„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 11. Juli 2022

Geschichte der Unvernunft

Wenn die Atomkraft-Ideologen von einer ‚ideologiefreien‘ Neubewertung der Atomtechnologie sprechen, ist vor allem eines gewiß: sie gehen den Erfolgspfad aller Populisten, genau das, was sie selbst tun, anderen vorzuwerfen. Sie verkaufen Lüge als Wahrheit, Despotie als Demokratie und Rückschritt als Fortschritt oder eben eine Ideologie als Sachlichkeit. Sie sind keine Ideologen, nein, die anderen sind es!

Was die Atomkraft als ‚Reserve‘ für einen gerade von diesen Politikern mitverschuldeten drohenden Energiekollaps betrifft, bildet sie seit ihrer Erfindung den Sieg der Unvernunft über die Vernunft. Und genau das ist der Kern einer viertausendjährigen Geschichte des Patriarchats. Carola Meier-Seethaler spricht von den vier Säulen des Patriarchats: Mord, Raub, Vergewaltigung und Lüge. Atomkraftwerke vereinen alle diese vier Säulen in sich: sie sind Mord an den verstrahlten Opfern von Atomkatastrophen wie Tschernobyl und Fukushima; Raub an der Zukunft von ungezählten Generationen für die nächsten hundert-, zweihunderttausend Jahre; Vergewaltigung der Naturgesetze im Dienste des sogenannten Fortschritts; und Lüge, was die technische Lösbarkeit der atomaren Hinterlassenschaften betrifft. Hinsichtlich des letzten Punktes – wenn man nicht bereit ist, die Atomkraftbefürworter mit ihrer unfaßbaren Naivität zu entschuldigen – ließe sich die Liste der Lügen zur Sauberkeit und Sicherheit der Atomkraftwerke noch reichlich fortsetzen.

Offen gesagt: ich bin bereit, den nächsten Winter ein wenig zu frieren. Ich habe schon Erfahrung darin, denn ich habe die letzten drei Winter damit experimentiert, gar nicht mehr zu heizen, unter Einsatz von Pullovern und einer warmen Decke beim abendlichen Fernsehgucken. Ich bin nicht krank geworden. Mein Immunsystem wurde gestärkt. Und ich habe Geld gespart.

Es wird Zeit, daß die Fortschrittserzählung, die in Europa gerne mit dem antiken Griechenland angesetzt wird, durch eine Geschichte der Unvernunft ersetzt wird. Sogar Habermas gesteht in seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) ein, daß mit diesem ‚Fortschritt‘, den er mit dem Neolithikum vor 12.000 Jahren beginnen läßt, auch Kollateralschäden einhergehen. So spricht er von den „sich fortgesetzt umwälzende(n) Lebensverhältnissen“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.119), vom Klimawandel und von risikoreichen Großtechnologien, von den „Folgen des finanzgetriebenen Kapitalismus“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.124), und dann noch einmal von der „unaufhaltsame(n) Umwälzung der alltäglichen Lebensverhältnisse“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.145). Habermas gesteht, daß er das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt habe. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.174) Statt aber nun das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft gründlich zu erörtern, bekennt sich Habermas bedenkenlos dazu, daß er auch diesmal in seinem Buch nicht weiter darauf eingehen wolle. Er beharrt darauf, seine Fortschritterzählung, die den roten Faden seiner „Geschichte der Philosophie“ bildet, durchzuziehen.

Daß Habermas die ‚Unvernunft‘ in seiner Philosophiegeschichte nicht berücksichtigen will, impliziert immerhin das Eingeständnis, daß es eine solche gibt. Zugleich verbirgt dieses Eingeständnis, daß die Fortschrittsgeschichte selbst wesentlich etwas mit dieser sich immer wieder durchsetzenden Unvernunft zu tun hat. Carola Meier-Seethaler bringt diese Unvernunft in ihrem Buch „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) auf den Punkt, indem sie sie am Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat vor drei-, viertausend Jahren festmacht, der zur Etablierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hatte.

Im Titel ihres Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt gewesen, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.

Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten. Zu diesem Patriarchat gehören notwendigerweise Kriege und die zunehmende Zerstörung der planetaren und humanitären Ressourcen. Hinsichtlich der erwähnten vier Säulen kann es da mit Blick auf die mögliche Rückkehr eines gescheiterten US-Präsidenten an die Macht nicht verwundern, daß dessen Lügenexzesse von einem großen Teil der US-amerikanischen Wählerschaft goutiert werden. Er macht genau das, was von ihm in einer patriarchalen Gesellschaft erwartet wird.

So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich sind sie der Autorin zufolge nur im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“ ursprünglich gleich: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)

Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle.

Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt und damit verbunden meinem Versuch, meinem Begehren eine andere, individuelle Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisieren will. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Projekt einer patriarchal deformierten, mißverstandenen Naturwissenschaftlichkeit, alles Subjektive und Emotionale aus der Forschung auszublenden. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.

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