„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 8. Mai 2014

Lebenswelt und Strukturalismus I

Ich habe schon in verschiedenen Posts von der Notwendigkeit einer phänomenalen Strukturanalyse gesprochen. (Vgl. meine Posts vom 02.11.2013, 03.11.2013, 15.02.2014, 24.03.2014) Dabei war es mir darum gegangen, den Unterschied zu überwinden zwischen einer Phänomenologie, die den Schein an seiner Oberfläche ernstnimmt und ihn in seiner Erscheinungsweise, in seiner Gestalt zu beschreiben versucht, und einem Strukturalismus, der dem oberflächlichen Schein mißtraut und dahinter eine tiefere, eigentliche, durch den äußeren Schein verdeckte Wahrheit vermutet, die es ans Licht zu bringen gilt. Die Phänomenologen meditieren, und ihre bevorzugte Wissensform ist die Anthropologie; die Strukturalisten graben, und ihre bevorzugte Wissensform ist die Archäologie.

Während die Phänomenologen die subjektive Wahrnehmung, die subjektive Perspektive ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen – denn der Schein bedarf des Subjekts, um als Schein wirken zu können –, stellen die Strukturalisten Funktionen und Strukturen ins Zentrum ihrer Analysen und verzichten so weit wie möglich auf das Subjekt, das sie ebenfalls als eine Struktur beschreiben und einer Psychoanalyse unterziehen. Was dem Subjekt bewußt wird, ist immer schon des Betrugs, der Täuschung verdächtig. Das Unbewußte und das Unsichtbare ist es, was den Strukturalisten interessiert.

Aber auch die Phänomenologen kennen das Unsichtbare, das sich dem Wahrnehmungssubjekt prinzipiell entzieht. Sie haben ihren eigenen Strukturalismus, der aber auf die Subjekte nicht verzichtet: die Lebenswelt. Die Phänomene, mit denen es diese Wahrnehmungssubjekte zu tun haben, haben ihre eigenen Unsichtbarkeiten, Hintergründe, Rückseiten. Diese sind aber nicht wahrer oder wesentlicher als die Vordergründe, die die Subjekte fokussieren. Jedes Phänomen, ob Realweltgegenstand oder Phantasie, ist in Kontexte eingebettet. So hat jedes Wahrnehmungssubjekt seinen subjektiven Kontext (S-S''), in dem bestimmte Phänomene thematisch werden können. Und einen Teil dieses subjektiven Kontextes teilt jedes Wahrnehmungssubjekt wiederum mit anderen Subjekten; und dieser Teil ist die Lebenswelt bzw. die Inter-Subjektivität (I).

Die Inter-Subjektivität bildet tatsächlich eine Struktur. Aber sie bildet eine gleichermaßen dynamische und zentrierte Struktur, die sich mit dem Wechsel der subjektiven Perspektiven ständig verschiebt, neu zentriert und neu strukturiert. Die Pfeile im großen Lebensweltkreis und in den ellipsenförmigen Kreislinien der subjektiven Kontexte deuten diese rekursive Dynamik einer ununterbrochenen Sinnhervorbringung, als Sinn von Sinn, an. (Zum Sinn von Sinn vgl. meinen Post vom 21.12.1013)

Zugleich aber hat die Lebenswelt etwas Beharrendes. Sie ist institutionalisiert, und auf diese Weise bildet sie eben auch einen Strukturalismus. Darin hat der Strukturalismus seine Wahrheit. Hier haben wir eine gemeinsame Schnittmenge zwischen Lebenswelt und Strukturalismus und den Ansatzpunkt für eine phänomenale Strukturanalyse, wie sie im Begriff der Zwischenleiblichkeit von Merleau-Ponty und von Waldenfels betrieben wurde. (Vgl. meine Posts vom 05.01. bis 08.01.2011 und vom 20.11. bis 24.11.2011) Bei Waldenfels zeigt sich aber schon eine Verirrung der phänomenologischen Blickrichtung: das Subjekt erscheint ihm als bedeutungslos. Er will die zwischenleiblichen Phänomene ohne zugehöriges Subjekt in den Blick bekommen. So aber verkommen die Phänomene zu einer Funktion innerhalb einer Struktur, eines Netzwerkes, und an die Stelle der Wahrnehmung tritt Kybernetik.

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2 Kommentare:

  1. Wie geht der Strukturalismus mit dem zeitlichen Aspekt um (Evolution, Geschichte, etc.)
    Ich versuche gerade, mir ein Beispiel für einen Strukturalismus vorzustellen und muss zugeben, dass mir keiner einfällt. Es wäre also gut, an einem Bespiel die obigen Grundprobleme aufzuzeigen.

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  2. Der zeitliche Aspekt wird im Strukturalismus als Störung wahrgenommen. Die Strukturen sollen einen status quo aufrechterhalten. So stellt es z.B. Claude Lévi-Strauss dar. Darauf werde ich noch im nächsten Post "Lebenswelt und Strukturalismus II" eingehen. Da werde ich auch ein Beispiel bringen.

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