„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Blumenbergs „Höhlenausgänge“ setzt schon im Titel einen deutlich anderen Akzent als Friedrich Kittler in seinen verschiedenen medienwissenschaftlichen Publikationen. Ähnlich wie Günther Andersens „Die Antiquiertheit des Menschen“ beinhaltet Blumenbergs Buchtitel eine Botschaft, und zwar eine, die die Grenze zwischen Innen und Außen in Richtung nach draußen thematisiert. Dabei ist bei Blumenberg der Mensch weder ‚antiquiert‘ – außer er ‚terminiert‘ sich selbst –, noch ist er nur ein ‚sogenannter‘, wie bei Kittler. (Vgl. meinen Post vom 08.04.2012) – Ganz im Gegenteil fordert Blumenberg in der Philosophie sogar eine „Verschiebung des Schwerpunkts von der Metaphysik oder Ontologie zur Anthropologie“ (vgl. Blumenberg 1989, S.811), was impliziert, daß bisher zu wenig vom Menschen die Rede gewesen war.

Dennoch berührt sich Blumenbergs Thematik an vielen Stellen mit der von Kittler. Auch Blumenberg verweist immer wieder auf die Affinität des platonischen Höhlengleichnisses mit den modernen Medien, allen voran dem „Kinematographen“: „Wenn aber die Erscheinung als ästhetischer Schein jeden Zusammenhang der Herkunft von einer Wahrheit verloren hat und im Rang an deren Stelle getreten ist, wird die Höhle zur sichersten Abschirmung gegen die Niederungen einer Realität, die sich nur als Störung des lebenssteigernden Genusses bemerkbar machen könnte. Die platonische Höhle in gegenplatonischer Auslegung manifestiert nichts Geringeres als die tendenzielle Totalität aller Kunst. Sie ist nicht erst als späte und historisch-faktische Erfindung ‚Gesamtkunstwerk‘; sie ist das der Inklination nach wesensmäßig (Hervorhebung – DZ). Und das heißt zugleich: Sie findet in der Höhle statt, die mag Museum, Festspielhaus, Tonhalle oder zukünftig Kinematographentheater heißen. Es ist nicht mehr entschieden, daß der Weg der Paideia zum Höhlenausgang führt.“ (Blumenberg S.614; vgl. auch S.116f., 747)

Auch hier, wie bei Kittler, ist vom Wagnerschen „Gesamtkunstwerk“ die Rede, an anderer Stelle auch verbunden mit dem Rückblick auf Altamira und Lascaux (vgl. Blumenberg 1989, S.591). Auf ‚technologischer‘ Ebene gleichen Blumenbergs und Kittlers Analysen einander also durchaus. Die Differenz zeigt sich aber gleich wieder im Blumenbergschen Pessismus hinsichtlich der bildenden Qualität (Paideia) dieser Illusionstechnologien: für Blumenberg ist klar, daß es für eine gelingende Paideia eines Ausgangs aus den Höhlen und Medien bedarf. Die Neanderthaler hatten es, so Blumenberg, versäumt, ihre Höhlen rechtzeitig zu verlassen, und sie haben so den Weg für den weniger auf Höhlen spezialisierten Homo mit dem doppelten ‚sapiens‘ freigemacht. (Vgl. Blumenberg 1989, 798f.)

Kittler jedenfalls hat von vornherein kein Interesse mehr an einer solchen Paideia aus den Höhlen heraus. Für ihn kann kein Weg tief genug in die Höhlen der Medien hineinführen, entsprechend der Blumenbergschen Befürchtung, daß uns eine Zeit bevorsteht, an der wir wegen der Unbewohnbarkeit der Erdoberfläche aller „Arsenale() der Simulation“ bedürfen werden, um uns das Leben unter der Erde erträglich zu machen. (Vgl. Blumenberg 1989, S.804)

Auch hier ist der Unterschied, daß Blumenberg ausspricht, was Kittler verschweigt, wenn er sich weigert, vom Menschen noch zu reden.

Was allerdings bei Blumenberg fehlt, ist die Differenz zwischen Künsten und Medien, nicht der Sache nach, aber als Begriff. So spricht Blumenberg im obigen Zitat durchaus von der „tendenzielle(n) Totalität aller Kunst“, vor allem auch mit Bezug auf Wagners Gesamtkunstwerk. Aber Kittler sieht genauer als Blumenberg, daß es sich dabei eben nicht um eine genuine Tendenz der Kunst selbst handelt, sondern um das Grundprinzip der technologischen Medien. Kunst macht sich am individuellen Stil erkennbar, weshalb ihr ein „Bildbewußtsein“ entspricht (vgl. Blumenberg 1989, S.714), das sich über die ‚Realität‘ des Bildes nicht im Zweifel befindet. (Vgl. hierzu auch meinen Post zu Wiesing vom 05.06.2010) Medien hingegen bedienen sich aller zur Verfügung stehenden technologischen ‚Standards‘, um dieses Bewußtsein über den Bildcharakter seines Wahrnehmungsgegenstandes zu täuschen. (Vgl. meinen Post zu Kittler vom 30.04.2012)

Die Sache selbst analysieren Blumenberg und Kittler völlig gleichartig, wobei sich Blumenberg vor allem auf Panorama (vgl. Blumenberg 1989, S.674f., 677, 680), Panoptikum (vgl. Blumenberg 1989, S.447, 680, 713) und Planetarium (vgl. Blumenberg 1989, S.674f.) bezieht und dabei ausgiebig auf Husserls Tagebuchnotizen und Vorlesungsmanuskripte zurückgreift, während Kittler ein größeres kulturhistorisches Repertoire zur Verfügung steht.

Letztlich aber findet sich auch in Blumenbergs „Höhlenausgänge“ eine Stelle, die auf dieselbe Differenz wie die Kittlersche zwischen Künsten und Medien verweist, als eine, die mit der Kunst „wesensmäßig“ eben gerade nichts mehr zu tun hat. Wenn Husserl angesichts einer automatischen, ihm zuzwinkernden Wachspuppe zwar weiß, daß er es mit keinem realen Menschen zu tun hat, und er sich trotzdem immer wieder in die Wahrnehmungsillusion eines echten Menschen zurückfallen sieht, haben wir es, so Blumenberg, definitiv nicht mehr mit einem ästhetischen Effekt zu tun: „Wenn Wirklichkeit und Schein gleichsam Verstecken miteinander spielen, so ergibt das immer nur den äußersten Gegensatz zum ästhetischen Wohlgefallen: Ästhetische Effekte sind nicht Jahrmarktseffekte. ... Die Wachspuppe kann niemals in die Kompetenz der schönen Künste fallen; sie ist demiurgisches Produkt. Je meisterhafter sie ausgeführt ist, um so vollkommener ist ihr einziger Effekt: die Täuschung.“ (Blumenberg 1989, S.713) – Punktgenau an dieser einen Stelle stimmen Blumenberg und Kittler vollkommen überein.

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