„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 23. Mai 2014

Anton Fischer, Natur und Kultur in der Literatur nach Claude Lévi-Strauss. II, Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald, Leipzig/Norderstedt 2014

(Leipziger Universitätsverlag/Anne Fischer Verlag, 270 S., 22.00 €)

Anton Fischer hat in den Jahren von 2002 bis 2007 fünf Bücher zu Claude Lévi-Strauss geschrieben und im Anschluß dessen an ethnologischen Studien entwickelten Strukturalismus in zwei Monographien zu Robert Walsers Räuberroman (2011) und zu Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (2014) auf die Literaturwissenschaft übertragen. Mit dem letzten Band zu Ödön von Horváth befasse ich mich in meinem aktuellen Post.

Analog zu den strukturellen Verwandtschaftssystemen der von Lévi-Strauss beschriebenen Ethnien prägt Fischer den Begriff der „textimmanenten Gesellschaft“. (Vgl. Fischer 2014, S.6, Rückseite des Widmungsblattes) Das bestätigt meine Vermutung, daß Hermeneutik und Strukturalismus zwei eng ‚verwandte‘ Methodiken bilden und insofern die Philologie und die Literaturwissenschaft für ein strukturalistisches Vorgehen besonders geeignet sind. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2014)

Bevor ich auf Anton Fischers Vorgehen näher eingehe, möchte ich kurz noch auf Lévi-Strauss zu sprechen kommen. (Vgl. hierzu auch meine Posts vom 18.05. bis 22.05.2013) Die von Lévi-Strauss beschriebenen ‚primitiven‘ Kulturen organisieren ihr Leben in zwei synchronen Reihen: den Naturereignissen als der primären Reihe und den kulturellen Ereignissen als der davon abhängigen Reihe. Ereignisse der primären Reihe werden auf Ereignisse der abhängigen kulturellen Reihe bezogen und als „Nachrichten“ aufgefaßt, die dem Eingeweihten mitteilen, wie er sich zu den Ereignissen der kulturellen Reihe zu verhalten hat.

Die Dominanz der Naturreihe ist aber nur eine scheinbare und verschleiert die eigentliche Dominanz der kulturellen Reihe. Denn wie kommt es zu der Verknüpfung von Ereignissen aus der Naturreihe mit den kulturellen Ereignissen? Es muß allererst ein kulturelles Ereignis vorliegen, auch wenn es möglicherweise nur unterschwellig und noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Ein durch eine Mythologie begründetes Klassifikationssystem legt fest, welche Naturereignisse als Nachrichten an die jeweiligen Angehörigen eines Clans oder einer Ethnie in Frage kommen. Sowohl das Klassifikationssystem als auch der Empfang einer Nachricht durch so einen Eingeweihten sind im hohen Maß durch Zufälligkeit und Willkür bestimmt. So beschreibt Lévi-Strauss z.B., wie eine bestimmte Spechtart mal wegen ihres Interesses an Baumhöhlen, mal wegen ihres roten Kopfputzes, mal wegen ihres triumphalen Gesangs, mal einfach aufgrund der schlichten Tatsache, daß man niemals Federn dieser Spechtart unter den Überbleibseln von Raubvogelmahlzeiten gefunden hat, mit den unterschiedlichsten Bedeutungen belegt wird. (Vgl. „Das wilde Denken“ (1973/1962)‚ S.70f.)

Zu dieser Beliebigkeit der Bedeutungszuweisung kommt noch die Willkür des Empfängers, z.B. einer schwangeren Frau, deren Blick im Vorübergehen auf eine am Wegrand liegende Melone fällt und die sie in Verbindung mit ihrem ungeborenen Kind bringt, dessen künftiger Speiseplan nun durch diese durch den Blick der Mutter gestiftete Zufallsverwandtschaft mit der Melone bestimmt sein wird. (Vgl. „Das wilde Denken“ (1973/1962)‚ S.93)

Die scheinbare Dominanz der Naturreihe ist also eigentlich einer Dominanz der assoziativen Einbildungskraft der Menschen geschuldet, deren Leben durch eine bestimmte Mythologie bestimmt wird. Der Strukturalismus steht für ein Denken, das auf eine spezifische Weise bei den Dingen – der Naturreihe – ist. Kant hatte mit seiner transzendentalen Apperzeption die Bewußtheit unserer Wahrnehmungen und Empfindungen daran festgemacht, daß wir sie mit einem „Ich denke“ begleiten können müssen. Dieses „Ich denke“ ist noch weltlos, also ‚rein‘. Der Phänomenologe richtet dieses Denken mit seinen Meditationen auf bestimmte Wahrnehmungen bzw. Phänomene und füllt es auf diese Weise mit Inhalten. Wir haben es nicht mehr nur mit einem reinen „Ich denke“, sondern mit einem „etwas Denken“ zu tun. Dieses Denken bleibt bei den Phänomenen und ihren Sichtbarkeiten. Auch die hinter diesen Sichtbarkeiten verborgenen Rückseiten sind immer noch der Perspektive auf die Dinge geschuldet. Verborgenes und Sichtbares bleiben über eine gemeinsame Grenze, den Horizont, miteinander vermittelt.

Der Strukturalist hingegen denkt sich bei den Dingen nicht mehr ‚etwas‘, sondern ‚etwas anderes‘. Es kommt weder dem Strukturalisten noch dem in eine bestimmte Mythologie Eingeweihten auf den Specht oder auf die Melone als solche an. Ihn interessiert ausschließlich, was ihm der Specht bzw. die Melone über bestimmte kulturelle Ereignisse mitzuteilen haben.

Um den Strukturalismus sinnvoll anwenden zu können, bedarf es also immer einer ‚Mythologie‘, eines Codes, der uns hilft, einen bestimmten ‚Text‘ zu entschlüsseln. Genau deshalb ist der Strukturalismus so brauchbar, wenn es um literaturwissenschaftliche Exegese geht. Anton Fischer entlehnt den Code für seine Analysen zu Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ ebenfalls der Lévi-Straussischen Perspektive auf die menschliche Kultur als einer, die vom Untergang bedroht ist: „Der Untergang von Natur und Kultur stellt sich als dialektischer Wechselschritt dar: Die Kultur (Zivilisation) richtet die Natur zugrunde; da der kulturelle Mensch aber selbst ein biologisches, mithin natürliches Lebewesen ist, geht er mit der, von seiner Kultur zerstörten, Natur selbst zugrunde, vernichtet sich also mit der Errichtung der Kultur, da diese die Natur zerstört, mittelbar selbst, da die letzte – zerstört – ihn als Anhängenden mit in den Abgrund reißt.“ (Fischer 2014, S.10)

Wir haben es also wieder mit den zwei Reihen zu tun, Natur und Kultur, und beide hängen aneinander, diesmal nicht bloß über die Kraft unserer Assoziationen, sondern über die Biologie: „Der Mensch braucht sowohl die Natur als auch die Kultur, um existieren zu können, da er ein ‚biologisches Wesen‘ und ein ‚gesellschaftliches Individuum‘ ... zugleich ist.“ (Fischer 2014, S.268) – Das Individuum selbst, das wir als solches in unseren phänomenologischen Blick nehmen müßten, kommt nur als Bestandteil der ersten beiden Entwicklungslinien vor und bildet hier keine eigene Entwicklungslinie: „Das menschliche Individuum hat an sich keinen höheren Wert als ‚eine Tier- und Pflanzenart‘.“ (Fischer 2014, S.268)

Der strukturalistische Blick ist auf Artensysteme fixiert, weil er von ihnen seine Klassifikationsmerkmale bezieht. Diese Fixierung bildet zugleich ein grundsätzliches Moment literaturwissenschaftlicher Analysen. Das professionelle Lesen und Interpretieren eines Textes interessiert sich nicht für die im Text beschriebenen Vorkommnisse in ihrer bildhaften Vordergründigkeit. Letzteres bleibt dem naiven Leser überlassen, der einen spannenden Text wie einen Film vor seinem inneren Auge ablaufen läßt, indem er die beschriebenen Ereignisse in all ihrer Farbigkeit und Dynamik gewissermaßen ‚halluziniert‘.

Die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ werden von Fischer nicht in ihrem regionalen und zeithistorischen Kontext verortet, sondern in einen übergreifenden menschheitlichen Kontext gestellt, in dem der Untergang der K.u.K.-Monarchie mit dem Untergang der Indianer parallelisiert wird (vgl. Fischer 2014, S.268), als ein weiteres Moment des allgemeinen Untergangs der menschlichen Spezies (vgl. Fischer 2014, S.70).

Zum strukturellen Desinteresse an den Individuen trägt auch der Artbegriff bei. Der ‚Mensch‘ wird nicht als Individuum definiert, sondern über seinen Bezug zum Tier als dem Nicht-Menschlichen: „‚Denn“ – so zitiert Fischer einen Rittmeister aus den „Wiener Wald“ – „es läuft ja auf ein und dasselbe hinaus, wenn der Mensch erst die Grenze seiner Vorrechte zwischen sich und den anderen Arten zieht und dann diese Grenze ins Innere der eigenen Spezies verschiebt, bestimmte Kategorien als allein wahrhaft menschlich anerkennt, im Unterschied zu anderen Kategorien‘.“ (Fischer 2014, S.269)

Mit dieser Strategie der Abgrenzung sondert sich der Mensch, so stellt der Rittmeister fest, letztlich nicht nur von den Tieren ab, sondern auch von seinen Mitmenschen. Und es ist genau diese Strategie der abgrenzenden Entgegensetzung, die Lévi-Strauss zufolge Biologie und Kulturgeschichte der Menschheit bestimmt. (Vgl. meinen Post vom 19.05.2013)

Diese Folie bzw. diesen Code legt Anton Fischer also über Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, und er schlendert, wie jene schwangere Frau an der Melone, an den verschiedenen Sätzen und Satzteilen vorbei, um sie als Nachrichten über den Untergang der Menschheit zu deuten. So wird der Leser schon gleich zu Beginn im ersten Kapitel mit dem ersten Zitat aus dem „Wiener Wald“ und seiner Deutung auf den Fortgang der Fischerschen Textexegese eingestimmt: „,Vor einem Häuschen am Fuße einer Burgruine. Alfred sitzt im Freien und verzehrt mit gesegnetem Appetit Brot, Butter und sauere Milch – seine Mutter bringt ihm gerade ein schärferes Messer.‘“ (Fischer 2014, S.11)

Nichts in dieser Szene nimmt Anton Fischer einfach so, wie es sich gibt, als Genuß und als Appetit, sondern jedes Element steht für etwas anderes. Das Essen, als „Aufhebung des Hungers“, steht, weil es den „Hungertod“ vermeidet, für die Vermeidung des „Untergang(s) der Natur“. Die Burgruine dagegen steht für den „Untergang der Kultur“. (Vgl. Fischer 2014, S.11) Die zubereitete Mahlzeit steht als „Küche“ für den „Übergang von der Natur zur Kultur“. Die „Sauere Milch“ steht als Moment der Verderblichkeit von Speisen für das „Unterbleiben der Küche“, „so daß die ‚sauere Milch‘ weder kulturell noch natürlich ist und damit sowohl natürlich als auch kulturell im Untergang begriffen ist.“ (Vgl. Fischer 2014, S.12) Das „Messer“, das die Mutter bringt, „kann eine Waffe sein, als Instrument der Kultur kann es auch die Natur zerstören“. (Vgl. Fischer 2014, S.13) So wird das Messer zum „Zeichen des Fortschritts“, und der Hinweis auf seine Schärfe ist zugleich ein Hinweis auf das „Zerstörerische, In-Intervalle-Teilende der Kultur“. (Vgl. ebenda)

Wenn wir dabei an Lévi-Straussens Artbegriff denken, verweist das ‚Messer‘ auf das Trennende zwischen Mensch und Tier und zwischen Mensch und Mensch, so daß für die von Alfred eingenommene Mahlzeit nichts Göttliches mehr übrigbleibt. Keine Kommunion, nirgends. Alfreds Mahlzeit steht vielmehr für den „egoistische(n) Einschnitt eines Menschen, der seine Interessen befriedigt. Es handelt sich also um einen Humanismus, der das Ego an die erste Stelle setzt.“ (Vgl. Fischer 2014, S.13)

Anton Fischers strukturalistische Lektüre der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ermöglicht eine Aktualisierung ihres Bedeutungsbestands, so daß die aus den 1920er Jahren stammenden Geschichten nicht im zeitgenössischen Kontext verhaftet bleiben und eventuell mit dem Zeitenlauf veralten. Das ist die Stärke seines Ansatzes. So bindet Fischer die Geschichten in eine evolutionäre Dynamik ein, und sie geben uns möglicherweise mehr zu denken, als wenn wir nur naiv dem Erzählzusammenhang verhaftet blieben. Die einzige Verbindlichkeit, die der Text dem professionellen Leser noch auferlegt, besteht darin, daß er sich lesend von ihm in seinem Denken motivieren läßt.

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