„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 14. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
(Vgl. auch meinen Post vom 17.07.2012)

Intersubjektivität ist das zentrale Problem der späten Husserlschen Phänomenologie. Die Frage, wie man eine unmittelbare Gewißheit von dem Ich eines anderen Menschen haben kann, beunruhigte Husserl. Dabei befand er sich in einem doppelten Dilemma. Einerseits soll uns das andere Subjekt die Realitätshaltigkeit unserer eigenen subjektiven Erfahrungen bestätigen, was auch das Kriterium für Objektivität in der neuzeitlichen Wissenschaft bildet. Andererseits aber: wie soll ich zur Gewißheit anderer Subjekte wie mich kommen, mit denen sich eine uns übergreifende Intersubjektivität konstituieren könnte, wenn ich nicht mal meinen eigenen Sinnen trauen kann? – Denn: „... wer seinen eigenen Augen nicht traut, wird auch denen anderer nicht trauen.()“ (Blumenberg 1989, S.790)

So erhebt also auch Husserl zwar die „Intersubjektivität zur Basis des Realitätsbewußtseins“ (vgl. Blumenberg 1989, S.445f.), aber diese Intersubjektivität kann nur funktionieren, wenn die Subjekte nicht in ihren intersubjektiven Gewißheiten miteinander verschmelzen: „Jedoch ist für Husserl nicht die restlose Übereinstimmung der im Verbund stehenden Subjekte die Stärke ihrer das einzelne Subjekt überbietbaren Leistung, sondern die durch ‚Überschiebung‘ geregelte Differenz ihrer Feststellungen über identische Sachverhalte.“ (Blumenberg 1989, S.446) – „Überschiebung“ meint übrigens auch nichts anderes, als das Hinzufügen zusätzlicher Bahnen (Zwiebelschalen) der Rekursivität.

Die „Selbstgegebenheit“ der Intersubjektivität beinhaltet nämlich das Paradox, daß die anderen Subjekte dem Subjekt nicht zweifelhaft sein dürfen, dieses aber für die Integrität seiner eigenen Gewißheit keinen direkten Zugang zu ihnen haben darf, weil dies sogleich zur Unmöglichkeit würde – man denke an das Hype-Bewußtsein der Borg! –, zwischen sich und den anderen zu unterscheiden: „Voraussetzung für diese Leistung der Intersubjektivität ist die Evidenz der Fremderfahrung, also die Unanfechtbarkeit des Bewußtseins, daß es andere Subjekte gibt und man von ihnen unzweifelhafte Gegebenheit haben kann, obwohl Selbstgegebenheit das Ausgeschlossene bleiben muß. Sie würde das Fremde ununterscheidbar vom Eigenen machen ...“ (Blumenberg 1989, S.446)

Intersubjektivität kann also nur – mit Plessner gesprochen – in der Form vermittelter Unmittelbarkeit gegeben sein: „Paradox: Diese Selbstgegebenheit ist eine mittelbare und eben darin die Sache selbst ‚ihrem Wesen nach‘. Dies ist nicht nur eine angenehme oder sozial befriedigende Zutat für das Subjekt, sondern dessen Erfüllung: Objektivität macht erfüllte Subjektivität erst möglich.“ (Blumenberg 1989, S.446) – Diese Beschreibung von Intersubjektivität in ihrer vermittelten Unmittelbarkeit als wesensmäßige Erfüllung von Subjektivität kann nur eines bedeuten: Expressivität im Plessnerschen Sinne. Indem das einzelne Subjekt seine Bestätigung in der expressiven Wendung nach ‚außen‘ durch andere Subjekte sucht, wird ihm seine eigene Intentionalität verständlich.

Die Intersubjektivität besteht also in der Eröffnung eines rekursiven Raumes, in dem Subjekte, die gleichzeitig einander gleich und verschieden sind, miteinander kommunizieren können. Wären sie nicht gleich, könnten sie nicht miteinander kommunizieren. Wären sie nicht verschieden, bräuchten sie nicht miteinander zu kommunizieren.

Die Frage bleibt aber, worin die individuelle Voraussetzung liegt, die eigene Weltsicht nicht für die einzig mögliche zu halten und andere Weltsichten überhaupt in Betracht zu ziehen? Plessner hatte diese Frage mit der exzentrischen Positionalität des Menschen beantwortet. Der Mensch hat an seinem eigenen Körper gleichzeitig eine Welt außer sich und eine innere Einstellung zu dieser Welt. Und dieses Selbstverhältnis überträgt er auf andere Menschen, die einen Körper haben. Eine ganz ähnliche Funktion übernimmt bei Husserl die Kinästhesie: „Muß nicht im Aufbau einer Welt ein Augenblick gedacht werden können, in welchem dieses solitäre Subjekt mit seinem Leib, mit seiner Wahrnehmungsmöglichkeit auf sich gestellt wäre? Weitergehend noch: Kann es nicht überhaupt als möglich gedacht werden, daß mein Leib in meiner durch ihn konstituierten Natur nie seinesgleichen hätte, kein Analogon, das Einfühlung motivierte? Die Überlegung ist erforderlich, weil durch die Leiblichkeit des Subjekts die Veränderlichkeit seines Horizonts allererst geschaffen wird: die Verlagerungsfähigkeit seiner Optik im Raum, die kinästhetische Erschließung der Körperlichkeit einer Natur in diesem Raum, und damit die Einsicht in das, was ‚anderer‘ Horizont wäre, ohne daß es der von jeweils ‚anderen‘ sein müßte, aber doch sein könnte. Der Leib in seiner raumzeitlichen Beweglichkeit ist das Organ des Bewußtseins, sich die Bedingtheit seiner Standpunkte sowie deren Integrierbarkeit zu übergreifenden Horizonten vorzuführen. Damit könnte es zumindest der Intention nach den Begriff eines alle diese Horizonte einigenden Horizonts erwerben.“ (Blumenberg 1989, S.703f.)

Die Frage nach dem Augenblick, „in welchem dieses solitäre Subjekt mit seinem Leib, mit seiner Wahrnehmungsmöglichkeit auf sich gestellt wäre“, als der Voraussetzung für „die Veränderlichkeit seines Horizonts“, die so zugleich zur Bedingung für die „Integrierbarkeit zu übergreifenden Horizonten“ wird, beinhaltet eine einseitige Fundierung des menschlichen Weltverhältnisses und der Intersubjektivität in der individuellen Kinästhesie. So wie bei Plessner der Körperleib die Basis des menschlichen Bewußtseins bildet, wird nun der ganze Leib „in seiner raumzeitlichen Beweglichkeit“ zum Bewußtseinsorgan. Es geht nicht mehr um die Zweifelhaftigkeit oder Vertrauenswürdigkeit einzelner Sinnesleistungen. Einzelne Sinnesorgane mögen uns durchaus täuschen. Aber der eigenen Leiblichkeit zu mißtrauen, würde die Vernünftigkeit dieses Zweifels in Frage stellen: „Nur die Begrenzung des Zweifels macht überhaupt Gewißheit möglich. Jemand will sich davon überzeugen, daß er zwei Hände habe; aber davon kann man sich nicht überzeugen. Wer daran zweifelt, wird auch seinen Augen nicht trauen, wenn er sich beide Hände vor Augen hält ...“ – Und damit wäre eben auch die Intersubjektivität jeder Grundlage beraubt, wie Blumenberg fortfährt und wie eingangs schon zitiert worden ist: „... denn wer seinen eigenen Augen nicht traut, wird auch denen anderer nicht trauen.()“ (Blumenberg 1989, S.790)

Im Grunde ist die Kinästhesie, die den Menschen in der Einheit seiner Sinne auf Horizonte ausrichtet – die bei Husserl ja nie nur Außenhorizonte sind, sondern sich in beide Richtungen, nach innen und nach außen öffnen –, immer schon exzentrische Positionalität und damit die Bedingung der Möglichkeit von Intersubjektivität. Auf dieser Grundlage einer durch diskrete Subjektivität ermöglichten Intersubjektivität ist diese tatsächlich die Erfüllung jener. Hier stellt sich dann auch nicht mehr das Problem einer Verschmelzung, wie ich es in früheren Posts diskutiert habe. (Vgl.u.a. meine Posts zum Gruppendenken vom 04.08.2011 und zu Meyer-Drawe vom 04.12.2011)

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