„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 9. Mai 2014

Lebenswelt und Strukturalismus II

Bernhard Waldenfels will in seiner Adaption des Begriffs der Zwischenleiblichkeit die Subjekte nicht mehr berücksichtigen müssen. (Vgl. meine Posts vom 05.01. und vom 08.01.2011) So aber verkommen die Phänomene, die des Subjekts bedürfen, um als Phänomene erlebt werden zu können, zu einer Funktion innerhalb einer Struktur, eines Netzwerkes, und an die Stelle der Wahrnehmung tritt Kybernetik.

Während der phänomenologische Begriff der Lebenswelt gleichermaßen strukturiert wie zentriert ist und eine rekursive Dynamik der Sinnhervorbringung beinhaltet, werden die ‚Subjekte‘ im Strukturalismus auf eine Struktur ‚verteilt‘, also dezentriert, und übernehmen dort geregelte Funktionen. Ich habe das in der Graphik mit dem Schachbrettmuster zum Ausdruck gebracht. Das Schachspiel ist seit Saussure bei den Strukturalisten ein vielzitiertes Beispiel.

In der letzten Graphik (vgl. Lebenswelt und Strukturalismus I) waren die Subjekte, S-S'', in einem gemeinsamen lebensweltlichen Zentrum miteinander verbunden. Auf dem ‚Schachbrett‘ hingegen verteilen sie sich auf verschiedene Felder. Sie sind auch nicht mehr in subjektive Kontexte, sondern in objektive Kontexte eingebettet, die durch die anderen Schachfelder, also durch die definierten Stellen in der Schachbrettstruktur bestimmt sind. Der Bezug auf die verschiedenen ‚Subjekte‘ ergibt sich durch eine unveränderliche Regel, eben durch das Schachspiel, und nicht mehr durch die Perspektiven, die die ‚Subjekte‘ auf ihre Kontexte einnehmen. Es gibt in jedem Schachspiel immer nur u.a. vier Pferde und sechzehn Bauern. Kommt auch nur ein Pferd oder ein Bauer zusätzlich hinzu oder beginnt das Spiel mit nur drei Pferden oder nur fünfzehn Bauern, haben wir es nicht mehr mit einem Schachspiel zu tun. Die Struktur hat sich geändert, und diese Veränderung ist innerhalb der Regeln des Schachspiels nicht vorgesehen. Von den Pferden und Bauern können keine spontanen, regelverändernden Aktionen ausgehen.

Zwar hat auch das Schachspiel seine eigene rekursive Dynamik. Aber diese ist nicht lebensweltlich, sondern eben strukturell bedingt. Die rekursive Dynamik des Schachspiels vollzieht sich ‚Zug um Zug‘ und berücksichtigt dabei die potentiell folgenden, regelgeleiteten Züge des Gegners. Die verschiedenen ‚Ebenen‘, d.h. die verschiedenen Spielmöglichkeiten des Gegners, die in die Planung des nächsten Spielzugs einfließen, ergeben sich kontinuierlich aus den festgelegten Regeln des Schachspiels. Es kommt zu keinem Bruch, zu keiner spontanen Neuregelung.

Lévi-Strauss beschreibt in „Das wilde Denken“ (1973/1962), wie in einem Clansystem eine begrenzte Menge an Namen für die Benennung der Clanmitglieder zur Verfügung steht. (Vgl. meinen Post vom 20.05.2013) Dabei handelt es sich um der nichtmenschlichen Natur entnommene ‚Eponyme‘, die den Clan als Clan definieren, ähnlich wie die Schachfiguren, zwei Pferde, acht Bauern, eine Dame etc. einen weißen oder einen schwarzen Satz von Spielfiguren ausmachen. Neue Clanmitglieder müssen warten, bis ältere Clanmitglieder sterben und den Platz im Clan, der durch ihr Eponym bezeichnet ist, freimachen, so daß ein neues Clanmitglied dessen Namen übernehmen kann. Es gibt, glaube ich, auch eine Schachregel, nach der ein Bauer in einer bestimmten Situation die Funktion einer Dame übernehmen kann.

Wird durch Hungersnöte, Bevölkerungswachstum oder andere Ereignisse das durch die Struktur stabilisierte Gleichgewicht durcheinandergebracht, bedarf es außerordentlicher Maßnahmen durch die Clanältesten, um das Verhältnis von Eponymen und Clanmitgliedern wieder in Einklang zu bringen. Wir haben es also mit einem kybernetischen Mechanismus zu tun, dessen Dynamik einer Homöostase dient.

Auch die Lebenswelt der Phänomenologen ist ‚statisch‘, oder vielleicht sollte man besser sagen ‚zyklisch‘. Ihre Zyklen sind ans Kommen und Gehen der Generationen und an die Lebensalter der individuellen Subjekte gebunden, die nicht die Freiheit haben, die Lebenswelt als solche in Frage zu stellen. Aber im Unterschied zu Schachfiguren können die Subjekte die Regeln verändern, nach denen sie interagieren. Der Bruch ist jederzeit möglich, weil sie in sich gebrochen sind, gemäß der exzentrischen Positionalität, wie sie Plessner beschrieben hat. Die Homöostase der Lebenswelt beruht auf Subjekten und nicht auf Algorithmen.

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7 Kommentare:

  1. Ich habe mir den Strukturalismus auf Wikipedia angeschaut. Davor allerdings fielen mir die Gotteskrieger ein, die bildlich das Schachbrett vom Tisch fegen. Genau dieses Gefühl habe ich, dass die Dichter und Denker von einem einseitig guten Standard- Menschen ausgehen. Als ob alles Böse Einzelfälle sind, die nichts mit dem Menschen in seiner Standardform zu tun haben.

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  2. Ich weiß jetzt nicht, wie Du auf das Böse kommst, denn darum geht es ja bei der Differenz zwischen Lebenswelt und Strukturalismus gar nicht. Auch die Clanmitglieder, die in ihrer Struktur festsitzen, kann man nicht mit muslimischen Gotteskriegern vergleichen. Der Exzess der Gotteskriegerschaft ist allerdings ein Aspekt unserer exzentrischen Positionalität. Auf diese führe ich auch die Möglichkeit des schlechthin 'Bösen' zurück, als eine Form der inneren Haltlosigkeit. Wo die innere Haltung fehlt, die Balance zwischen Naivität und Kritik, brechen Grenzlosigkeit und Maßlosigkeit auf. Das ist allerdings ein Thema, das wohl in meinen anderen Blog, Auf der Grenze, gehört, als die Frage nach der Differenz zwischen offener Weite und Maßlosigkeit.

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  3. Habe ich dich zu sehr abgelenkt.
    In meinem Post (http://grdzsr.blogspot.de/2014/04/kuckuck.html) ist ein sehr gutes Beispiel gegen den Struktuaralismus.
    So wie ich den Strukturalismus auf Wikipedia verstanden habe, wird in diesem Beispiel das Schachbrett einfach vom Tisch gefegt. Und der Kuckucksvater oder der international renommierte Evolutionsbiologe Prof. Ulrich Kutschera gehören wohl nicht zu den bösen Vertretern unserer Gattung. Das schlichte aggressive Moment des Mannes, das ich auch bei mir kenne, scheint sich hier widerstandlos gegen alle Regeln durchzusetzen. Und da frage ich mich schlicht und ergreifend, ob das strukturalistische Denken diesen Allerweltsaspekt in seine Theorie intergriert.
    Sag mir jetzt nicht, das ich komplett auf dem Holzweg bin.

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  4. Von komplett auf dem Holzweg kann keine Rede sein. Muß ich aber noch drüber nachdenken.

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  5. Georg Reischel: „Das schlichte aggressive Moment des Mannes, das ich auch bei mir kenne, scheint sich hier widerstandlos gegen alle Regeln durchzusetzen.“ – Möglicherweise geht es Dir um Folgendes: Der subjektive Kontext des Mannes dominiert die Lebenswelt so sehr, daß sie sich um ihn herum zentriert. Sein Glaube an die Zeugungskraft seines (männlichen) Geschlechts verfälscht das Wissen um die biologische Realität des Geschlechterverhältnisses. Der objektive Kontext der Fortpflanzung, also von männlichen und weiblichen Keimzellen, wird von ihm (und der Wissenschaft) ignoriert: „einfach vom Tisch gefegt“.
    Was den Strukturalismus betrifft, scheint mir Dein Beispiel mit dem Kuckucksvater an der Sache vorbeizugehen. Das Patriarchat bildet eher eine männlich dominierte Lebenswelt, als ein Schachbrett. Aber ich muß zugeben, daß sich auch Lévi-Strauss mit seinem Strukturalismus gelegentlich auf „chromosomische() Formeln“ bezogen hat. (Vgl. „Das wilde Denken“ (1973/1962, S.161) Und Verwandtschaftssysteme bildeten den Hauptgegenstand seiner strukturalen Anthropologie.
    Mir ging es mit den letzten beiden Posts aber gerade darum, zu zeigen, daß sich die subjektiven Perspektiven eben nicht in Strukturen auflösen lassen. Und dabei dachte ich nicht etwa an ein schlichtes aggressives, spezifisch männliches Moment, sondern an exzentrische Positionalität. Was mein Anliegen betrifft, paßt Dein Beispiel also nicht.

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  6. Deine subjektive Perspektive, wie leider Gottes auch meine, mögen auf kein sonderliches Interesse bei anderen Menschen fallen, oder wird nicht verstanden oder wird nicht akzeptiert. Und schon lösen sie sich entsprechend auf (für die anderen). Der Strukturalismus kümmert sich jedoch um die Schnittmengen der vielen vielen subjektiven Perspektiven, soweit sie sich darüber hinaus tradiert haben. Daraus aber unbewußte "Denkregeln" abzuleiten, an die du dich unwissentlich halten musst???
    Im Strukturalismus geht es ja auch darum, welcher Gedanke (Gedankensystem) sich sozial durchgesetzt hat und somit tradiert werden konnte. Subjektive Perspektiven sterben und werden durch nachwachsende ersetzt. Doch an jedem gedanklichen Ursprung (ganz am Anfang) gab es nur eine individuelle subjektive Perspektive. Ich nehme auch an, dass subjektive Perspektiven nicht tradiert werden können. Jeder hat seine eigene. Ich höre jetzt auf, ehe ich mich um Kopf und Kragen rede.

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  7. Ist schon in Ordnung. Da ist was dran. Deshalb will ich auch Phänomenologie und Strukturalismus verbinden, im Sinne einer phänomenalen Strukturanalyse. So etwas gibt es natürlich immer schon über all dort, wo sich jemand ernsthaft über den Menschen Gedanken macht. Aber der vorherrschende Strukturalismus in der Technik und in der Wissenschaft macht, daß wir den Humanismus vergessen, also das Naive des subjektiven Erlebens.

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