„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

An verschiedenen Stellen seines Buches nimmt Gabriel zur Aufgabe der Philosophie Stellung. Das hat etwas mit dem Sinn des Denkens zu tun, um den es in seinem Buch geht. Den Sinn des Denkens bestimmt Gabriel zweifach; als biologischen Sinn, wie „Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken“, und als Orientierung gebendes Denken, also im Sinne eines geistigen Sinns:
„Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird.“ (Gabriel 2018, S.18)
Gabriels Denkbegriff beinhaltet also eine Ethik, und dieselbe Ethik bestimmt auch seinen Philosophiebegriff:
„Eine wichtige Aufgabe des philosophischen Denkens besteht darin, uns mit der Wirklichkeit zu konfrontieren und die Scheinkonstruktionen zu entlarven, in denen wir uns einrichten, um unser Gewissen angesichts von Missständen zu beruhigen, die wir sehenden Auges nicht ertragen können. Das ist Teil der philosophischen Mission der Aufklärung, das heißt des ‚unvollendeten Projekts der Moderne‘, wie Jürgen Habermas (*1929) dies genannt hat.“ (Gabriel 2018, S.240)
Diese philosophische Aufgabenbestimmung entspricht Gabriels eigener Position als aufgeklärter Humanist. (Vgl. Gabriel, 2018, S.14f. und S.24) Auch sein spezieller philosophischer Standpunkt, der Neue Realismus, ist ethisch begründet:
„Der Neue Realismus, dessen theoretische Grundzüge in der mit diesem Buch abgeschlossenen Trilogie einer über die Universität hinausgehenden Öffentlichkeit vorgestellt wurden, ist mein Vorschlag zur Überwindung der fundamentalen Denkfehler, denen wir zu unserem gesellschaftlichen und menschlichen Schaden weiterhin verhaftet sind.“ (Gabriel 2018, S.15)
Immer wieder geht es also um Aufklärung und um Ideologiekritik. Aber das ist Gabriel zufolge nicht die einzige Aufgabe der Philosophie. Eine andere, mit der Ideologiekritik konkurrierende, wenn nicht sogar ihr widersprechende Aufgabe besteht im Nachdenken über das Nachdenken. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f. und S.141) Dieses selbstbezogene Denken hat durchaus einen ideologiekritischen Impuls, denn es geht ja um das Dingfestmachen und Ausmerzen von Denkfehlern. Ein methodisches Instrument des Nachdenkens über das Nachdenken bildet deshalb die Sprachkritik. (Vgl. Gabriel 2018, S.63 und S.198ff.) Auf dieser Ebene der Sprachkritik ist das Nachdenken über das Nachdenken mit der Ideologiekritik kompatibel.

Schwieriger wird es aber, wenn Gabriel dieses Nachdenken über das Nachdenken mit dem „reinen Denken“ gleichsetzt (vgl. Gabriel 2018, S.308) und ausdrücklich festhält, daß nur Gedanken Gegenstand der Philosophie sein können, nicht aber „Nichtgedanken“ (vgl. Gabriel 2018, S.306). – Was genau sind Nichtgedanken? Im Glossar heißt es tautologisch: „Gegenstände, die selber keine Gedanken sind.“ (Gabriel 2018, S.358) An anderer Stelle verbindet Gabriel den Begriff des Nichtgedankens mit dem phänomenologischen Grundbegriff der Intentionalität: unsere Denkakte richten sich auf etwas, „ohne dass wir allein aus dem Erleben dieser Akte darauf schließen können, warum sie sich gerade auf dasjenige richten, womit sie sich beschäftigen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304)

Diese dem Denker bzw. Philosophen „partiell unbekannt(en)“ intentionalen Akte bezeichnet Gabriel als „Nichtgedanken“, also letztlich alles subjektive Erleben. Einfach gesprochen: Nichtgedanken sind Gefühle, und Gabriel zufolge sind Gefühle kein Gegenstand der Philosophie!

An dieser Aufgabenbestimmung wird aber jeder Anspruch auf Aufklärung und Ideologiekritik zunichte. Wenn es um „Denkfehler“ geht, kann es nicht nur um Logik gehen. Gabriel geht an dieser Stelle sogar noch weiter und behauptet, daß die „Philosophie die allgemeinste Art und Weise“ sei, „über unser Nachdenken nachzudenken“:
„Sie ist noch allgemeiner als die Mathematik, die eine Sprach- und Denkform bildet, die den Natur und Technowissenschaften als Grundlage dient.“ (Gabriel 2018, S.12)
Wenn die Philosophie also tatsächlich noch allgemeiner als Mathematik sein soll und eine Form des reinen Denkens bildet, die darin besteht, daß sich „der Denkakt als solcher erfasst“ (vgl. Gabriel 2018, S.308), dann kann sie nicht mehr ideologiekritisch sein. Denn wer sich mit Denkfehlern auseinandersetzen will, muß sich immer auch mit unserem dunklen, intransparenten Begehren auseinandersetzen. Es gibt kein menschliches Denken, das im mathematischen Sinne rein wäre. Und es gibt kein menschliches Denken ohne Intentionalität!

Übrigens: Mathematik mag eine Denkform sein, wie es im letzten Zitat heißt. Aber eine Sprachform ist sie nicht. Darauf werde ich in einem der folgenden Blogposts zurückkommen.

Download

Montag, 1. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Markus Gabriels Buch „Der Sinn des Denkens“ (2018) bildet den dritten Band einer Trilogie. Die beiden vorangegangen Bände sind „Warum es die Welt nicht gibt“ (2013) und „Ich ist nicht Gehirn“ (2015). Gabriel zufolge sind die drei Bände weitgehend eigenständig, so daß die Kenntnis der jeweiligen anderen Bände nicht vorausgesetzt werden muß. (Vgl. Gabriel 2018, S.15) Allerdings kommt es aufgrund dieser Eigenständigkeit, so Gabriel, auch zu Wiederholungen, wodurch ich mich als Rezensent wiederum ermächtigt sehe, von diesen Wiederholungen auf die vorangegangenen Bände zurückschließen zu dürfen, ohne sie gelesen zu haben. Die Basis dieser Rezension bildet also ausschließlich der mir vorliegende dritte Band.

Gabriel hebt hervor, daß er sich um eine „allgemeinverständliche und zugängliche“ Ausdrucksweise bemüht hat (vgl. Gabriel 2018, S.11), und der Rezensent  kann bestätigen, daß ihm das überaus gelungen ist. Der Autor hat weitgehend auf philosophischen Fachjargon verzichtet, so daß auch der Laie in der Lage ist, sich eine eigene Meinung über die Thesen des Autors zu bilden und dessen Argumente zu prüfen. Dabei ist ihm, dem Laien, ein umfassendes Glossar am Ende des Buches behilflich. (Vgl. Gabriel 2018, S.350-363) Fettgedruckte Wörter im Verlauf des Haupttextes weisen auf die entsprechenden Definitionen im Glossar hin, so daß man als Leser dort niemals erfolglos nachschlägt. Der Autor unterstützt so das eigenständige Denken seiner Leserinnen und Leser, was auch der erklärte Zweck seines Buchprojekts ist.

Es lohnt sich also in jedem Fall, sich mit Gabriels Thesen auseinanderzusetzen, auch wenn man, wie der Rezensent, zwar mit einigen seiner Thesen, leider aber überhaupt nicht mit seinen Argumenten einverstanden ist. Wie groß aber der Widerspruch im Einzelfall ausfallen mag: am Ende der Lektüre ist man schlauer als vorher, was man nicht von vielen Büchern sagen kann.

Beginnen wir mit dem – aus Sicht des Rezensenten – Erfreulichen. Markus Gabriel bezeichnet sich als aufgeklärten Humanisten und wendet sich entschieden gegen den Antihumanismus der Post- und Transhumanisten. (Vgl. Gabriel 2018, S.14f.) ‚Aufgeklärt‘ ist Gabriels Humanismus, weil er durchaus um die oft hohlen Phrasen vieler klassischer Humanisten weiß, die nur weiße, wohlhabende Männer als Menschen akzeptierten und „Ausländer, Inländer, Freunde, Nachbarn, Frauen, Kinder, Männer, Komatöse oder Transsexuelle“ aus der Menschheit ausschlossen. (Vgl. Gabriel 2018, S.24) Das ist aber für Gabriel kein Grund, die humanen Ansprüche des Humanismusses über Bord zu werfen und das Ende der Menschheit zu prophezeihen, das im übrigen schneller kommen kann, als es die Post- und Transhumanisten eingestehen wollen, nämlich im ökologischen Sinne, weil dieser Planet an seine Grenzen gekommen ist.

Die Ausplünderung und Vergiftung der Erde ist den Post- und Transhumanisten herzlich egal, wenn sie von einem Ende des Menschen träumen: sie wollen den Menschen vielmehr durch eine künstliche Superintelligenz ersetzen, die dann auch schon Mittel und Wege finden wird, mit den ökologischen Problemen fertigzuwerden, sei es auch durch das letzte Mittel einer Auswanderung in den Weltraum, wobei es auch hier nicht mehr auf den Menschen ankommt; denn auswandern werden nicht wir, sondern unsere Nachkommen, die Maschinen.

Gabriel läßt keinen Zweifel daran, daß er sich mit seinem aufgeklärten Humanismus gegen diese Form der Menschenverachtung wendet:
„Das sich heute abzeichnende transhumanistische Menschenbild, das auf der Vorstellung aufbaut, dass unser gesamtes Leben und unsere Gesellschaft möglicherweise eine Art von Simulation ist, die wir nur überwinden können, indem wir unser Menschsein ganz am Modell des technologischen Fortschritts ausrichten, ist eine gefährliche Illusion. Diese Illusion müssen wir durchschauen, da wir ansonsten immer tiefer in die Zerstörung der Lebensbedingungen des Menschen verstrickt werden, die sich nicht zuletzt auf längst alarmierende Weise in Form der ökologischen Krise manifestiert.“ (Gabriel 2018, S.239)
Gabriel wirft den Post- und Transhumanisten einen Konstruktivismus vor, aufgrund dessen sie glauben, den Menschen als künstliche Intelligenz nachbauen zu können. Basis dieses Konstruktivismusses ist die These, daß die Intelligenz substratunabhängig sei, also Intelligenz nicht auf Fleisch und Blut angewiesen ist, sondern „im Wesentlichen“ auch aus „Silizium oder irgendeinem anderen nicht lebendigen Material“ bestehen könne. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) Gabriel hält diesen Konstruktivismus für falsch. (Gabriel 2018, S.64) Nur lebendige Organismen können Intelligenz hervorbringen, unter anderem deswegen, weil Intelligenz im wesentlichen eine Frage des Überlebens ist:
„Für Computerprogramme gibt es keine Fragen des Überlebens, weil sie nicht lebendig sind. ... eines ist sicher: Kein heute existierendes artifizielles System, das aus nicht lebendiger Materie gebaut wurde, hat Überlebensinteressen, weil keines dieser Systeme lebendig ist.“ (Gabriel 2018, S.193)
Der Rezensent ist dem Autor überaus dankbar für diese Stellungnahme, denn der überall grassierende, mal latente, mal explizite Antihumanismus ist zu einem Mainstream in der Wissenschaft geworden, die mit ihrem Naturalismus – wie Friedrich Kittler es einmal mit entwaffnender Offenheit ausdrückte – eifrig dabei ist, den (menschlichen) Geist aus den Wissenschaften auszutreiben. Gabriel bezeichnet diesen Naturalismus als „Pseudowissenschaft“, weil es keine vernünftigen, also rationalen Argumente für dessen materialistisches Weltbild gibt. (Vgl. Gabriel 2018, S.286) Tatsächlich, so Gabriel, hat der Naturalismus zu einem „Verfall der öffentlichen philosophischen Debattenkultur“ geführt, weil er „alles echte Wissen und alle(n) Fortschritt auf eine Kombination aus Naturwissenschaft und technologischer Beherrschung der Überlebensbedingungen des Menschen reduziert“ hat. (Vgl. Gabriel 2018, S.14)

Dennoch ist Gabriels eigene Argumentation insgesamt problematisch. Sie beruht insgesamt auf genau dem Informationsverarbeitungsmodell, das er den K.I.-Forschern vorwirft. Zwar lautet die erste Hauptthese seines Buches, „dass unser menschliches Denken ein Sinn ist, so wie unser Hören, Fühlen Schmecken, unser Gleichgewichtssinn und vieles mehr, was heute zum sensorischen System des Menschen zählt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) – Deshalb, so Gabriel, könne „unser Denken“ kein „Vorgang der Informationsverarbeitung“ sein. (Vgl. ebenda)

Die überaus erfreuliche, gegen die angebliche Substratunabhängigkeit der Intelligenz gerichtete These, daß die menschliche Intelligenz kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein könne, wird aber gleich wieder eingeschränkt: sie kann kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein, insofern dieser sich als Teil einer K.I. „im Wesentlichen in Silizium oder irgendeiner anderen nicht lebendigen Materie nachbauen lässt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19)

Auch an anderen Stellen schränkt Gabriel seine Distanzierung gegenüber dem Intelligenzbegriff der K.I.-Forscher ein. So heißt es z.B., daß Gedanken keine „Form der Informationsverarbeitung“ seien, „die man physikalisch messen könnte“. (Vgl. Gabriel 2018, S.31) Gemeint ist hier keineswegs, daß die Informationsverarbeitung prinzipiell ein meßbarer Prozeß sei und deshalb niemals mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, sondern daß sie nur insofern nicht mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, als sie im Sinne einer K.I. meßbar sei, Gedanken als Teil einer menschlichen Intelligenz hingegen nicht.

Gedanken bilden eine nicht meßbare Form der Informationsverarbeitung, zu der Gabriel zufolge auch alle biologischen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle zählen, wie eben Hören, Fühlen, Schmecken und unser Gleichgewichtssinn. Wir „empfangen“, so Gabriel, mittels unserer biologischen Sensoren bzw. ‚Sonden‘ „Daten“, ohne daß wir „diesen Vorgang“ „steuern“ bzw. die Daten bewußt „bearbeiten“. (Vgl. Gabriel 2018, S.39f.) Die menschliche Wahrnehmung ist also insgesamt ein Vorgang der Informationsverarbeitung, nur eben unterhalb der Bewußtseins- bzw. Intelligenzschwelle und zudem außerhalb jeglicher physikalischen Meßbarkeit. Das intuitive Moment des menschlichen Denkens, daß wir Gedanken nicht „produzieren“, sondern daß sie uns einfallen (vgl. Gabriel 2018, S.301), uns demnach unser eigenes Denken – anders als die Algorithmen einer K.I. – nicht vollkommen transparent ist (vgl. Gabriel 2018, S.305), basiert auf einer intransparenten Form der Informationsverarbeitung.

So kann es dann auch nicht mehr verwundern, wenn Gabriel die menschliche Intelligenz selbst als echte künstliche Intelligenz bezeichnet und sie von der künstlichen künstlichen Intelligenz, der K.K.I., unterscheidet. (Vgl. Gabriel, S.19f. und S.312) Die menschliche Intelligenz ist selber nur ein „Artefakt“, obwohl sie auf ihre biologische Basis angewiesen ist, also nicht substratunabhängig ist, denn letztlich ist sie ein Effekt der kulturellen Entwicklung und im besonderen von „Erziehung und Unterricht“. (Vgl. Gabriel 2018, S.311f.)

Damit zeigt sich zweierlei: Gabriels Anthropologie ist eine unreflektierte Abwehrreaktion auf den Post- und Transhumanismus, und er hat keinen Bildungsbegriff. Was seine Anthropologie betrifft, beruht sie auf der unverdrossenen Wiederholung der simplen Feststellung, daß der Mensch kein Tier ist und kein Tier sein will. (Vgl. Gabriel 2018: S.17, 23, 311, 318f.) Wer sich aber nur ein wenig mit der menschlichen Kulturgeschichte auskennt und sich mit Anthropologie und Ethnologie beschäftigt hat, weiß, daß die Menschen nie ein Problem damit gehabt haben, Tiere zu sein. Erst der platonische Idealismus und der zeitgenössische Antihumanismus verleugnet bzw. verachtet die animalische Herkunft des Menschen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem Post- und Transhumanismus wird deutlich, daß Gabriels anthropologische These zum „universalen Kern des Menschseins“ (Gabriel 2018, S.318) der Geringschätzung der Antihumanisten gegenüber der ‚animalischen‘, also biologischen Herkunft des Menschen entspricht, die im Falle des Cyborgs nur noch ein verbesserungsbedürftiges Moment neben dem technischen bildet:
„Beide Bewegungen (Post- und Transhumanisten – DZ) bauen auf der Verabschiedung des Menschen und der Begrüßung des Cyborg auf, der aus animalisch-menschlichen und technischen Anteilen besteht.“ (Gabriel 2018, S.23)
Gabriels anthropologische These beruht also vor allem auf der großen Nähe seines eigenen Ansatzes zur Körperfeindlichkeit des Post- und Transhumanisten auf der Basis eines gemeinsamen Informationsverarbeitungsmodells, das Gedanken insgesamt mit Informationen gleichsetzt. (Vgl. Gabriel 2018, S.84f. und S.133)

Was nun Gabriels Thesen zu „Erziehung und Unterricht“ betrifft, so fällt hier vor allem das völlige Fehlen jedes Bildungsbegriffs auf. Die ‚Intelligenz‘ des Menschen ist eben deshalb kein Artefakt, weil Erziehung und Unterricht, anders als Gabriel meint, eben nicht aus der Programmierung mit Algorithmen und der Optimierung von Mustererkennung bestehen:
„Durch Erziehung und Unterricht programmieren wir unsere Nachfahren und übermitteln ihnen diejenigen Algorithmen, die wir erfunden haben, um unsere Mustererkennung zu optimieren.“ (Gabriel 2018, S.311)
Erziehung und Unterricht ermöglichen einen Bildungsprozeß, also einen Prozeß der Bildung eines individuellen Mensch-Welt-Verhältnisses. Aber die Welt gibt es ja nicht, wie Gabriel meint. (Vgl. Gabriel 2018, S.12, 64, 222) Aber die Wahrheit, die gibt es seltsamerweise schon. (Vgl. Gabriel 2018, S.15, 28, 70ff.) Also: die Welt gibt es nicht, aber die Wahrheit, die gibt es.

Es gibt Aussagen, an deren Schwachsinnigkeit sich auch dann nichts ändert, wenn sie auf intelligente Weise begründet werden. Ich werde darauf in einem der folgenden Blogposts noch zurückkommen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, daß es, wo es keine Welt gibt, auch kein individuelles Mensch-Welt-Verhältnis geben kann und deshalb auch keine Bildung.

Das Individuum kommt in Gabriels anthropologischem Modell nicht vor, das nur zwei Entwicklungsebenen kennt: die Biologie und die Kultur. Da sich Gabriel wie seine Gegner durchgehend des Informationsverarbeitungsmodells bedient und sich nur hinsichtlich der Problematik der Substratunabhängigkeit von ihnen unterscheidet, steht der Intelligenzbegriff im Zentrum seines „Nachdenken(s) über das Nachdenken“ und mit dem Intelligenzbegriff die formale Logik. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f.) Nur gelegentlich kommt Gabriel auch auf das „phänomenale Bewusstsein“ zu sprechen, in dem es um das „subjektive Erleben“ geht und damit um jene „Nichtgedanken“, von denen Gabriel meint, daß sich die Philosophie mit ihnen nicht beschäftigen sollte. (Vgl. Gabriel, S.218 und S.306)

An den Begriff der künstlichen Intelligenz hat man sich inzwischen gewöhnt. Hätte Gabriel sich in seinem Buch über den Sinn des Denkens weniger mit der menschlichen ‚Intelligenz‘ befaßt und stattdessen mehr mit dem menschlichen ‚Bewußtsein‘, hätte er sich wohl kaum zu der im Vergleich zur im derzeitigen Sprachgebrauch geläufigeren These einer künstlichen Intelligenz immer noch seltsam anmutenden These eines künstlichen Bewußtseins verstiegen.

PS (19.11.2020): Erst jetzt wird mir klar, daß Gabriel mit seiner Feststellung, daß es die Welt nicht gibt, an Wittgensteins „Tractatus“ anschließt. Wittgensteins Satz, daß die Welt alles das ist, was der Fall ist, bedeutet in der Logik der Mengenlehre, daß die Welt selbst kein ‚Fall‘ ist, denn sie kann nicht selbst Teil der Menge sein, die sie enthält. Wenn aber die Welt selbst nicht der Fall ist, bedeutet das, daß es sie nicht gibt.
Allerdings gibt es ein bildungsphilosophisches Verständnis von ‚Welt‘, das eine andere Logik beinhaltet als die Mengenlehre. Gemäß diesem bildungsphilosophischen Verständnis hat der Mensch eine Welt. Ein weltloses menschliches Subjekt ist schlicht nicht vorstellbar. Wer also gehaltvolle Aussagen über den Menschen machen will, muß Aussagen über sein Weltverhältnis machen.
In diesem Sinne ‚gibt‘ es also eine Welt, so wie es den Menschen gibt. Das ist logisch; nämlich anthropo-logisch.

Download

Sonntag, 2. Juni 2019

Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018

1. Fragmentierte Geschichtlichkeit
2. Traumata und Anachronismen

Christopher Clark fragt sich, ob es auf kollektiver Ebene mit der „gewaltsame(n) Zerstörung“ von „Machtstrukturen“ verbundene Traumata gibt, aus denen sich, ähnlich wie die zwanghaften Wiederholungsmuster auf individueller Ebene, „Narrative um eine rekursive und wiederholende ‚Zeitlichkeit des Traumas‘ herum“ bilden können. (Vgl. Clark 2018, S.235) Entsprechende Traumata in der deutschen Geschichte macht Clark an den in seinem Buch analysierten Epochen fest:
„Die Herrschaft des Kurfürsten war eine Flucht nach vorn, weg vom Chaos des Dreißigjährigen Krieges. Das Trachten Friedrichs II. nach Stasis basierte zum Teil auf seiner Sexualität und seiner Kindheitserfahrung. Bismarcks bipolare Geschichtlichkeit stützte sich auf seine ambivalente Wahrnehmung der Revolutionen von 1848. Und die tausendjährige Zeitlichkeit des Nationalsozialismus stand für eine einzigartige Zeitlichkeit des ‚Schreckens der Geschichte‘, den die Krise von 1918/19 ausgelöst und den Mircea Eliade voller Mitgefühl diagnostiziert hatte.“ (Clark 2018, S.236f.)
Ähnliche traumatisierende Geschichtsdaten findet Clark auch in der französischen Geschichte: 1815, 1871, 1914, 1940, wo wir es ausschließlich mit verlorenen Kriegen oder mit dem Erleiden von Angriffskriegen zu tun haben. (Vgl. Clark 2018, S.235) Bei den deutschen Geschichtsdaten handelt sich allerdings nur zur Hälfte um Kriege. Im Falle Friedrichs II. haben wir es nicht mit einem kollektiven, sondern mit einem individuellen Trauma zu tun. Und im Falle der 1848er Revolution stellt sich die Frage, ob man sie wirklich als Trauma bezeichnen kann. Schließlich haben wir es hier mit einem ersten zwar gescheiterten Experiment in Sachen Demokratie zu tun, das aber dennoch vor allem als positives Geschichtszeichen gewertet werden sollte.

Unbestreitbar ist jedoch, daß wir es bei dem Ersten Weltkrieg mit einer kulturellen Erschütterung epochalen Ausmaßes zu tun haben. Viele deutsche Intellektuelle, Wissenschaftler und Philosophen wandten sich 1918/19 von der dominanten aufgeklärten Tradition einer kontinuierlichen Fortschrittserzählung Hegelscher Prägung ab. Und hier haben wir tatsächlich eine Parallele zu unserer heutigen Gegenwart, wo auch wieder die Zahl der Rechtsintellektuellen ansteigt, die sich von den nach 1945 restaurierten humanistischen Werten verabschieden und auf verschiedene Weise ein Ende des Menschen verkünden, ausgerechnet zu einer Zeit, wo Geologen vom „Anthropozän“ sprechen, also von geologische Zeiträume umfassenden, den ganzen Planeten prägenden Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur.

Zwei von Clark angesprochene Momente sind es, die den Rezensenten aufmerken lassen: einmal der apokalyptische Ton, der Verkündigungscharakter dieser, das Wiederaufleben rechtsextremer Strömungen unterstützenden Zeitgenossenschaft, und zum zweiten der Fokus auf das kulturelle ‚Erbe‘, also auf Trümmerlandschaften; in unserem Fall auf den Müll, das atomare und chemische Gift mit seinen gigantischen Dimensionen.

Schon Hitler schwärmte vor allem von den römischen Ruinen, die die Zeit überdauerten, und wollte sogar das nationalsozialistische Deutschland mit solchen kolossalen Bauwerken ausstatten, nicht etwa, um das Leben der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu bereichern und zu beglücken, sondern um für eine Zeit, in der es keine Deutschen mehr geben würde, Erinnerungszeichen zu setzen:
„‚Die Architektur‘, merkt Eric Michaud in einer Formulierung an, die trefflich das Befremdliche dieser Vision einfängt, ‚sollte das deutsche Volk zu einem gemeinsamen Schicksal treiben, indem sie seine wahre Größe in Grabmonumenten enthüllte.‘()“ (Vgl. Clark 2018, S.224)
Zu dieser Vorliebe für eine Friedhofsarchitektur gehörte auch Hitlers Neigung zu einer Rhetorik, in der Endzeitszenarien beschworen wurden:
„Die traditionelle Vorliebe von Prophezeiungen für finale Zustände, für den Entwurf und die Verwirklichung von Endzeitszenarien prägte auch den Wortschatz des nationalsozialistischen Kampf- und Vernichtungsapparats: ‚Endkampf‘, ‚Endlösung‘, ‚Endsieg‘.“ (Clark 2018, S.224)
Hier wird noch einmal deutlich, wie ähnlich sich Heideggers Philosophie und Hitlers Politik sind. Nicht umsonst beinhaltet der Gedanke des „Seins zum Tode“ eine Zeitlichkeit, die eine erfüllte Lebendigkeit auf den Tod hin orientiert und sich dabei weigert, überhaupt noch vom ‚Menschen‘ zu sprechen. Und auch Heidegger vermied das Argument und die Analyse als Instrumente eines aufklärerischen Diskurses und bevorzugte die Prophetie als Mittel der Manipulation. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.10.2017)

Dennoch kommt in dieser rechtsintellektuellen bis faschistoiden Konsequenz eine antiaufklärerische Zeitströmung zum Ausdruck, die zugleich eine kapitalismus- und technologiekritische Einsicht beinhaltet, die selbst nicht einfach mit einem amoralischen Antihumanismus gleichgesetzt werden darf. Anachronismus ist nicht gleich Anachronismus. Es gibt einerseits einen Anachronismus, der den Menschen wieder in sein Recht zu setzen versucht; und es gibt andererseits eine als Post- bzw. Transhumanismus auftretende Postmoderne, die sich als fortschrittliche Wissenschaft verkleidet, aber nicht weniger manipulativ ist als der grassierende Rechtspopulismus. Epochenbegriffe wie ‚Aufklärung‘ und ‚Moderne‘ machen deshalb zunehmend weniger Sinn:
„Mit Blick auf die Fülle der parallelen Geschichtlichkeiten (im Westen erleichtert durch die reduzierte Rolle des Staates bei der Konturierung der vorherrschenden Temporalitäten) und auf die beschleunigte Zersplitterung und den Wechsel der Erwartungshorizonte hat Jenny Andersson behauptet, dass die ‚großen Veränderungen‘, die Koselleck für die neuzeitliche Epoche umriss, nach der Zäsur von 1945 ‚nicht viel Sinn ergeben‘.() Das eigentlich Erstaunliche an dieser Epoche ist jedoch mit Sicherheit die Langlebigkeit des modernistischen Paradigmas als solchem. Die Idee, dass Geschichte sich immer noch in ein lineares Narrativ der ‚Modernisierung‘ einbetten ließ, überlebte die Enttäuschung über die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Modernisierung.“ (Clark 2018, S.240)
So findet sich eine fortschrittskritische Einstellung nicht nur bei Alt- und Neonazis, sondern eben auch bei des Faschismusses unverdächtigen Denkern wie Fernand Braudel (1902-1985) und Mahatma Gandhi (1869-1948). Der Braudelsche Begriff der longue durée, der langen Dauer, „war als Gegensatz zu einer ereignisbasierten oder politischen Geschichte gedacht, die eine kurze Zeitspanne bevorzugt“. Sie bildete eine „Zuflucht vor dem unruhigen Treiben der Geschichte“. (Vgl. Clark 2018, S.235) Dieser Gedanke einer langen Dauer bildet für unsere heutige innovationssüchtige Zeit natürlich eine Provokation.

Zu Gandhi schreibt Clark:
„Mahatma Gandhis Hind Swaraj oder indische Selbstregierung, das er 1910 verfasste, um der terroristischen Politik radikaler Exil-Inder entgegenzutreten, zeigt eine ähnliche Verknüpfung. In diesem Schlüsseltext  verwirft Gandhi die Geschichte als bloßes ‚Dokument der Kriege in dieser Welt‘, in der kein Platz für eine generationsübergreifende Kontinuität der Seelenkraft sein könne. Geschichte war dieser Lesart zufolge ‚ein Dokument vielfältiger Unterbrechungen des gleichmäßigen Wirkens der Macht der Liebe‘ und damit auch des ‚Verlaufs der Natur‘. Sie war das Instrument, mit dem die Engländer versuchten, den Indern dauerhaft ihre eigene kulturelle Unterlegenheit vor Augen zu führen.()“ (Clark 2018, S.235f.)
Clark zieht deshalb ein für den Rezensenten, der sich seines eigenen Anachronismusses durchaus bewußt ist, erfreuliches Fazit:
„Das soll keineswegs heißen, dass der gewaltlose Antinationalist Gandhi oder überzeugte Demokrat Fernand Braudel in die Nähe der NS-Bewegung gerückt werden müssten!“ (Clark 2018, S.236)
Dieses Fazit gilt für anachronistische Tendenzen weltweit, für Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, „der nur Katastrophen erkennt, wo wir das Narrativ der Geschichte sich entfalten sehen“, wie auch für die „gewaltigen Unruhen der großen Revolution des 19. Jahrhunderts“ in China, die „eine überstürzte Hinwendung zur ‚modernen‘ linearen Zeit nach westlichem Muster“ auslösten. (Vgl. Clark 2018, S.236f.) Die jeweiligen konkurrierenden Geschichtlichkeitsregime als solche lassen sich nicht in ein binäres Schema von ‚gut‘ oder ‚böse‘ pressen. In der „Pluralität gleichzeitig bestehender Zeitlandschaften“ (Clark 2018, S.227) sollte immer die Frage nach dem Menschen im Vordergrund stehen. Denn ob wir nun den Humanismus selbst als ein weiteres Geschichtlichkeitsregime denunzieren oder ob er im Gegenteil technologiekritisch gewendet werden muß, wie ich es in diesem Blog vertrete: letztlich geht es nicht um eine ideologische Position, um einen weiteren ‚-ismus‘, sondern um die Zukunft des Menschen.

Download

Samstag, 1. Juni 2019

Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018

1. Fragmentierte Geschichtlichkeit
2. Traumata und Anachronismen

Christopher Clark, der Autor von „Die Schlafwandler“ (2012/2013), Professor für Neuere Geschichte am St. Catherine’s College in Cambridge, gibt seinem neuen Buch, „Von Zeit und Macht“ (2018), einen Titel, der nicht von ungefähr an Heideggers „Sein und Zeit“ erinnert, obwohl dieser nur an zwei Stellen kurz erwähnt wird und insgesamt keine große Rolle in diesem Buch spielt. (Vgl. Clark 2018, S.13 und S.17) Immerhin führt Clark einen der für sein Buch zentralen Begriffe, die „Zeitlichkeit“, auf Heidegger zurück. (Vgl. Clark 2018, S.17)

Clarks Verweis auf Heidegger beinhaltet zumindest das Eingeständnis, daß wir es hier trotz des machtpolitischen Fokusses auf zwei Monarchen, einen Staatsmann und eine gleichermaßen staats- wie menschenfeindliche Partei mit einem phänomenologischen Thema zu tun haben, nämlich mit „Veränderungsprozesse(n) ohne Akteur“ (vgl. Clark 2018, S.232); genauer: mit einer zwischen mal mehr pragmatischen, mal mehr reflektierten Selbstverortungen im „Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ und einem ungewissen, eher lebensweltlichen, intuitiv erfaßten „Zeitgefühl“ changierenden „Chronopolitik“ (vgl. Clark 2018, S.9 und S.25).

An den vier Machtzentren, mit denen sich Christopher Clark befaßt, der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688), Friedrich II. (1712-1786), Otto von Bismarck (1815-1898) und die NSDAP, will er eine „ganz spezifische temporale Signatur“ sichtbar machen. (Vgl. Clark 2018, S.12) Diese ‚Signaturen‘ ergeben sich aus den unterschiedlichen Verschiebungen in den für das ganze Buch zentralen Begriffen der Geschichtlichkeit, der Zeitlichkeit und des Staates in einem rund 300 Jahre umfassenden Zeitraum:
„Zu den vielleicht ungewöhnlichen Merkmalen dieses Buches zählt, dass es eine langfristige Betrachtung bietet, indem es der gleichen angestammten territorialen Einheit (Brandenburg-Preußen) über mehrere aufeinanderfolgende politische Inkarnationen folgt.“ (Clark 2018, S.23)
Mit „Geschichtlichkeit“ meint Clark „keineswegs eine Lehre oder Theorie über den Sinn der Geschichtsschreibung, geschweige denn eine bestimmte Schule der historiographischen Praxis“, sondern eine spezifische aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geformte „Zeitlandschaft“, eine spezifische „Konfiguration“. (Vgl. Clark 2018, S.9) Von solchen Konfigurationen sind kulturelle Epochen und politische Regime geprägt, die mal mehr der Vergangenheit, mal mehr der Zukunft zugewandt sind oder die sich in einer mal dynamischen, mal statischen oder in einer heillos zerrissenen Gegenwart zurechtfinden müssen. Unter „Zeitlichkeit“ wiederum versteht Clark „etwas, das weniger reflektiert und spontaner ist: ein Empfinden des Fortgangs der Zeit“ (vgl. Clark 2018, S.14), also die primär phänomenologische Dimension eines subjektiven Zeitbewußtseins.

Für mich, den Rezensenten, ermöglicht Christopher Clark mit seinem Buch, den eigenen Anachronismus besser zu verstehen. Dazu gehören auch die Gefahren dieses Anachronismusses, wie sie vor allem an der nationalsozialistischen Ablehnung von Staat und Fortschritt deutlich werden. Darauf werde ich im folgenden Blogpost noch zu sprechen kommen.

Der Große Kurfürst
Ein großer Teil seines Lebens und die ersten acht Jahre seiner Regentschaft (1640-1688) waren vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) geprägt. Wegen dieses Krieges verbrachte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm einige dieser acht Jahre in Preußen, denn Berlin war nicht sicher genug. Es ist also verständlich, daß die Bewahrung des Westfälischen Friedens (1648) für ihn zur Staatsräson gehörte:
„Er war ein Mann, der sich an Fragen der Macht und Sicherheit orientierte, der nicht zu spekulativen Überlegungen oder zur Erörterung von Grundsatzfragen neigte.() Und ‚Geschichte‘ im heutigen Sinn, ein Abstraktum im Kollektivsingular, das einen allumfassenden, vielschichtigen Transformationsprozess bezeichnet, kannte man damals noch gar nicht. Das Wort hatte noch nicht den Prozess der Erweiterung und ‚Verzeitlichung‘ durchgemacht, der es zu einem der prägenden Begriffe der Moderne machen sollte.()“ (Clark 2018, S.31)
Obwohl der Große Kurfürst also noch keinen eigenen Begriff von Geschichte im heutigen Sinne hatte, hatte er ein sehr genaues und sensibles Gespür für die ständige Gefährdung des status quo, zumal Brandenburg-Preußen noch über keine ständige Armee verfügte und er sich im andauernden Kampf mit den ‚Ständen‘, den Städten und dem Landadel, um Gelder für die Aushebung von Streitkräften befand. Diese Stände waren Vertreter der alten Vorkriegsordnung, denen es vor allem um die Bewahrung ihrer althergebrachten Privilegien ging, während es dem Kurfürsten vor allem darum ging, die nach wie vor unsichere politische Lage zu sondieren und auf militärische Gefahren von gleichermaßen verbündeten wie gegnerischen Mächten sowohl militärisch als auch mit einer flexiblen, wechselhaften Bündnispolitik zu reagieren:
„... der Kurfürst und sein Regime besaßen, wie dieses Kapitel ausführt, etwas Intuitiveres, eine höchst eigenständige und dynamische Form der Geschichtlichkeit, die in dem Gespür dafür wurzelte, dass sich der monarchische Staat an einem exponierten Ort an der Schwelle zwischen einer katastrophalen Vergangenheit und einer Zukunft voller Gefahren befand.“ (Clark 2018, S.31)
Das wichtigste Argument im Kampf gegen die Stände war die „necessitas“, die Notwendigkeit der ständigen Gefahrenabwehr:
„Als der Begriff ‚necessitas‘ radikaler angewendet wurde und sich von einem spontanen Argument für temporäre Eingriffe zu einer allgemeinen Rechtfertigung für dauerhafte Instrumente der Zentralgewalt wandelte (ein neues und umfassenderes Steuerregime, ein stehendes Heer und so weiter), wurde er zugleich zeitlich erweitert. Er bezog sich immer weniger auf eine klare und akute Gefahr und immer stärker auf eine dauerhafte, vorausgreifende Haltung, einen Sicherheitsapparat, der auf künftige Eventualfälle ausgerichtet war.“ (Clark 2018, S.52)
Für den Großen Kurfürsten bildete die ‚Geschichte‘ ein offenes, durch die Vergangenheit nicht vorherbestimmtes Feld von Entscheidungsnotwendigkeiten, aus denen sich wiederum neue Entscheidungsnotwendigkeiten ergaben, so daß die politische Entwicklung auf längere Sicht unvorhersehbar blieb:
„Was den Leser (des Hofgeschichtsschreibers Samuel von Pufendorf (1632-1694) – DZ) an seiner Behandlung internationaler Beziehungen erstaunt, ist die Offenheit der Zwickmühlen, in denen die Staaten steckten. Wie die misslichen Lagen am Ende ausgehen, ist deshalb offen, weil sich das künftige Verhalten anderer Staaten in dem System niemals mit Bestimmtheit vorhersagen lässt. ... Die Interaktion zwischen Mächten im gleichen synchronen Zeitrahmen war exakt die Antithese zu Tradition und Kontinuität, weil die Interessen von Staaten und die dadurch implizierten möglichen Aktionen sich unablässig veränderten. ... die Gesetze, die dieses ‚System‘ lenkten, beschrieben lediglich Prozesse, sie sagten nicht deren Ausgang voraus.“ (Clark 2018, S.75f.)
Unter dem Großen Kurfürsten wurde das kleine, geographisch zerrissene Brandenburg-Preußen zu einer „Zeitmaschine“, „ein Apparat, der Geschichte geschehen“ ließ und die europäische Landschaft nachhaltig umgestaltete. (Vgl. Clark 2018, S.77) Am Ende seiner Regentschaft gab es ein stehendes Heer, und Brandenburg-Preußen war zu einer europäischen Macht geworden, mit der die anderen Großmächte rechnen mußten. Er hatte die an der Vergangenheit orientierten Stände entmachtet und ihrer Privilegien beraubt und sie durch einen zentral organisierten Staat ersetzt.

Friedrich II.
Friedrich II. war der Urgroßenkel des Großen Kurfürsten. Sein Großvater, also der Sohn des Großen Kurfürsten, wurde 1701 zum König gekrönt. Friedrich II. erbte ein konsolidiertes brandenburgisch-preußisches Reich, das als europäische Großmacht galt. Mit seinem Vater hatte Friedrich II aber weniger Glück. Er durchlebte unter seinem „brutalen und sadistischen Vater“ „eine traumatische Kindheit und Jugend“ – der Vater ließ seinen Jugendfreund, der ihm bei einem gescheiterten Fluchtversuch aus dem Einflußbereich seines Vater geholfen hatte, hinrichten –, was ein dauerhaft gebrochenes Verhältnis zur Macht hinterließ. (Vgl. Clark 2018, S.128) Er lehnte es ab, „zusammen mit seinen männlichen Vorfahren bestattet zu werden“, und er weigerte sich, mit der von seinem Vater bestimmten Ehefrau einen dynastischen Nachfolger zu zeugen. (Vgl. ebenda)

Er sah sich auch nicht als zentrale Autorität eines Staates, den er in seiner Person hätte verkörpern sollen, sondern er konzentrierte die Macht auf seine Person selbst:
„Im Gegensatz zum Großen Kurfürsten, der vor allem von seiner (staatlichen – DZ) ‚Souveränität‘ gesprochen hatte, verwies Friedrich häufig auf ‚den Staat‘, den er als transzendente Abstraktion heraufbeschwor; dabei erlebte seine Herrschaft in Wirklichkeit eine dezidierte Personalisierung der Macht.“ (Clark 2018, S.88)
Friedrich II. identifizierte sich mit der Macht, aber nicht mit dem Staat, was, wie Clark schreibt, „auch im zeitlichen Gefüge seiner Herrschaft“ Spuren hinterließ. Denn mit der „rhetorische(n) Selbstdistanzierung von den Strukturen des Staates“ (vgl. Clark 2018, S.88) distanzierte er sich auch von der Vorstellung einer dynamischen, zukunftsoffenen Geschichtlichkeit. Obwohl Friedrich II. zwei Kriege führte und die geopolitische Landschaft Mittel- und Osteuropas energisch und tatkräftig veränderte, zog er sich selbst in eine statische Welt zurück, hielt an künstlerischen Vorlieben seiner Jugend fest und arbeitete an historischen Werken, in denen er das antike Rom mit der Gegenwart verknüpfte, ohne die über tausendjährige Geschichte und ihre historischen Prozesse angemessen zu würdigen:
„Diese intensiv empfundene Wahlverwandtschaft mit dem alten Rom implizierte eine Geschichtlichkeit, die analog und rekursiv statt linear und entwicklungsorientiert war. Türen öffneten sich zwischen der Gegenwart und einer alten Vergangenheit; die Zeit war um die Analogie zwischen zwei verschiedenen Epochen herum gefältet; die Tyrannei der jüngsten Vergangenheit über die zeitgenössische Erfahrung, die für Pufendorf und den Großen Kurfürsten so axiomatisch gewesen war, wurde relativiert, wenn nicht ganz aufgehoben.“ (Clark 2018, S.123)
An der Zukunft interessierte Friedrich II. nur, wie er sich seinen Nachruhm sichern konnte. Er wollte das keiner künftigen Geschichtsschreibung überlassen, sondern lieber selbst für eine angemessene Deutung seines politischen und geistigen Wirkens sorgen:
„Das Trachten nach Ruhm, so erklärte er in einer 1734 komponierten ‚Ode auf den Ruhm‘, sei das Hauptmotiv der großen Helden des Altertums gewesen. ... Ein auffälliges Merkmal dieser Fantasien über den Ruhm, die den König sein Leben lang begleiteten, ist der Umstand, dass sie sich allein auf die Person des Königs selbst konzentrierten. Mit der Anweisung, seinen Leichnam nach antiker Art zu verbrennen und danach im Garten seiner ‚Villa‘ zu begraben, distanzierte sich Friedrich von der herkömmlichen Praxis der europäischen dynastischen Repräsentation seiner Epoche, die tendenziell nicht die Individualität des Monarchen in den Vordergrund rückte, sondern ihn oder sie in die Abfolge der Generationen einbettete. ... Auch in dieser Hinsicht wehrte sich Friedrich gegen die Eingliederung in ein Narrativ, das größer als er selbst war, und suchte stattdessen Zuflucht im zeitlosen Ansehen, das die Nachwelt einer einzigartigen Persönlichkeit schuldete.“ (Clark 2018, S.124f.)
Friedrich II. steht, so Clark, für eine „neoklassische Zeitlichkeit des Status quo“. Für ihn ist der Staat „nicht mehr Motor des historischen Wandels, sondern eine historisch unspezifische Tatsache und logische Notwendigkeit“. An die Stelle eines zukunftsoffenen, linearen Geschichtsprozesses treten „Zeitlosigkeit“ und „rekursive Wiederholung“. (Vgl. Clark 2018, S.10)

Otto von Bismarck
Ähnlich wie sich Friedrich II als Monarch vom Staat distanzierte und so eine souveräne Position abseits vom Staat beanspruchte, nutzte Bismarck sein Amt als direkt dem König verantwortlicher Ministerpräsident und dann als Reichskanzler für eine randständige Positionierung zum Staat:
„... er stand über dem Geschehen und strahlte eine Autorität aus, die von etwas Unveränderlichem ausging: der Macht der Krone. Für Bismarck verhinderte der monarchische Staat mit seinen beständigen Strukturen, dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete, und gewährleistete damit die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens.“ (Clark 2018, S.136)
Zugleich erkannte Bismarck die durch die Revolution von 1848 eingetretenen Veränderungen im Verhältnis zwischen der Monarchie auf der einen Seite und dem Staat und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite unbedingt an. Zwei Metaphern, deren sich Bismarck gerne bediente, bringen diese gleichzeitige Distanzierung und Anerkennung anschaulich zum Ausdruck. Geschichtliche Ereignisse wie die Revolution von 1848 brechen wie eine Schicksalsgewalt über eine Gesellschaft herein. Hier ist der Staatsmann, so die erste Metapher, nur ein „Steuermann im Strom der Zeit“. (Vgl. Clark 2018, S.147) Er kann den Lauf des Stromes nicht verändern, nur auf ihm navigieren. Der Steuermann befindet sich also nicht auf dem sicheren Ufer, sondern mitten auf dem Strom. Diese Einsicht schreibt Bismarck nicht nur sich, sondern auch den anderen Vertretern der alten Ordnung zu:
„Man sucht daher die bisherige Ritterschaft als solche Leute zu bezeichnen, die den alten Zustand erhalten und zurückführen wollen, während die Rittergutsbesitzer wie jeder andre vernünftige Mensch sich selbst sagen, dass es unsinnig und unmöglich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu wollen.“ (Zitiert nach Clark 2018, S.147)
Die andere Metapher beschreibt Bismarcks Position als Reichskanzler an der Seite des Königs, der die monarchische Struktur wie ein Schachbrett nutzt, auf dem er die verschiedenen, einander widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen gegeneinander ausspielen kann. (Vgl. Clark 2018, S.160) Bismarck sah sich also selbst nicht als Teil dieser gesellschaftlichen Interessengruppen, sondern als Schachspieler, der sich der Schachfiguren bedient, ohne sich mit ihnen zu identifizieren:
„Bismarck distanzierte sich selbstbewusst von den ideologischen Vorgaben jeder Interessengruppe – kein Schachspieler, der für eine bestimmte Figur eine besondere Zuneigung empfinde, ... könne darauf hoffen, erfolgreich Schach zu spielen.()“ (Clark 2018, S.156f.)
Bismarck übernahm zwar im Großen und Ganzen den aufklärerischen Glauben seiner Zeit an die Geschichte als einem linearen, fortschrittlichen Entwicklungsprozeß, nahm aber den Monarchismus davon aus. Im Einklang mit seinem christlichen Glauben verhinderte Bismarcks Überzeugung zufolge der Monarchismus, „dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete“, und gewährleistete auf diese Weise „die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens“. (Vgl. Clark 2018, S.177 und S.136)

Dieser Verbindung von Staat und Monarchismus entsprach eine quasi-religiöse Überhöhung der Geschichte als Ganzes, wie sie paradigmatisch von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) auf den philosophischen Begriff gebracht worden war. Monarchie, Staat und Geschichte verschmolzen zu einem Amalgam, in dem zunächst Brandenburg-Preußen und dann das deutsche Kaiserreich als Krönung und Erfüllung der Menschheitsgeschichte wahrgenommen wurden:
„Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts war geprägt von einem starken Gefühl der Entwicklung, häufig als Weg durch eine Abfolge von ‚Stufen‘ oder ‚Stadien‘ konzipiert, die mit Heranwachsen, Reife und Vergreisung den Phasen des menschlichen Lebens ähnelten. ... Für Hegel, den Bismarck nach eigener Aussage als junger Mann gelesen, aber nicht verstanden hat, besaß Geschichte in diesem unergründlich tiefen Sinn eine fast schon theologische Würde, da sie die Zeichen der fortschreitenden Entfaltung der Vernunft oder des ‚Geistes‘ durch die Zeit offenlegte.“ (Clark 2018, S.134)
Nationalsozialismus
Wie Christopher Clark schreibt, brachte der Zusammenbruch des Kaiserreichs im Gefolge des Ersten Weltkriegs eine „Krise im historischen Bewusstsein“ hervor, „weil damit eine Form der Staatsmacht zerstört wurde, die zum Brennpunkt und Garanten des historischen Denkens und Bewusstseins geworden war“. (Vgl. Clark 2018, S.11) Große Teile der Bevölkerung und der Intellektuellen wandten sich vom Geschichtsoptimismus eines linearen, unvermeidlichen Fortschritts der gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Zwar sei schon in den bisher von Clark behandelten Epochen seit dem Großen Kurfürsten die Vorstellung eines einheitlichen, mit dem „Geschichtlichkeitsregime“ des jeweiligen Machthabers übereinstimmenden gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins illusionär gewesen (vgl. Clark 2018, S.25), aber nach dem Ersten Weltkrieg fragmentierte sich das Geschichtsbewußtsein so sehr, daß, so Clark, grundsätzliche Zweifel daran aufkommen müssen, ob sich die einfache binäre Differenzierung zwischen „vormodernen und modernen Varianten der Zeitlichkeit“ so aufrechterhalten läßt (vgl. Clark 2018, S.233).

Damit verweist Clark auf den von Modernitätstheoretikern gerne geleugneten Umstand, daß Anachronismen aller Art, also die Nichtübereinstimmung von gesellschaftlichen Gruppen und von einzelnen ‚Zeitgenossen‘ mit dem jeweiligen angeblichen ‚Entwicklungsstand‘ der Gesellschaft, ein so verbreitetes kulturelles Phänomen sind, daß es, wie ich an dieser Stelle ergänzen möchte, auch auf anthropologischer Ebene reflektiert werden muß.

Diese allgemeine Fragmentierung des Geschichtsbewußtseins und die damit verbundene Distanzierung vom Staat hat zur Folge, daß sich Clark für die vierte Epoche nicht einer einzelnen paradigmatischen Persönlichkeit zuwendet, also in diesem Fall Adolf Hitler, sondern einer ganzen Partei, der NSDAP. Denn auch der Nationalsozialismus bildete kein einheitliches Geschichtlichkeitsregime, sondern wir haben es hier mit einer Vielzahl von Akteuren zu tun, die sich gegenseitig bekämpften. Auch im engeren Führungszirkel der Partei unterschied sich das Geschichtsbewußtsein von Hitler, der die römische Antike mit ihrer Architektur bevorzugte, und Himmler, der von den germanischen Lehmdörfern schwärmte und „über jeden Tonscherben und jede Steitaxt“, die irgendwo ausgegraben wurden, in „Begeisterung“ geriet. (Vgl. Clark 2018, S.212)

Während des zwölfjährigen „Dritten Reichs“ wurden in ganz Deutschland zahlreiche, der Geschichte des Nationalsozialismusses gewidmete Museen gegründet, deren Stifter und Direktoren sich ebenfalls untereinander über die korrekte Darstellung dieser Geschichte stritten. Clark richtet sein Hauptaugenmerk auf diese Museen, denn an ihnen wird die besondere Geschichtlichkeit des Nationalsozialismus deutlich. Die Geschichte wird in ihnen nicht als ein linearer Prozeß verstanden, sondern mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ist der Geschichtsprozeß insgesamt beendet. Das deutsche Volk hat seine Bestimmung, nämlich den Wiedereintritt in eine urgermanische Volkseinheit, erreicht. Was folgt ist nurmehr Geopolitik: die Eroberung neuen Lebensraums im Dienste der Selbsterhaltung, also Subsistenz:
„Statt Objekte (oder sogar Subjekte) der Kräfte des internationalen Marktes zu sein, würden die Deutschen ein eigenes, historisch bewährtes, autonomes tausendjähriges Produktionssystem schaffen. ... Das war eine vehemente Ablehnung jeder Fremdbestimmung, einer Ordnung, in der die Nation gezwungen ist, in der Zeit eines – oder etwas – anderen zu leben. Für die Deutschen unter Hitler sollte der Weg aus der Geschichte in der so gut wie grenzenlosen Ausdehnung des biologischen Raumes, in der Eroberung von ‚Lebensraum‘ liegen.“ (Clark 2018, S.218f.)
Anders als viele Modernitätstheoretiker meinen, war der Nationalsozialismus keineswegs ‚modern‘, im Unterschied z.B. zum italienischen Faschismus, der trotz seines Rückgriffs auf das antike Rom am linearen Fortschrittsgedanken festhielt:
„Während das faschistische Regime nämlich diese chronopolitischen Manipulationen (Ausgrabungen, Verwischung der räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen der römischen Antike und der faschistischen Moderne – DZ) auf eine Zeitlichkeit projizierte, deren Logik im Wesentlichen historisch, linear und modern blieb, schmückte sich das deutsche Regime zwar mit modernen Attributen, artikulierte seine ultimativen und bestimmenden Ansprüche jedoch im Rahmen eines ahistorischen, rassistischen Zeitkontinuums.()“ (Clark 2018, S.229)
Die nationalsozialistischen Museen verherrlichten also das „Dritte Reich“, indem sie paradoxerweise die Deutschen als Ethnie musealisierten, und verhielten sich so genau gegensätzlich zu den ‚modernen‘ Kolonialmächten, in denen die von ihnen unterworfenen indigenen Völker musealisiert wurden:
„Die weiße Mehrheitsgesellschaft beanspruchte (normalerweise – DZ) für sich die dynamische, fortschrittliche Zeit der Moderne. Im ‚Dritten Reich‘ sollten die Deutschen selbst als Ethnie musealisiert werden.“ (Clark 2018, S.219)
Mit der Abschaffung der Geschichte schaffte der Nationalsozialismus auch den Staat ab, nicht als Institution, aber als von der Geschichte autorisierte moralische Instanz, und setzte an deren Stelle die ‚Rasse‘ bzw. das ‚Volk‘:
„Weder die Zivilgesellschaft noch der Staat nötigten der NS-Bewegung Respekt ab – beide wurden vielmehr als ‚jüdische‘ Erfindungen einer liberalen politischen Theorie verunglimpft.“ (Clark 2018, S.233)
Politik wurde von Biopolitik abgelöst. An die Stelle der Gesellschaft, trat das Blut.

Christopher Clark führt, wie schon erwähnt, das nationalsozialistische Modell einer staats- und geschichtsfeindlichen Geschichtlichkeit auf das Trauma des Ersten Weltkriegs zurück, und er fragt, ob das Erleben eines Traumas möglicherweise eine „generische Dimension“, also eine geschichtlichkeitsbildende Kraft beinhaltet. (Vgl. Clark 2018, S.235) Darauf und auf die inhärenten Anachronismen einer fragmentierten Geschichtlichkeit werde ich im folgenden Blogpost zu sprechen kommen.

Download

Freitag, 3. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Moore und Patel versäumen es, individuelle und gesellschaftliche Verantwortung auf eine Weise zu differenzieren, die das individuelle Handeln nicht abwertet. Das zeigt sich an der Stelle, wo sie auf den individuellen ökologischen Fußabdruck zu sprechen kommen, der bei US-Amerikanern bei durchschnittlich vier Planeten und bei Deutschen bei durchschnittlich 2,5 Planeten liegt, die wir bräuchten, wenn alle Menschen unseren Lebensstil übernehmen würden. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268)

Die Bedeutung, die diese Berechnung für die individuelle Verantwortung hat, wird von Moore/Patel gleich wieder relativiert, indem sie auf die Gentrifizierung hinweisen, die die Menschen aus den Städten mit ihren kurzen Arbeits- und Versorgungswegen vertreiben, ohne auf dem Land ein entsprechendes öffentliches Verkehrssystem vorzufinden, das es ihnen erlaubt, auf den konventionellen, mit fossilen Brennstoffen betriebenen Individualverkehr zu verzichten. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.269) Moore/Patel werfen dem Denken in Fußabdrücken vor, den eigentlichen Verursacher für dieses ökologische Dilemma, den Kapitalismus, durch die Fokussierung auf den individuellen Konsum zu verschleiern. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268) Das eigentlich Problem ist also das ‚System‘ und nicht das ‚Individuum‘:
„Die Erkenntnis, um die es uns geht, ist keine individuell-therapeutische, sondern eine institutionelle und systemische.“ (Moore/Patel 2018, S.274)
Das individuelle Handeln ist also allenfalls therapeutisch und fördert lediglich das persönliche Wohlbefinden? – Seit November vergangenen Jahres gehen tausende Franzosen auf die Straße und blockieren Autobahnzufahrten, weil die französische Regierung die Mineralölsteuer angehoben hat, um den Treibstoff zu verteuern. Millionen auf dem Land lebende Franzosen, die stundenlange Anfahrtswege zu ihrer Arbeitsstelle haben und lange Einkaufswege bewältigen müssen und dafür auf das Auto angewiesen sind, fanden das gar nicht lustig.

Aber was sind ‚lange‘ Versorgungswege? Ich lebe auf dem Land. In dem Dorf, in dem ich lebe, gibt es keine Geschäfte, noch nicht einmal eine Kirche. Der Bus kommt zweimal am Tag vorbei. Trotzdem fahre ich mit dem Rad, jedes Jahr zehntausend Kilometer, auf den Tag runtergerechnet 27,4 km, und zwar jeden Tag. Es mag sein, daß das nichts für jedermann und auch nicht für jede Frau ist, vor allem, wenn man eine Familie zu versorgen hat. Aber die Grenzen individuellen Handelns lassen sich weiter ziehen, als es viele, die in ihren motorisierten Blechkabinen durch die Gegend rollen, vorstellen können und auch wollen. Die individuelle Verantwortung für richtiges Handeln sollte jedenfalls nicht voreilig relativiert werden. Es gibt ein richtiges Leben im falschen!

Gerade bei den ‚Gelbwesten‘ wird die zwielichtige Motivationslage von gesellschaftlichen Bewegungen deutlich, die sich gegen die notwendigen klimapolitischen Veränderungen stemmen und dabei naiv die eigene individuelle Notlage mit menschenfeindlichen Ressentiments vermengen. Also ja, – hier bedarf  es einer individuellen Therapie, nämlich als Rückbesinnung auf eine persönliche Verantwortung, die zwischen berechtigten Bedürfnissen und kollektiven Pathologien zu unterscheiden weiß. Das Problem ist nicht das ‚System‘, sondern die das ‚System‘ vollziehenden Individuen.

Download

Donnerstag, 2. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Bei fast allen billigen Dingen, die Moore/Patel in ihrem Buch aufzählen, handelt es sich um Allmenden, um lebenswichtige Ressourcen, die die Existenz des Menschen auf diesem Planeten ermöglichen: um Natur, Arbeitskraft, Fürsorge, Nahrung, Energie und, in gewisser Verdopplung zur Natur, um ‚Leben‘, womit im betreffenden Kapitel vor allem das Eigentum an sich selbst und die damit verbundene Würde gemeint ist (vgl. Moore/Patel 2018, S.239ff.). Nur eins fällt aus diesen Dingen heraus: das Geld, das Moore/Patel in Form billiger Kredite ebenfalls zu den billigen Dingen zählen. Dabei entgeht dem Autorenpaar allerdings, daß es sich beim Geld keineswegs um eine Ressource handelt, die man durch Verbilligung entwerten kann. Tatsächlich bildet das Geld, nämlich als Kapital, den Kern der umfassenden Entwertung alles dessen, was das Leben und unsere Menschlichkeit ausmacht.

Zwar weisen Moore/Patel durchaus auf die Differenz des Kapitals hin, die aus Geld mehr macht als bloß ein Zahlungsmittel:
„Geld ist nicht gleich Kapital. Journalisten reden gern von Kapital, obwohl sie Geld meinen, oder, schlimmer noch, sie verstehen unter Kapital etwas, das in etwas anderes umgewandelt werden kann. Von ‚natürlichem Kapital‘ oder ‚sozialem Kapital‘ zu sprechen führt zu einer großen Begriffsverwirrung.() Nicht gefällte Bäume oder noch nicht genutzte Fähigkeiten sind kein Kapital.“ (Moore/Patel 2018, S.40)
Moore/Patel halten fest, daß erst die Zirkulation, die Verwandlung von Geld in Gütern und von Gütern in Geld aus Geld Kapital macht. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.40) Aber zwei Momente werden bei diesem Verwandlungsprozeß nicht berücksichtigt: der damit verbundene Metamorphismus und der Mehrwert. Was den Mehrwert betrifft, ist er vor allem ein Betrug an der menschlichen Arbeitskraft, die nicht vollständig bezahlt wird. Der Arbeiter wird nur für einen Teil seiner Arbeit bezahlt, den Rest steckt der Kapitalist als ‚Mehrwert‘ ein. Dieses Prinzip der ‚billigen Arbeit‘ wird auch auf all die anderen billigen Dinge angewandt. Der Kapitalismus ist nur profitabel, weil er auf Ressourcen zurückgreift, für deren Kosten er nicht aufkommen muß. Das ist das ganze Geheimnis des Mehrwerts.

Das Problem mit dem Geld reicht aber noch tiefer. Es fungiert als Wertspeicher, der den Wert der bezahlten Ware in sich aufnimmt und bewahrt. In ökonomischer Hinsicht bedeutet das, daß die Ware nur Tauschwert hat. Ihr Gebrauchswert ist gleich null. Sobald sie bezahlt worden ist, hat sie keinen Wert mehr. Man kennt das vom Wertverlust, dem neue Autos auf geheimnisvolle Weise unterliegen: kaum gekauft, sinkt ihr Wiederverkaufswert. Ihr Wert überträgt sich auf das Geld, das wir für sie ausgegeben haben. Das Geld ist wie ein Vampir: es saugt den Wert der Dinge auf wie Vampire das Blut von Menschen. Deshalb müssen ständig neue Dinge gekauft werden, denn nur im Kaufakt haben sie Wert. Sobald sie gekauft wurden, sind sie Müll. Das nennt man dann Konsum. Wir ‚verzehren‘ nicht etwa die Dinge selbst, was einen wirklichen Stoffwechsel beinhalten würde, sondern wir vernichten ihren Wert.

Damit kommen wir nun zum Problem der Zirkulation. Auch Geld bewirkt Transformationen, wie der Stoffwechsel. Es verwandelt Stoffe, nämlich Rohstoffe, in andere Stoffe um, nämlich in Gebrauchsgüter. Diese Gebrauchsgüter haben aber nur als Waren einen Wert, nämlich Tauschwert. An dieser Stelle wird also der Stoffwechselprozeß unterbrochen. Anstatt im Gebrauch der produzierten Güter zur Ruhe zu kommen, was das Ziel eines echten Stoffwechselprozesses wäre, muß das Geld immer weiter Güter produzieren; denn es geht nicht um die Güter, sondern um die Vermehrung des Geldes selbst, um Zins und Zinseszins.

Moore/Patel haben das nicht verstanden, wenn sie das billige Geld auf eine Stufe mit den anderen sechs billigen Dingen stellen. Das zeigt sich z.B. darin, daß sie Geld bloß als ein „Medium“ bezeichnen, „mit dem der Kapitalismus operiert“. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.38) Geld ist durchaus ein Medium, aber eben keins, ‚mit dem‘ der Kapitalismus ‚operiert‘! Es ist für den Kapitalismus das, was für den Fisch das Wasser ist. Ohne Wasser kein Fisch, ohne Geld kein Kapitalismus. Alle die anderen billigen Dinge, die Moore/Patel aufzählen, sind notwendig für den Kapitalismus, aber sie bilden nicht sein Medium. Die Fürsorge ist nicht der Kapitalismus, so wenig wie Natur, Nahrung, Energie etc. der Kapitalismus sind! Das Geld aber, nämlich das nominalistische Geld, ist der Kaptalismus. Er operiert nicht einfach nur mit ihm, wie er mit den billigen Ressourcen operiert.

Deshalb gehen auch Moore/Patels Analysen zur Gender-Problematik am Kern des Problems vorbei. Es ist irgendwie niedlich, wenn das Autorenpaar die Einführung des Pflugs in die Landwirtschaft für die Ungleichheit der Geschlechter verantwortlich macht. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.156f.) Der Pflug ist ein Moment in der menschlichen Kulturgeschichte, wie viele andere Momente, unter denen man neben dem Pflug sicher weitere ‚Schlüsselfaktoren‘ für die Entwertung der Frauen ausmachen kann. Aber was den Kapitalismus betrifft, kratzt der Hinweis auf den Pflug lediglich an der Oberfläche.

Das gilt übrigens auch für die Genderproblematik selbst. Denn wenn wir von ‚Gender‘ reden, blenden wir für gewöhnlich das Begehren aus, das ihm innewohnt. Sicherlich gehört die Grenzziehung zwischen Mann und Frau zu den Verbilligungsstrategien des ökologischen Kapitalismusses. Aber der eigentlich Eingriff richtet sich nicht auf die Manipulation von Geschlechterdifferenzen, sondern auf die Natur unseres Begehrens. Christina von Braun beschreibt diese Transformation in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012). Das nominalistische Geld usurpiert insbesondere die männliche Fruchtbarkeit, indem es den Mann kastriert. Es nimmt seine Fruchtbarkeit vollständig in den Dienst der Geldvermehrung, von Zins und Zinseszins, die an die Stelle von Kind und Kindeskind treten. Im Finanzkapitalismus erreicht diese Entkörperlichung ihren Höhepunkt, wo sich das Geld durch sich selbst vermehrt und nicht mehr auf die Güterproduktion angewiesen ist.

Die weibliche Fruchtbarkeit, ihre biologische Reproduktionsfähigkeit, wird ebenfalls usurpiert. An ihre Stelle treten Reproduktionstechnologien, die darauf abzielen, das Leben technologisch zu manipulieren und möglicherweise sogar zu produzieren. Das Vorbild für diese Reproduktionstechnologien liegt in der Selbstproduktion des Geldes.

Letztlich ist das nominalistische Geld der Stein der Weisen, den die Alchimisten einst gesucht hatten. Es ist das Geld, das alles in alles verwandelt und aus Nichts heraus Werte schafft. Diese Werte sind aber nichtig, Unwerte, vernichtete Werte. Im nominalistischen Geld gibt es keine Grenze der Wertvernichtung, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß es keine Obergrenze für Schulden gibt. Darauf basiert die Vorstellung von der Notwendigkeit eines unendlichen Wirtschaftswachstums.

Wollen wir uns davon freimachen, müssen wir uns wieder der Natur unseres Begehrens zuwenden. Wir müssen den Schleier des Geldes lüften und unsere eigentlichen Bedürfnisse neu entdecken. Bis zu dieser Einsicht aber dringen Moore/Patels Analysen nicht vor.

Download

Mittwoch, 1. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Jason W. Moore, Dozent für Weltgeschichte, Soziologie und Ökologie an der Universität von Binghamton, und Raj Patel, Research Professor an der University of Texas, beschreiben in ihrem Buch „Entwertung“ (2018) Strategien der Verbilligung von Ressourcen, ohne die die „kapitalistische Ökologie“ (vgl. Moore/Patel 2018, S.155f., 241 u.ö.), wie die beiden Autoren die enge Verbindung des Kapitalismus mit dem „Netz des Lebens“ nennen (vgl. Moore/Patel 2018, S.40), nicht möglich wäre. Diese Strategien der Verbilligung bilden zugleich Strategien der Entwertung und richten sich auf die Natur, Geld (in Form billiger Kredite), Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, insbesondere menschliches Leben. Diese Entwertungsstrategien haben unseren Planeten insgesamt umgeformt und den bisherigen erdgeschichtlichen Epochen eine neue Epoche hinzugefügt: das Anthropozän, das aber Moore/Patel zufolge besser „Kapitalozän“ heißen sollte, da es nicht die Menschen schlechthin seien, die diese Epoche hervorgebracht hätten, sondern der Kapitalismus. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.13)

An zwei Beispielen macht das Autorenpaar deutlich, was ‚Verbilligung‘ bzw. ‚Entwertung‘ meint: am Hähnchen und an der Geschichte der Insel Madeira. Die heutigen Hähnchen sind Moore/Patel zufolge nicht mehr dieselben Tiere wie vor hundert Jahren:
„Diese Tiere können kaum noch laufen, sind innerhalb von wenigen Wochen schlachtreif, tragen besonders viel Fleisch und werden in Mengen aufgezogen und geschlachtet, die für unser Ökosystem von Bedeutung sind (mehr als 60 Milliarden Vögel pro Jahr).() Betrachten wir das als ein Beispiel für billige Natur.“ (Moore/Patel 2018, S.14)
Zur Entwertung der Tiere kommt die Entwertung der menschlichen Beziehungen derjenigen, die in den Produktionsprozeß von Hähnchenfleisch eingebunden sind. Moore/Patel fassen die verschiedenen Momente dieses Produktionsprozesses,
  • die schlechte Bezahlung der Arbeiter,
  • die ungesunde Arbeit am Fließband einschließlich der dadurch notwendig werdenden Fürsorge durch deren Familien,
  • die Versorgung der Konsumenten mit billiger Nahrung,
  • den mit der Produktion verbundenen Methanausstoß (Klimaerwärmung),
  • die staatliche Subventionierung
  • und das Franchising-System
  • und die Geringschätzung tierischen und menschlichen Lebens
mit folgenden Worten zusammen:
„Den sozialen Kämpfen um Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, die mit den Hühnerknochen des Kapitalozäns verbunden sind, kommt ein so großer Stellenwert zu, dass nicht das Auto oder das Smartphone das ikonische Symbol der Moderne ist, sondern der Chicken McNugget.“ (Moore/Patel 2018, S.15f.)
An der Insel Madeira zeigen Moore/Patel, wie ein Öko-System seit seiner Entdeckung und Kolonisierung im 15. Jhdt. vollkommen zugrundegerichtet wurde. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.25ff.) Ursprünglich war die Insel dichtbewaldet gewesen. Innerhalb von 80 Jahren war die Insel vollständig entwaldet, weil die Bäume zunächst für den Schiffbau und dann als Brennmaterial für die Zuckerrohrproduktion gebraucht wurden. Insbesondere der Zuckerrohranbau wurde dabei Moore/Patel zufolge zur Blaupause für die industrielle Produktion in Fabriken:
„Madeira wurde zu einem Experimentierfeld, auf dem man die Grenzen menschlicher Widerstandsfähigkeit und Kraft auslotete und neue Ordnungs-, Prozess- und Spezialisierungstechnologien erprobte, wie sie Jahrhunderte später in den industriellen Fabriken in England zum Einsatz kommen sollten. ... Obwohl nur wenig über die Sklavenaufstände in Madeira bekannt ist, wissen wir doch, dass am Ende des Zuckerbooms die in der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft angewandten Methoden verfeinert und über den Atlantik exportiert wurden ...“ (Moore/Patel 2018, S.43f.)
Von Anfang an ist die kapitalistische Ökologie also nicht etwa eine ausschließlich auf Lohnarbeit beschränkte Ausbeutungsform gewesen, mit deren Hilfe der Kapitalist seinen Mehrwert erwirtschaftet. Zur Verbilligungsstrategie gehörte auch die direkte Sklaverei:
„Die Sklaverei trat auf Madeira zwar nicht zum ersten Mal auf, wohl aber die moderne Sklaverei. Die Letztere zeichnet aus, dass die Sklaven zur landwirtschaftlichen Massenproduktion herangezogen und aus ihrer Verwurzelung in die Gesellschaft gerissen wurden. ... Sklaven als Teil der Natur und nicht als Teil der Gesellschaft zu behandeln, erwies sich für die Investoren als ein erfolgreicher Schachzug.“ (Moore/Patel 2018, S.45)
Mit einem aktuellen Beispiel für moderne Sklaverei haben wir es übrigens bei den Flüchtlingen zu tun, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, um nach Europa zu gelangen. Jan-Philipp Scholz beschreibt in seinem Buch „Menschenhandel, Migrationsbusiness und moderne Sklaverei“ (2019), wie diese oft genug als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichneten Menschen auf ihrem Weg allen möglichen zweifelhaften, profitorientierten Interessengruppen Geld einbringen, nicht nur auf offensichtliche Weise den Schleppern, sondern auch den Staaten, die sie durchwandern, weil die dortigen Machthaber mit Hilfe von EU-Geldern dazu gebracht werden sollen, sie aufzuhalten. So landen die Flüchtlinge in KZ-artigen Lagern, in denen sie mißbraucht, als billige ‚Arbeitskräfte‘ eingesetzt und umgebracht werden, wenn die Lager voll sind, um Platz zu schaffen für neue Flüchtlinge. Diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, werden von ihren Herkunftsländern vor allem deshalb nicht zurückgenommen, weil sie diese mit Devisen versorgen, wenn sie ihre Familien mit Geld versorgen, das sie in den Aufnahmeländern unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen verdienen. Außerdem sind die korrupten Machthaber in den Herkunftsländern froh, wenn sie die vorwiegend jungen Leute, die für sie eine potentielle Gefahr sind, los sind. Auch die ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ sind also ein Beispiel für kapitalistische Ökologie. – Über all das sind übrigens die europäischen Politiker, auch die deutschen, bestens informiert.

Die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft war ein wichtiges ideologisches Instrument bei der Entwertung menschlichen Lebens, das von der Wissenschaft und von der Religion unterstützt wurde. Im Bereich der Wissenschaft entwickelte der Schwede Carl von Linné (1707-1778) eine Nomenklatur, in der er den homo sapiens nach verschiedenen Varietäten (Rassen) ausdifferenzierte, denen er außerdem bestimmte Charaktereigenschaften zuordnete, die eine Hierarchisierung von Menschengruppen ermöglichte:
„Die Naturwissenschaften lieferten die Begründung für eine ethnische Einordnung, die wiederum die koloniale Mission der Zivilisierung legitimierte. Linnés Typologie war verantwortlich dafür, dass Menschen sich das Recht herausnahmen, nicht nur andere Menschen wie Eigentum und Schuldverschreibungen zu behandeln, sondern sich auch an die Spitze einer Hierarchie zu setzen, die diese Menschen einem staatlichen Herrschaftsgefüge unterwarf.“ (Moore/Patel 2018, S.248)
Religiöse Unterstützung erhielt dieses Klassifikationssystem durch Papst Nikolaus V., der 1455 dem portugiesischen König erlaubte, alle Feinde des christlichen Glaubens zu versklaven. Diese Erlaubnis bezog man dann auch auf die indigenen Völker in den Kolonien, die das Evangelium nicht kannten, so daß zu deren Versklavung bloße Unwissenheit ausreichte:
„Was Menschen wussten oder nicht wussten, wurde für die Beschaffung von Arbeitskräften und den Umgang mit ihnen relevant.()“ (Moore/Patel 2018, S.125)
Im Rahmen der „Encomienda“ wurde die Zwangsarbeit der Eingeborenen damit gerechtfertigt, daß sie auf diese Weise zum Christentum ‚erzogen‘ werden sollten:
„Letztlich ermächtigte gerade die Fürsorgepflicht für die Seelen der Eingeborenen die Kolonisatoren dazu, ihnen ihr Land wegzunehmen und sie im Dienste der Zivilisation darauf arbeiten zu lassen.“ (Moore/Patel 2018, S.127)
Wir haben es bei den Entwertungsstrategien der kapitalistischen Ökologie Moore/Patel zufolge hauptsächlich mit einer Vielzahl von Grenzziehungen zu tun, sowohl an den Rändern der Nationalstaaten, die andere Länder unterwarfen und kolonisierten, zunächst europäische Länder wie Irland und Polen, und dann die anderen Kontinente, die beiden Amerikas, Afrika, Asien, Australien; wie auch innerhalb der Nationalstaaten selbst, entlang der Grenzen zwischen Gesellschaft und Natur, Mann und Frau und öffentlich und privat. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.167)

Im Grunde geht es bei diesen Grenzziehungen um jenen historischen Prozeß, den Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet hatte, nämlich um die Einfriedung von allgemeinen Gütern und Rechten, von Allmenden bzw. commons, die allen Menschen gleichermaßen zugänglich waren. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.117, 120, 127) Die sieben billigen Dinge, die Moore/Patel aufzählen und kapitelweise abhandeln, sind ursprünglich nichts anderes als solche Allmenden, die die kapitalistische Ökologie in Privateigentum verwandelt, von dem die meisten Menschen ausgeschlossen werden, um von nun an als Sklaven bzw. Lohnarbeiter ihr Leben fristen zu müssen. Die wichtigste ‚Einfriedung‘ bildet die Natur selbst, zu der eben auch die meisten Menschen gezählt werden, Weiße wie Nicht-Weise, aber vor allem eben Nicht-Weiße, und außerdem die Frauen. Gender ist ein wichtiges Thema in dem Buch von Moore/Patel. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.152ff.) Der Natur gegenüber steht die Gesellschaft bzw. der ‚zivilisierte‘ Teil der Menschheit, hauptsächlich weiße Männer.

Nicht minder wichtig ist die unbezahlte Fürsorgearbeit der Frauen, von der Moore/Patel feststellen, daß der Kapitalismus in dem Moment abgeschafft werde, wo er für die Fürsorge bezahlen muß. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.180) Er ist dann einfach nicht mehr profitabel.

Bei der Differenz zwischen Natur und Gesellschaft haben wir es mit einem für den Kapitalismus grundlegenden Dualismus zu tun, der von René Descartes philosophisch begründet wurde:
„Descartes unterschied zwischen Körper und Geist und verwendete dafür die lateinischen Begriffe res extensa und res cogitans. ... Die herrschenden Klassen der Epoche wiesen die meisten menschlichen Wesen – Frauen, Farbige, Eingeborene – der ausgedehnten, nicht der denkenden Substanz zu. ... Die kartesische Haltung prägte die moderne Logik von Macht und Denken.“ (Moore/Patel 2018, S.72f.)
Moore/Patels These, daß der Kapitalismus auf grundlegenden Grenzziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Kolonien und Nationalstaaten und zwischen Frauen und Männern beruht, um so billige, Profite ermöglichende Ressourcen zu schaffen, leuchtet ein. Aber das Autorenpaar wird dem Doppelsinn, der mit dem Begriff der Grenze verbunden ist und der allererst so etwas wie eine ‚Ökologie‘, also auch eine kapitalistische Ökologie ermöglicht, nicht gerecht. Ich meine den mit dem Begriff der Grenze verbundenen Begriff des Stoffwechsels:
„Keine Grenze kommt ohne einen Austausch aus, der bereitstellt, was im Inneren fehlt, indem Leben von anderer Stelle abgeschöpft wird.“ (Moore/Patel 2018, S.30)
Moore/Patel gehen nur ganz am Rande auf diese Bedeutungsdimension ein. Dabei benutzen sie nicht den Begriff des Stoffwechsels, sondern den des Oikeios:
„Mit Hilfe seiner Grenzräume beherrscht der Kapitalismus ein Spektrum von Beziehungen zur ‚Lebenserzeugung‘, das über die buchhalterische Bilanz von Gewinn und Verlust hinausreicht. ... Mangels eines angemessenen Begriffs im Deutschen greifen wir auf die Idee des oikeios zurück. Oikeios bezeichnet den vielschichtigen Puls der Lebenserzeugung, der jede menschliche Aktivität am laufen hält und unablässig von natürlichen Kräften geformt wird, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Oikeios sorgt dafür, dass bestimmte Formen des Lebens auftauchen, dass Arten Lebensräume schaffen und Lebensräume Arten. So besetzt der Puls der menschlichen Zivilisation nicht einfach Lebensräume, er erzeugt sie – und wird zugleich von ihnen erzeugt.()“ (Moore/Patel 2018, S.31)
Moore/Patel versäumen es, den Begriff des Stoffwechsels auch auf die Zirkulation des Geldes zu beziehen. Zwar ist viel von dieser Zirkulation die Rede (vgl. Moore/Patel 2018, S.37, 40, 91), aber die Transformationen, die das zirkulierende Geld ermöglicht, die Metamorphosen, die es selbst bei der Zirkulation durchläuft, werden nicht thematisiert. So entgeht dem Autorenpaar der eigentliche Entwertungskern, nämlich die Entwertung, die das Geld selbst bewirkt, als Mehrwert; und darüberhinaus entgeht ihm der Kern der Genderproblematik, wie sie Christina von Braun beschrieben hat, als Kastration des Mannes, als Raub an seiner Fruchtbarkeit. Zins und Zinseszins treten an die Stelle von Kind und Kindeskind. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

Download