haben: sie ,greifen‛ nach Foucaults Worten in das Leben des Menschen, den sie als stultus verhöhnen, ‚ein‛, um ihn gegen seinen Willen zu beglücken bzw. zu seinem Glück zu zwingen. Sie bringen ihn aus dem „Gleichgewicht“, stören ihn auf, „an ihm ziehend und (ihn) stoßend zu zwingen, eine andere Lebensweise anzunehmen“. (Vgl. Foucault 2004, S.199)

Ich habe den Eindruck, daß das Verhalten dieser ,Philosophen‛ schon vorausweist auf die christliche ,Pastoral‛, also auf eine Seelsorge, die sich das Recht herausnimmt, das Glück bzw. Heil ihrer Klientel nicht nur besser zu kennen als diese, sondern auch sie zu ihrem Glück zwingen zu dürfen, was immer es die Bedauernswerten kosten mag.

Irgendwo bei Hans Blumenberg habe ich gelesen, ich glaube in „Höhlenausgänge“ (1989), daß es immer ein ethisches Problem dabei gebe, die in ihrer Höhle gefangenen Menschen, die sich in ihrer Gefangenschaft eingerichtet haben und nicht mal wissen, daß sie gefangen sind, gegen ihren Willen aus dieser Gefangenschaft zu befreien und aus ihrer Höhle herauszuführen.

Mittwoch, 9. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Der große Unterschied der noch weitgehend ,heidnischen‛ griechisch-römischen Diätetik der Kaiserzeit, wie Foucault die zwei Jahrhunderte vor und die zwei Jahrhunderte nach Beginn unserer Zeitrechnung zusammenfassend nennt, zur frühchristlichen Diätetik des dritten, vierten und fünften Jahrhunderts besteht in der Zielsetzung einer Selbstsorge, die zwar, wie in der Kaiserzeit, zunächst der Führung durch einen erfahrenen Lehrer bzw. Meister bedarf, aber auf die Autonomie des Schülers ausgerichtet ist. Irgendwann endet die Phase der Einübung und geht in eine selbstverantwortete tägliche Übung über, einer Askese, die nicht mehr der Anleitung durch andere bedarf, wenn auch der frühere Schüler jederzeit wieder, falls nötig, auf die Unterstützung einer Person, der er vertraut, zurückgreifen kann. Das gilt dann aber auch umgekehrt: der ehemalige Schüler kann selbst andere, unter Umständen sogar den ehemaligen Lehrer, anleiten, wenn dieser ihn darum bittet.

Diese auf Autonomie und Wechselseitigkeit angelegte Selbstsorge kennt das frühe Christentum nicht. Obwohl die frühen Christen auf die Übungen und Praktiken der griechischen Antike und der Kaiserzeit zurückgreifen, geht es bei ihnen, insbesondere in den Klöstern, aber auch bei der Taufe, um die vollkommene Unterwerfung des Katechumenen bzw. des Novizen unter einen Katecheten oder älteren Ordensbruder. Diese Unterwerfung steht auch für die Bereitschaft, sich Gottes Willen zu beugen, was den Verzicht auf jeden eigenen Willensakt beinhaltet. Es geht um die Vernichtung des Willens und um dessen vollkommene Ersetzung durch Gottes Willen. Und das gilt für den Rest des Lebens. Autonomie ist Sünde und folglich keine Option.

Das Kapitel über „Die Kunst der Künste“ (vgl. SuW 4, S.149ff.: 162), wie Gregor von Nazianz (329-390), Bischof von Sasima, die christliche Form der Sorge um sich nennt, bestätigt mein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber den Praktiken der Kirche. Foucault beginnt mit einem Rückgriff auf SuW 3, „Die Sorge um sich“, und vergleicht den Führungsstil der antiken Philosophenschulen mit dem Führungsstil der christlichen Klostergemeinschaften. (Vgl. SuW 4, S.161f.) Beide Einrichtungen, so Foucault, stellen die Sorge um das Individuum, die Sorge des Individuums um sich selbst und die Sorge des Lehrers um seinen Schüler, ins Zentrum. Dennoch läuft in den Klostergemeinschaften alles auf das Gegenteil dessen hinaus, was Kant auf die Formel „sapere aude!“ brachte. Der Abt und Schriftsteller Cassian (360-435) bestimmt die Hauptaufgabe der Klostergemeinschaften als „Abrichtung zum Gehorsam“, und als wichtigste Entscheidung des Mönchs bezeichnet er den „Verzicht auf den Willen“ und die „Unterwerfung unter den Willen eines andern“. (Vgl. SuW 4, S.168)

Schon die mit der Taufe verbundenen Bußrituale laufen auf eine Vernichtung (Annihilation) des individuellen Willens hinaus, sind aber doch so allgemein gehalten und unterliegen nach der Taufe auch keiner dazu notwendigen umfassenden Kontrolle mehr, daß von einer speziell auf das Individuum gerichteten lebenslangen Disziplin noch keine Rede sein kann. Darin unterscheiden sich die christlichen Taufrituale und das Leben in der Gemeinde von dem individuell angepaßten Führungsstil in den Ordensgemeinschaften. (Vgl. SuW 4, S.161)

Die Ordensgemeinschaften hingegen nehmen sich des individuellen Lebens als einer besonderen, lebenslang andauernden Praxis der Unterwerfung an. In diesem eingeschränkten Sinne, schreibt Foucault, können „die Klöster () als Philosophenschulen definiert werden“. (Vgl. SuW 4, S.162)

Und gerade, was die Klostergemeinschaft betrifft, wird der Annihilismus der christlichen Kirche besonders krass deutlich. Wo die philosophischen Lehrer der Antike von ihren Schülern nur einen auf die Zeit der Übungen begrenzten Gehorsam abverlangten (vgl. SuW 4, S.169), das Ziel der Übungen aber da­rin bestand, den Schülern zu einem Gehorsam sich selbst gegenüber zu verhelfen, ist der Gehorsam des Mönchs als „eine allgemeine und ständige Struktur“ seiner „Existenz“ zu verstehen: „Anstatt eine geschlossene Struktur zu sein, wie bei jemandem, der durch das Gehorchen gelernt hat, sein eigener Herr zu sein, ist die ,humilitas‛ eine ,offene Figur‛: Sie sorgt dafür, dass das Subjekt andere auf es zugreifen lässt.“ (SuW 4, S.173)

Das ganze Ordensleben ist eine Abrichtung des Mönchs auf einen Zustand, der ihn völlig willenlos macht gegenüber den Erwartungen seiner Umwelt und gegenüber den Autoritäten. Die Vokabel ,abrichten‛ verwendet Foucault mehrmals. (Vgl. SuW 4, S. 166, 168, 173) Zur Verdeutlichung, was das im Alltag des Mönchs bedeutete, gehe ich hier noch mal auf einige Details der ,Übungen‛ und klösterlichen Praktiken ein.

Dabei geht es nicht einfach nur um eine Anpassung des individuellen Verhaltens an die Klosterregeln. Die Kontrolle erstreckt sich ganz gezielt auf die inneren Regungen des Mönchs, ob es sich nun um Gefühle, Vorstellungen oder Gedanken handelt. Deshalb müssen Novizen vor allem daran gewöhnt werden, nichts, was in ihnen vor sich geht, vor den anderen zu verbergen. Sie müssen stets und jederzeit Auskunft über sich geben, um es der Beurteilung der Klostergemeinschaft zu überlassen, was sündhaft ist und was nicht. Foucault zitiert Cassian: „Das Urtheil über einen () Gedanken aber sollen sie nicht dem eigenen Ermessen anheimstellen, sondern das für gut und bös halten, was der Obere nach sorgfältiger Prüfung als solches erkannt und erklärt hat.“ (Cassian in: SuW 4, S.169) Dabei geht es für den Novizen nicht darum, zu lernen, wie man richtig urteilt, sondern ausschließlich darum, daß er lernt, daß es auf sein Urteil nicht ankommt.

Letztlich geht es noch nicht mal darum, zu lernen, auf die richtige Weise zu wollen. Wer nicht urteilen lernen darf, wird auch nie lernen, gutes und böses Wollen auseinanderzuhalten. Es geht ausschließlich darum, zu lernen, andere für sich wollen zu lassen, geleitet „von der Regel, geleitet von den Befehlen des Abts, von den Anordnungen seines Führers, eventuell sogar vom Willen seiner Brüder,() denn auch wenn dieser nicht von einem oberen oder Älteren ausgehen sollte, genießt er doch das Vorrecht, der Wille eines anderen zu sein“. (Vgl. SuW 4, S.170)

Der Vorrang des Willens anderer geht so weit, daß selbst offensichtliches Unrecht den Novizen nicht davon abhalten darf, zu tun, was von ihm verlangt wird: „Ungerechtigkeit eines Befehls, dass er zur Wahrheit oder zur Natur in Widerspruch stehen kann, darf niemals verhindern, dass er ausgeführt wird.“ (SuW 4, S.172)

Der Lohn für diese Selbstverleugnung liegt nicht in irgendeiner künftigen Freiheit der Lebensführung oder auch bloß in der Anerkennung als Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft durch die Gemeinschaft: „Der Gehorsam, den man den Mönchen auferlegt, verspricht ihnen nicht die Herrschaft über sich selbst, sondern eine Demut, die nichts anderes ist als der verstetigte Zustand des Gehorsams, als ständige Verfügbarkeit für alle anderen und fortwährendes Verhältnis zu sich selbst.“ (SuW 4, S.174)

Das Ergebnis ist, daß an die Stelle des eigenen Willens ein Wille tritt, in Gestalt der Klostergemeinschaft und in Gestalt des Willens Gottes, der sich gegen den Willen richtet. Der Wille gegen sich selbst: „Der Gehorsam (stellt) somit eine Ausübung des Willens über sich selbst und gegen sich selbst dar.“ (Vgl. SuW 4, S.174)

Foucault versucht sich in Formulierungen, die die absurde Struktur dieses Willens zum Ausdruck bringen: „Zu wollen, nicht zu wollen ... Nicht zu wollen, zu wollen, auf den geringsten eigenen Willen verzichten ... schließlich ist er (der Gehorsam ‒ DZ) das Ergebnis, das den Geführten in die Lage versetzt, anstatt und anstelle seines eigenen Willens für immer einen anderen Willen zu akzeptieren.“ (Vgl. SuW 4, S.174f.)

Noch mal zurück zu den Gefühlen, Vorstellungen und Gedanken. Letztlich sind sie nichts anderes als Erscheinungsformen des Willens, und zwar eben nicht des Willens irgendeines Gottes, sondern des je individuellen Gefühlshaushalts mit seinen unterschiedlichen Motiven und Befindlichkeiten. Die frühen Christen hatten also nicht nur ein Problem mit dem ,Willen‛, sondern auch mit Gedanken, Vorstellungen und Befindlichkeiten. Zusammenfassend kann man sie auch ,Cogitationes‛ nennen. Für Descartes waren diese Cogitationes unsere einzige Gewißheit, zu sein, ein Selbst zu sein, Ich zu sein.

Für die frühen Christen hingegen waren sie, wie wir gesehen haben, ein Problem: „Die ,cogitatio‛ des Cassian ist nicht bloß ein Gedanke unter anderen, sie ist das, was die auf die Kontemplation ausgerichtete Seele jeden Moment in Unruhe versetzen kann. So verstanden ist sie weniger der Akt einer Seele, die denkt, als die Störung einer Seele, die versucht, Gott zu erfassen. Sie ist eine innere Gefahr. Man muss ihr mit einem ständigen Misstrauen begegnen, das sie unter Verdacht stellt und prüft.“ (SuW 4, S.187f.)

Die „innere Gefahr“ besteht für Cassian vor allem darin, daß die jederzeitige Mannigfaltigkeit unserer Gefühle und Motive, mit denen wir uns gedanklich auseinandersetzen, uns von der Aufmerksamkeit auf Gott ablenkt. Das Grundübel ist also die „Beweglichkeit des Denkens“ (SuW 4, S.189): „Die Gedanken fliegen im Geist umher wie eine vom Wind aufgewirbelte kleine Feder“ (ebenda), was mich an die im Wind flatternden Fetzen von Montaigne erinnert, eine Metapher für das, was wir sind. Diese Metapher erinnerte mich wiederum beim erstenmal Lesen an die Gebetsfahnen der Tibeter, die offensichtlich kein Problem damit haben, den Wind und die flatternden Fetzen als eine Form der Andacht zu verstehen.

Witzigerweise verwendet Cassian für das Begehren die Metapher von einer vom Wasser angetriebenen Mühle, also einer weiteren denkbaren Form des tibetischen Gebets, man denke an Gebetsmühlen, allerdings hier negativ konnotiert; negativ für „die Seele“, die „von der Brandung der Gedanken () umgetrieben“ wird. (Vgl. SuW 4, S.189f.) Die frühen Christen waren jedenfalls mit Sicherheit keine Tibeter.

Plessner zufolge ist die Seele ein „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut und das nicht berührt bzw. angefaßt werden will („noli me tangere“). Damit wendet er sich implizit zwar, aber wie ich finde deutlich genug gegen die Übergriffigkeit einer christlichen ‚Seelsorge‛, die Foucault auch als „Pastoral“ bezeichnet. Aus Plessners Sicht wäre die inquisitorische Beichte, die der Seele ihre Geheimnisse entreißen soll, für eben diese Seele tödlich. Die Seele bedarf einer Sprache, die die Differenz zwischen Meinen und Sagen ernst nimmt und die Seele vor der Entblößung schützt.

Cassian zufolge ist nicht die Seele ein Geschöpf der Nacht, sondern der „Feind“, der Teufel also, der das Tageslicht haßt: „Wenn man Mühe hat, einen Gedanken zu bekennen, wenn er sich dagegen sperrt, ausgesprochen zu werden, wenn er versucht, geheim zu bleiben, ist das ein Zeichen dafür, dass er schlecht ist.“ (SuW 4, S.194f.)

Es erinnert an Freuds Psychoanalyse, wenn Cassian meint, daß sich ein Gedanke um so mehr entzieht und damit verdächtig macht, „je mehr er den Worten, die ihn zu erfassen suchen, zu entkommen trachtet“: „(D)esto mehr Mühe muss man sich folglich geben, ihm nachzugehen und von ihm ein genaues Geständnis abzulegen.“ (SuW 4, S.195)

Das expressive Schwanken der Seele zwischen Meinen und Sagen, wie Plessner es beschreibt, wird als ein Werk des Teufels gedeutet, dem mit einem Exorzismus begegnet werden muß: „Das Geständnis, das ihn ans Licht zerrt, entreißt ihn seines Reichs und entmachtet ihn.“ (SuW 4, S.195)

Es geht nicht mehr um Expressivität, sondern um Exorzismus. („Austreibung“: vgl. SuW 4, S.197) Ein Mönch, der Abt Sarapion, beschreibt diesen Vorgang überaus anschaulich am Beispiel eines Erlebnisses aus der Zeit, als er noch ein junger Mönch gewesen war. Die Mahnungen seines damaligen Abtes hatten ihn in eine solche Drangsal versetzt, daß er seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte: „Und sogleich ,kam eine brennende Fackel aus meinem Busen hervor und erfüllte die Zelle so mit Schwefelgeruch, dass die Heftigkeit des Gestanks uns kaum in ihr bleiben ließ‛.“ (SuW 4, S.196)

Es waren wohl eher die durch das Klosterleben und die Ermahnungen seines Abtes aufgeregten Eingeweide des jungen Mönchs, die ihm einen Furz haben entfahren lassen, der dann auch nicht der Brust, sondern dem After entwich. Ein verzeihlicher Irrtum des verängstigten jungen Mönchs, der oben und unten nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Wie auch, da er ja nie zu urteilen gelernt hatte. Wahrscheinlich hatte gerade ein Klosterbruder mit einer brennenden Kerze in der Hand hinter ihm gestanden, die sich prompt in einer brennende Fackel verwandelte.

Ist die Wahrheit der Seele bei Plessner also die Differenz zwischen Meinen und Sagen, so besteht deren Wahrheit nach christlicher Auffassung im Geständnis, das zur Austreibung des Teufels führt. Zurück bleibt eine gereinigte, dem Terror des Lichts und der umfassenden Aufmerksamkeit der kirchlichen und klösterlichen Autoritäten ausgesetzte Seele.

Foucaults Hinweis darauf, daß es sich bei dem Feind um einen „fremden Willen“ handelt (vgl. SuW 4, S.310), macht auf das dem geistigen Kampf innewohnende Paradox aufmerksam. Eines der wichtigsten Prinzipien des Klosterlebens besteht darin, daß der Wille des anderen immer Vorrang hat vor dem eigenen Willen. (Vgl. SuW, S.168, 170, 194) Wenn aber nun dieser Andere jederzeit auch der Feind sein könnte, sind dessen Einflüsterungen letztlich ununterscheidbar von jenem anderen Willen, dem sich die Mönche willenlos unterwerfen sollen. Anhand welcher Kriterien also soll jemand, der sich lebenslang darin übt, das Urteilen anderen zu überlassen, und der für sich selbst nichts wollen darf, entscheiden, daß er es in diesem Fall mit einem Willen zu tun hat, dem er sich nicht beugen darf? Und ist er überhaupt noch dazu fähig, zu widerstehen und sich nicht zu unterwerfen?

Dienstag, 8. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit

Ich möchte vorweg festhalten, daß ich grundsätzlich keine Gefühle, zu denen ich alle körperlichen Regungen einschließlich sexuelle Bedürfnisse zähle, als schlecht qualifiziere. Es gibt für mich nur ein Kriterium, von dem ich erwarte, daß sich alle erwachsenen Menschen daran halten: zunächst und allererst niemand mit seinem Verhalten zu schaden und dann möglichst sich selbst nicht zu schaden. Verbunden mit diesem Kriterium ist die unbedingte Gleichheit der Partnerinnen und Partner, in welcher Konstellation auch immer sie zusammenfinden. Und genau an diesem Punkt stellt sich mir die Frage, inwiefern eine solche Konstellation zwischen Erwachsenen und Minderjährigen überhaupt möglich oder auch nur denkbar ist.

In diesem Blogpost will ich deshalb nochmal kurz auf die „Knabenliebe“ eingehen. Die „Frage der Lust“, schreibt Foucault, stellte sowohl im antiken Griechenland wie auch in der Kaiserzeit einen „schwierigen Punkt“ dar „für eine päderastische Praktik, die sich in der Form der Freundschaft, der Zuneigung und des wohltätigen Wirkens einer Seele auf eine andere reflektiert.“ (SuW 3, S.279)

Freundschaft und Zuneigung waren auch die mit dem pädagogischen Eros verbundenen Argumente von solchen Reformpädagogen wie Gustav Wyneken, dem Leiter des Landerziehungsheims Wickersdorf, im ersten Drittel des 20. Jhdts. gewesen, ein verurteilter Mißbrauchstäter, und Gerold Becker, 1972 bis 1985 Leiter der Odenwaldschule, ebenfalls ein Landerziehungsheim. Ihrer Argumentation diente die Praxis der Knabenliebe im antiken Griechenland als Vorlage.

Interessanterweise war aber schon zweitausend Jahre vor diesen Reformpädagogen die „Anklage der päderastischen Heuchelei“, wie Foucault schreibt, „traditionell“. (Vgl. SuW 3, S.280) Eine Heuchelei übrigens, die, wie ich ergänzen möchte, über Jahrhunderte hinweg Teil einer regelrechten Folklore innerhalb der katholischen Kirche gewesen ist, in der von den Gläubigen die pädophilen Neigungen einer zölibatären Priesterschaft augenzwinkernd zur Kenntnis genommen worden waren. Foucault wird noch deutlicher, wenn er vom „passive(n), also mehr oder weniger vergewaltigte(n) Knabe(n)“ spricht. (Vgl. SuW 3, S.281) So entlarvt Foucault implizit auch die Reformpädagogik des frühen 20. Jhdts., zumindest einen Teil der Reformpädagogik, als Heuchelei: „Der Liebhaber eines Knaben genießt und geht, er gibt nicht.“ (Vgl. SuW 3, S.281)

Sogar die antiken Griechen, die der „Knabenliebe“ überhaupt nicht ablehnend gegenüberstanden, hatten ein Gespür für die fehlende Gleichheit (Reziprozität) der sexuellen Praktiken. Sie glaubten, daß die „Liebe zu den Knaben, bei der die körperliche Lust (von der man annimmt, sie sei nicht reziprok) keinen günstigen Faktor innerhalb der Beziehung abzugeben“ vermochte. (Vgl. 3 SuW 3, S.236)

Allerdings war die fehlende Gleichheit, Symmetrie, Reziprozität, die die antiken Griechen beunruhigte, keine Gleichheit des Ranges, sondern eine der Komplementarität. Man muß sich nur vor Augen führen, daß es dabei um ein Geben und Nehmen geht ‒ der Knabe ,gibt‛ dem älteren Mann Lust, und der ältere Mann gibt dem Knaben ‚Weisheit‛ ‒, um zu verstehen, worin die Heuchelei des pädagogischen Eros besteht.

Ist es also einerseits bemerkenswert, daß sich die alten Griechen überhaupt Gedanken zur Symmetrie und Wechselseitigkeit in der Paarung von Männern und Knaben gemacht hatten, so ist es andererseits doch zugleich ein Zeichen für die Männerdominanz dieser Gesellschaft, daß sie nichts Problematisches darin sahen, daß in der Paarung zwischen Männern und Frauen eine ähnliche Ungleichheit herrschte wie zwischen erwachsenen Männern und Knaben. Bei den Frauen unterstellten sie eine Symmetrie im Sexuellen, obwohl die Männer in allen relevanten Lebensbereichen über die Frauen herrschten. Letztlich bestand diese Symmetrie eben auch nur, ähnlich wie in der Knabenliebe, in der Vorstellung von zueinander komplementären Naturen, die die Rollen der Beteiligten bis in den Geschlechtsakt hinein festlegten. Es handelt sich also um eine Symmetrie der Komplementarität.

In diesem Zusammenhang finden sich auch schon viele Elemente der Vertuschung von Mißbrauch, die auch im 19. und 20. Jhdt. in der Reformpädagogik unter dem Banner eines „pädagogischen Eros“ Verwendung fanden. (Vgl. SuW 3, 257ff.) Auch in der Kaiserzeit läßt Plutarch in seinem Buch „Amatorius“, einem Buch über die Liebe, seine Figur Daphnaias die passende Antwort darauf geben: Daphnaias bezeichnet die Knabenliebe als „Heuchelei der Päderasten“, die „sich gern den Anstrich eines Philosophen und Weisen“ geben, dabei aber nur auf eine Gelegenheit warten, die „insgeheim () begehrten Körper (zu) genießen“. (Vgl. SuW 3, S.258)

Solche ,Gelegenheiten‛ boten reformpädagogische Einrichtungen wie die von Hermann Lietz gegründeten Landerziehungsheime reichlich.

Montag, 7. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit

Wie schon im letzten Blogpost erwähnt, hat die Knabenliebe in der Kaiserzeit nicht mehr die Relevanz, die sie in der griechischen Antike gehabt hatte. An ihre Stelle tritt die Ehe, die jetzt zum zentralen Thema einer erotischen Diätetik wird. Dabei überraschten mich Foucaults Darstellungen zu Musonius Rufus (30-101/102), einem römischen Stoiker, und seine Kommentare zu einem Buch von Plutarch (45-125), einem griechischen Moralisten und Schriftsteller. Das Buch, um das es geht, ist „Amatorius“. Wann genau es erschienen ist, konnte ich nicht ermitteln; wahrscheinlich um 120 nach Beginn unserer Zeitrechnung.

Bevor ich hier, wenn auch nur kurz, auf Foucaults Kommentare eingehe, möchte ich nochmal daran erinnern, mit was für einer Gesellschaftsform wir es sowohl in der griechischen Antike wie auch in der Kaiserzeit zu tun haben. Wir haben es selbstverständlich mit einer patriarchal verfaßten Gesellschaft zu tun, und Foucault weist ausdrücklich auf die Dominanz einer auf eine kleine Gruppe von wohlhabenden Grundbesitzern beschränkten „Männermoral“ hin. (Vgl. SuW 2, S.63, 88ff., 110) Auch im dritten Band, in dem die Kaiserzeit im Zentrum steht, hebt Foucault den drastischen Phallogozentrismus dieser Männermoral hervor. Am Ende der hier zitierten Textstelle befindet sich ein Zitat im Zitat von Artemidor, einem griechischen Traumdeuter aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts:
„Das männliche Organ ‒ jenes, das man ,anankaîon nennt (das ‚notwendige‛ Organ, dessen Bedürfnisse uns zwingen und durch dessen Kraft die anderen zwingt) ‒ steht für ein ganzes Bündel an Beziehungen und Aktivitäten, die die Stellung des Individuums in der Polis und in der Welt bestimmen; dazu gehören die Familie, der Reichtum, die Redetätigkeit, der Stand, das politische Leben, die Freiheit und endlich sogar der Name des Individuums. ,Das männliche Glied gleicht den Eltern, weil es zum Samen in Beziehung steht, den Kindern, weil es deren Ursache ist; der Gattin und der Geliebten, weil es für die Freuden der Liebe geschaffen ist; den Brüdern und allen Blutsverwandten, weil vom Geschlechtsglied das verwandtschaftliche Verhältnis der ganzen Familie abhängt. ...‛“ (SuW 3, S.47f.)
Die Männermoral der griechischen Antike setzt sich also in der Kaiserzeit ungebrochen fort.

Um so bemerkenswerter ist es, daß Plutarch inmitten der Männergesellschaft der Kaiserzeit ein Buch wie „Amatorius“ schreibt, das den Ehebund auf das Fundament der Einwilligung („Einstimmung“) der Frau und auf der Gegenseitigkeit als Subjekt gründet: „Deutlich sieht man die Rolle, die dieser Einstimmung zugeschrieben wird: den Geschlechtsverkehr samt seinen beiden von der Natur bestimmten Polen von Aktivität und Passivität in die wechselseitige Beziehung des Wohlwollens einzubetten und die körperliche Lust in die Freundschaft einzurücken.“ (SuW 3, S.265)

Man sieht, daß auch im Ehebett die Rollenverteilung zwischen Frau und Mann nicht angetastet wird. Aber die Penetration verliert für den Ehebund ihre zentrale Funktion, wenn auch die Frau als „aktives Subjekt“ agieren kann: „Dieser Bund verdankt seinen Wert und seine Festigkeit dem Schema der doppelten Liebe, in dem jedes der beiden, vom Gesichtspunkt des Eros her, und zwar fortwährend, aktives Subjekt ist; kraft dieser Reziprozität im Akt des Liebens können die sexuellen Beziehungen in die Form des gegenseitigen Zartgefühls und der gegenseitigen Einwilligung eingehen.“ (SuW 3, S.268)

Foucault bezeichnet die Ehe als eine „Stilistik der Existenz zu zweit“ (vgl. SuW 3, S.196), um mit dem Begriff des ,Stils‛ die gewachsene Bedeutung der individuellen Gestaltung einer Beziehung zu zweit zu markieren. Der biologisch und gesellschaftlich bedeutsame Aspekt der Fortpflanzung tritt in den Hintergrund. Die Rollen- bzw. Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau bleibt aber unangetastet. Dennoch bezeichnet Foucault die eheförmige Existenz zu zweit, wie sie Plutarch in „Amatorius“ entwickelt, als „dual in ihrer Form, universal in ihrem Wert und spezifisch in ihrer Intensität“ (vgl. SuW, S.197), alles Prädikate, die ich auch für meine weit fundamentaler ansetzende Formel Ich = Du in Anspruch nehme. Dennoch verbinden sich bei Plutarch und mir völlig unterschiedliche Inhalte mit diesen Prädikaten.

Für den Gebrauch, den die Griechen von den genannten drei Prädikaten gemacht hatten, steht folgende Reihung: „Geschlechtsakt, Eheband, Nachwuchs, Familie, Stadt und darüber hinaus gar menschliche Gemeinschaft ‒ das ergibt eine Reihe, deren Glieder verbunden sind und in der die Menschenexistenz ihre rationale Form findet.“ (SuW 3, S.222)

Diese von Musonius stammende Reihung von ,natürlichen‛, also universellen Merkmalen der Ehe bestätigt letztlich die ungleiche Rollenverteilung. Problematisch ist auch die Vorstellung, daß zwei Menschen in der Ehe eine „neue Einheit“ bilden. (Vgl. SuW 3, S.211) Der Charakter dieser ,Einheit‛ schwankt zwischen der Vorstellung von „zwei() Stücken in einem Gerüst“ bis hin zu einer „vollständigen Verschmelzung“. (Vgl. SuW 3, S.212) Das „Paar“ wird also letztlich, wie Foucault schreibt, als eine „substantielle() Einheit“ verstanden. (Vgl. ebenda)

Eine freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen Zweien kann aber nur funktionieren, wenn sie die Differenz zwischen ihnen nicht aufhebt, sondern sie anerkennt. Differenz! Aber eben nicht im Sinne einer Rollenverteilung.