Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
1. halb voll, halb leer?
2. ,objektive‛ Kultur
In den letzten zwei Blogposts setze ich das Thema, um das es in meinem Blogpost vom 3. November geht, fort und beende damit zugleich die Anfang Oktober begonnene Postreihe zu Simmels „Philosophie des Geldes“.
Im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels geht Simmel auf die mit der Geldwirtschaft aufkommenden Entfremdungsphänomene ein; allerdings ohne auch hier ein einziges Mal den Begriff der Entfremdung zu erwähnen. (Vgl. Simmel 2009, S.628ff.) Simmel beschränkt sich darauf, diese Entfremdungsphänomene nüchtern als etwas zu beschreiben, das notwendigerweise zu einer Geldwirtschaft gehört, wie die eine Seite einer Medaille, die auch eine andere Seite hat, und es komme eben nur auf den Standpunkt an, den man einnimmt, ob man also den positiven Aspekt der durch das Geld ermöglichten Befreiung fokussiert oder den negativen Aspekt der mit dieser Befreiung einhergehenden Entwertung der Person, ihre „Unterwerfung“ unter ein rationales Kalkül.
Simmel steht jedenfalls eindeutig auf der Seite derer, die das Glas für halb voll halten und nicht für halb leer, auch wenn er diese Ambivalenzen der Geldwirtschaft detailliert und zutreffend beschreibt: „Die historischen Konstellationen, die innerlich von diesem Sinne“, nämlich als Ambivalenzen, „getragen werden, lassen sich in einer aufsteigenden Reihe ordnen, in der jedes Glied, je nach den sonstigen Verhältnissen der Elemente, ebenso deren Freiheit wie deren Unterdrückung Raum gibt.“ (Simmel 2009, S.630)
Es kommt Simmel an keiner Stelle in den Sinn, diese Geldwirtschaft, auch nicht in ihrer kapitalistischen Form, in Frage zu stellen. Die wirklichen Nöte des Proletariats kommen gar nicht in den Blick. Dafür interessiert er sich ausführlich für die „Langeweile“ eines ehemaligen Bauern, eines Rentners und eines pensionierten Beamten, die mit ihrem Leben nichts mehr anzufangen wissen. (Vgl. Simmel 2009, S.640f.) Eingeleitet werden die entsprechenden Betrachtungen mit einer Textstelle, die den Rahmen beschreibt, in dem Simmel die Entfremdung thematisiert. Diese Textstelle beginnt mit dem bedauernswerten Bauern, den man nicht etwa seines Landes enteignet, sondern es ihm abgekauft hat:
„So ordnet sich die ungeheure Gefahr, die die Zugeldesetzung für den Bauern bedeutete, einem allgemeinen System der menschlichen Freiheit ein. Allerdings war es Freiheit, was er gewann; aber nur Freiheit von etwas, nicht Freiheit zu etwas; allerdings Freiheit zu allem ‒ weil sie eben bloß negativ war ‒, tatsächlich aber eben deshalb ohne jede Direktive, ohne jeden bestimmten und bestimmenden Inhalt und deshalb zu jener Leerheit und Haltlosigkeit disponierend, die jedem zufälligen, launenhaften, verführerischen Impuls Ausbreitung ohne Widerstand gestattete ‒ entsprechend dem Schicksal des ungefestigten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene ,Freiheit‛ nur den Raum gibt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen.“ (Simmel 2009, S.640)
Das ist also die Geschichte, die Simmel über einen Bauern zu erzählen weiß, der sein Land verloren hat und dessen „ungeheure Gefahr“ darin gipfelt, mit sich und seiner Freiheit nichts anzufangen zu wissen. Kein Wort von den abertausenden Bauern, denen ihr Land schlicht und einfach geraubt worden war, ohne geldliche Entschädigung („Zugeldesetzung“), von Marx ironisch als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet, und die dafür der ,Freiheit‛ ausgeliefert gewesen waren, als Bettler und Tagelöhner obdachlos übers Land zu ziehen und ihre Arbeitskraft für einen Hungerlohn zu verkaufen, oft nicht mal das ‚freiwillig‛, sondern die aufgrund eigens für sie geschaffener Gesetze gegen Herumlungerei in Arbeitshäusern landeten.
Halb voll, eigentlich sogar mehr als halb voll, ist für Simmel das Glas, weil die andere Seite der Medaille bzw. der Geldmünze trotz der „Gleichgültigkeit“ des Geldes „gegen die Grundfragen des Innenlebens“, dessen größte Gefahr in der „Langeweile“ besteht, auch eine „Tendenz zur Versöhnlichkeit“ innewohnt, und zwar bis hin zur „Idee des Weltfriedens, die besonders in den liberalen Kreisen, den historischen Trägern des Intellektualismus und des Geldverkehrs gepflegt wird“: „(A)lles dies entspringt als positive Folge jenem negativen Zuge der Charakterlosigkeit.“ (Vgl. Simmel 2009, S.692)
Denn aufgrund dieser Charakterlosigkeit, so Simmel, verbinde das Geld die unterschiedlichsten Interessen und Weltanschauungen, die eben um dieses Geldes willen miteinander in Austausch treten und gemeinsame Projekte verfolgen, deren einziger Zweck es ist, Profit zu machen. Wenn also der Charakter eines Menschen etwas gleichermaßen Subjektives wie Individuelles ist, das die Menschen voneinander unterscheidet und trennt, so entspringt der scheinbar negativen Charakterlosigkeit des Geldes eine quantifizierende ,Objektivität‛, die alles und alle einander gleich macht und so miteinander verbindet. Und das ist etwas Positives.
Dazu mehr im folgenden Blogpost.
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