Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
1. halb voll, halb leer?
2. ,objektive‛ Kultur
Simmel setzt sich bewußt vom Bildungsbegriff der neuhumanistischen Epoche um die Wende des 18. zum 19. Jhdts. ab: „Gewissermaßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19 Jahrhundert durch den Begriff der ‚Bildung‛ im Sinne einer Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltensweisen verdrängt wurde.“ (Simmel 2009, S.721)
Allerdings geht Simmel noch einen wesentlichen Schritt weiter als das auf objektive Bildung setzende 19. Jhdt., denn er setzt nicht nur auf die objektive Seite der Bildung, die ja immer noch, als ‚Kultur‛, die Vorstellung einer Menschen-Welt impliziert, sondern er reduziert den Kulturbegriff noch einmal auf die Geldwirtschaft. Seine ‚objektive‛ Kultur ist eine subjektlose Kultur; eine Kultur ohne Menschen. Die von Wilhelm von Humboldt einmal als Alchemie gedachte Verwandlung des Objekts ins Subjektive und des Subjekts ins Objektive, die Wechselseitigkeit von Mensch und Welt, kommt in dieser objektiven Kultur bzw. Bildung nicht mehr vor.
Simmel stellt die sehr berechtigte Frage nach den Konsequenzen, die sich für den Menschen daraus ergeben, daß die „Kultur der Dinge“ zu einer Kultur für sich geworden ist, die mit der Bildung des Menschen nichts mehr zu tun hat: „Wenn alle Kultur der Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschheit ist, so daß nur wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden ‒ was bedeutet jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich wie aus deren Kräften und Normen heraus vollzieht und ohne daß sich einzelne Seelen daran entsprechend entfalteten?“ (Simmel 2009, S.722)
Die Kultur der Dinge ist zu einer Kultur geworden, die sich aus ihren eigenen „Kräften und Normen heraus vollzieht“, und die menschlichen „Seelen“ haben keine Berührung mehr mit ihr. Simmels Antwort auf seine Frage nach den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, besteht darin, daß sich aufgrund der Geldwirtschaft das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Individuen radikal verändert hat und noch verändern wird. Die objektive Kultur umfaßt alles, was sich von den Anfängen der Menschheit bis zum gegenwärtigen Stand von Geldwirtschaft, Technik und Wissenschaft „als gegenwärtig gewordener Geist“ angesammelt hat. Diesem ungeheuren Überschuß auf der Habenseite der Gesellschaft gegenüber stehen die „fragmentarischen Daseinsinhalte() der Individuen“. (Vgl. Simmel 2009, S.722)
Während die klassische Bildungsphilosophie des Neuhumanismus noch auf das Individuum fokussierte, bewertet Simmel dieses jetzt weit nüchterner: „Unsere praktische Existenz, unzulänglich und fragmentarisch, wie sie ist, erhält eine gewisse Bedeutsamkeit und Zusammenhang dadurch, daß sie sozusagen die Teilverwirklichung einer Ganzheit ist.“ (Simmel 2009, S.725)
Mit Ganzheit meint Simmel die „objektive Kultur“ bzw. den „objektiven Geist“, Techniken, Wissen, Kunst, Ethik, Religion, auf die das „individuelle Subjekt“ nur zurückzugreifen braucht, um seinen eigenen Beitrag produktiv daran anzuschließen und darauf aufzubauen: „Wie wir unsere Lebensinhalte, erkenntnistheoretisch betrachtet, einem Reiche des sachlich geltenden entnehmen, so beziehen wir, historisch angesehen, ihren überwiegenden Teil aus jenem Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit der Gattung(.)“ (Simmel 2009, S.727)
Kultur gibt es bei Simmel in gewisser Weise nur als Hochkultur, als Krönung der menschlichen Evolution. Aus ihr wurde, gerade auch dank der Geldwirtschaft, die gesamte Erblast trüber Sedimente unserer animalischen und barbarischen Vergangenheit, bis heute immer noch virulent und unabgegolten, fein säuberlich herausfiltriert und entsorgt. Was mit Simmels Kulturbegriff also auf keinen Fall gemeint ist, ist die Lebenswelt, die ohne diese Sedimente nicht denkbar ist.
Dennoch erinnert Simmels Beschreibung der objektiven, die gesamte gesellschaftliche Evolution umfassenden Kultur an ein vampirartiges Kollektivwesen, das die individuellen Einzelleistungen aufsaugt und nun „jenseits aller Subjekte“ sein eigenes untotes Leben lebt: „Je vollständiger ein Ganzes aus subjektiven Beiträgen den Teil in sich einsaugt, je mehr es der Charakter jedes Teiles ist, wirklich nur als Teil dieses Ganzen zu wirken, desto objektiver ist das Ganze, desto mehr lebt es ein Leben jenseits aller Subjekte, die es produzierten.“ (Simmel 2009, S.732)
Aber weit entfernt davon, das zu beklagen, sieht Simmel darin die Lösung all unserer Probleme. Zunächst hält er fest, daß die objektive Kultur durch Arbeitsteilung und Warenproduktion gekennzeichnet ist, und natürlich durch Konsum. In dieser Form bildet sie ein dem Individuum gegenüberstehendes Kollektivsubjekt: „Was die Kultur der Dinge zu einer so überlegenen Macht gegenüber der Einzelpersönlichkeit werden läßt, das ist die Einheit und autonome Geschlossenheit, zu der jene in der Neuzeit aufgewachsen ist. Die Produktion mit ihrer Technik und ihren Ergebnissen, erscheint wie ein Kosmos mit festen, sozusagen logischen Bestimmtheiten und Entwicklungen, der dem Individuum gegenübersteht, wie das Schicksal es der Unstätheit und Unregelmäßigkeit unseres Willens tut.“ (Simmel 2009, S.757)
Simmels Darstellung erinnert an Horkheimer und Adornos „Kulturindustrie“. Um so vielsagender ist es, daß Simmel dieser Kulturindustrie zutraut, die Bildung des Menschen zu fördern. Denn, so Simmel, die sich verselbständigende Kultur der Dinge (heute spricht man ganz ähnlich vom Internet der Dinge) setzt den Menschen „von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und von unmittelbarer Beziehung zu ihnen“ frei und ermöglicht so „gewisse() Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit“, die es ohne diese Freisetzung nicht gegeben hätte (vgl. Simmel 2009, S. 757): „Und deshalb mögen diese Gegenrichtungen“, gemeint ist das Auseinanderdriften objektiver Kultur und subjektiver Existenz, „da sie nun einmal eingeschlagen sind, auch einem Ideal absolut reinlicher Scheidung zustreben; indem aller Sachgehalt des Lebens immer sachlicher und unpersönlicher wird, damit der nicht zu verdinglichende Rest desselben um so persönlicher, ein um so unbestreitbareres Eigen des Ich werde.“ (Simmel 2009, S.758; Hervorhebung ‒ DZ)
Simmel befürwortet also allen Ernstes eine Restbildung, die in der von der Welt abgelösten Innerlichkeit des Bildungssubjekts besteht, also das absolute Gegenteil der Humboldtschen Bildung, in der der Mensch so viel Welt als möglich in sich aufnehmen soll. Simmels von der objektiven Kultur abgespaltene Restbildung behält aber letztlich nicht einmal irgendeinen kläglichen Rest für sich, denn aufgrund der „absolut reinlichen Scheidung“ der Dinge vom Menschen ist dessen Bildung absolut leer.
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In diesem Blogpost stand das sechste Kapitel von „Philosophie des Geldes“ im Zentrum. (Vgl. Simmel 2009, S.686ff.) Dieses sechste Kapitel ist zugleich das letzte Kapitel des Buches, so wie auch dieser Blogpost der letzte dieser Reihe meiner Kommentare seit Anfang Oktober ist.
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