„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 27. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie
 
(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)
 
In meinem gestrigen Post zu „Beispielen und Analogien“ habe ich Northoffs Analogie zwischen einem „Bewußtsein an sich“ und einem „Geschmack an sich“ der Homunculusproblematik zugeordnet. Unter ‚Homunculusproblematik‘ verstehe ich den Versuch, einen ‚Ort‘ im Gehirn zu bestimmen, an dem sich – auf welche Weise auch immer – ‚Körper‘ in ‚Geist‘ bzw. ‚Geist‘ in ‚Körper‘ verwandelt. Dabei schwingt immer die Vorstellung eines kleinen Männleins (oder wahlweise Weibleins) mit, das an der Tastatur bzw den Hebeln des Körpers sitzt und diesen ‚steuert‘. So primitiv ist es zwar nie gemeint, – aber jede Trennung eines geistigen ‚An sich‘ von körperlichen Vorgängen und die anschließende Suche danach, wo es sich wohl verstecken mag, läuft auf so einen Homunculus hinaus.

Das „Bewußtsein an sich‘, von dem hier die Rede ist, besteht in dem ‚Ich denke‘, das jede Wahrnehmung, jedes Gefühlserlebnis, jede Vorstellung begleiten können muß, um daraus eine bewußte Wahrnehmung bzw. eine bewußte Vorstellung zu machen. Auch die Geschmacksempfindung, die sich bei der Vorstellung oder bei der sinnlichen Wahrnehmung eines Füllbratens einstellt, muß von so einem ‚Ich schmecke‘ begleitet werden, um uns als bewußter Genuß präsent zu sein. Es macht so wenig Sinn, Geschmack ohne Füllbraten zu denken, wie es Sinn macht, Füllbraten ohne Geschmack zu denken. Es gibt keinen Geschmack an sich. Auf der Ebene der Begriffe hat es Kant mal so formuliert: Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Das gilt auch fürs Schmecken.

Es gibt also kein ‚Ich denke‘ jenseits des Denkens. Es handelt sich lediglich um eine Denknotwendigkeit, die den phänomenalen Unterschied zwischen ‚bewußtlosen‘ Reflexen und Instinkten und bewußten Wahrnehmungen kennzeichnet. Schon der Versuch, empirische Korrelate zum ‚Ich denke‘ zu finden, würde dieses selbst zu einer Vorstellung machen und so in einen Homunculus verwandeln. Wenn also jede Vorstellung von einem ‚Ich denke‘ begleitet wird, dann deshalb, weil es im Wortsinne eine ‚Begleiterscheinung‘ ist. Dennoch ist diese Begleiterscheinung nicht bedeutungslos: sie macht eine Differenz aus zu anderen Vorstellungen, die nicht von einem ‚Ich denke‘ begleitet werden. Beim Menschen handelt es sich dabei auch bei diesen ‚Ich‘-freien Empfindungen nie nur um Reflexe oder bloße Instinkte, sondern immer auch um potentielle Vorstellungen, d.h. um unser Unterbewußtes. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Sie können unter bestimmten Umständen bewußt werden, also von einem ‚Ich denke‘ begleitet werden. Bis dahin sind sie aber eben nicht bewußt, sondern unbewußt. Ihre Dynamik bleibt dem Bewußtsein verborgen.

Versuche, die denknotwendige Spaltung der Einheit der (Gestalt-)Wahrnehmung in ein Subjekt (als ‚Ich denke‘) und in ein Objekt (was ‚ich‘ gerade denke oder wahrnehme) auf ein ‚An sich‘ des Denkens zurückzuführen, geraten gelegentlich in verräterische Tautologien. So auch Northoff: „Die räumlich-zeitliche Kontinuität des Bewusstseins stammt weder aus der empirisch beobachtbaren Welt noch vom Jenseits einer transzendenten Welt. Das aber lässt nur eine Möglichkeit offen. Nämlich die, dass das Bewusstsein aus dem Verstand selbst kommt.“ (2012, S.37) – Northoff erklärt hier das ‚Bewußtsein‘ durch den ‚Verstand‘, ohne zu erläutern, worin eigentlich der Unterschied zwischen beidem liegt. Ist denn nicht schon der Verstand Bewußtsein? Wenn nicht, heißt das, daß es einen unbewußten Verstand gibt? Ist der Verstand also das Unbewußte, von dem gerade die Rede war? Northoff geht hier nicht weiter darauf ein.

An anderer Stelle schreibt Northoff: „Die Einheit des Bewusstseins muss durch eine Einheit konstituiert werden und nicht durch eine Vielheit. Bewusstsein von verschiedenen Objekten und Ereignissen setzt eine Einheit des Bewusstseins voraus. Ohne eine solche Einheit ist ein einheitliches Bewusstsein von verschiedenen Gegenständen unmöglich.“ (2012, S.114) – Die Trennung des Bewußtseins in ein Bewußtsein von Objekten und in eine Einheit des Bewußtseins führt direkt zur tautologischen Aussage, daß ein einheitliches Bewußtsein ohne Einheit des Bewußtseins nicht möglich sei.

Tautologische Formulierungen dieser Art sind oft dem Bedürfnis nach Letztbegründungen geschuldet. Da das Gegenstandsbewußtsein sich mit seinen Gegenständen verändert und wandelt, versucht man es auf eine letzte Instanz, eben das transzendentale Bewußtsein zurückzuführen, das sich selbst immer gleich bleibt und so Kontinuität gewährleistet. Das ist soweit auch in Ordnung, solange man sich bewußt ist, daß es dabei um transzendentale Denknotwendigkeiten geht, nicht aber um empirische Fakten oder Daten.

Homunculus-Theorien beginnen immer dort, wo man nach der logisch unvermeidlichen Subjekt-Objektspaltung des Ich dieses Ich logisch, phänomenologisch oder empirisch zu begründen versucht. Hier beginnen alle Dilemmata und Tautologien der Letztbegründung. Stattdessen scheint es mir angemessener zu sein, das Denken als einen „Vollzug“ zu verstehen, wie er von mir in einem Post zu Meyer-Drawe diskutiert worden ist. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Im Vollzug haben wir das Jetzt und Hier des Denkens, seine Präsenz. Sobald ich versuche, dieses Selbst bzw. Ich zu denken, liegt es als Einheit dieses Denkens immer schon hinter ihm, als Fluchtpunkt, unendlich klein, kleiner als jeder Homunculus. Dieses Denken des Denkens bildet kein Sein für sich, sondern markiert lediglich die Differenz zwischen Bewußtem und Unbewußtem bzw. Unterbewußtem.

An wieder anderer Stelle verwendet Northoff für den Ort der Transformation empirischer Prozesse in Bewußtseinprozesse, den er im neuronalen Ruhezustand des Gehirns vermutet, das Bild von der fruchtbaren Erde im Frühling und dem Samen des Bewußtseins: „Das Gehirn und sein neuronaler Ruhezustand tragen den Keim zur Entstehung des Bewusstseins schon in sich. So wie im Frühling die Samen der Früchte des letzten Herbstes in der Erde liegen, so ist im Gehirn der Samen des Bewusstseins vorhanden. ... Wie allerdings ein solcher ich-bezogener Samen des Bewusstseins in die Erde beziehungsweise Ruhe des Gehirns kommt, ist völlig unklar.“ (2012, S.237)

Auch hier – trotz des poetischen Bildes – gilt: die Möglichkeitsbedingung von Bewußtsein ist transzendental. Der Samen aber ist nicht transzendental. Er ist sicherlich ein Potential, denn er trägt Leben in sich. So wie im Samen ‚das‘ Leben ‚steckt‘, ‚steckt‘ im Leben das Bewußtsein, – als Potential eben. Potentialität ist aber nicht Transzendentalität! In der transzendentalen Methode geht es nur um die Denkmöglichkeit von Bewußtsein, nicht um das – unbestreitbare – Potential der Materie, Bewußtsein hervorzubringen. Sonst müßte man die ganze Evolution des Lebens auf der Erde nicht mehr als empirischen, sondern als transzendentalen Prozeß beschreiben. Letztlich haben wir es auch hier wieder mit einem Homunculus zu tun, den mein irgendwo hineinstecken muß: in Form eines Samenkorns.

Im übrigen begnügt sich Northoff nicht mit der Feststellung, daß es nach wie vor „völlig unklar“ sei, wie „ein solcher ich-bezogener Samen des Bewusstseins in die Erde beziehungsweise Ruhe des Gehirns kommt“. Er hat da so seine Vermutungen. So spricht er z.B. von den „Codes des Gehirns“ (2012, S.212f.), die dazu in der Lage sind, „neuronale und statistische Zustände in phänomenale“ umzuwandeln (vgl. 2012, S.212). So ein Code müßte genau das können, was Northoff bislang dem transzendentalen Bewußtsein zugeschrieben hatte: „Der Code müsste dann eine gewisse Einheit herstellen können: die Einheit, durch die dann Bewusstsein letztendlich ermöglicht wird.“ (2012, S.213) – Auch diese Spekulation hinsichtlich eines möglichen Gehirncodes, den man vielleicht eines Tages wird ‚knacken‘ können, bildet nur eine weitere Version des Homunculus, also des von der Gegenstandswahrnehmung getrennten, verselbständigten transzendentalen Bewußtseins.

Northoff liefert selbst die dazu passenden Bilder. So ist z.B. von dem Selbst als einem „Piraten“ die Rede, der das Gehirn „kapert“. (Vgl. 2012, S.231) Das ist schon mal ein interessanter kleiner Homunculus. Aber so draufgängerisch wie ein Pirat bräuchte der Kleine gar nicht zu sein, – es sei denn, er möchte gerne etwas größer erscheinen als er ist. Denn in der ozeanischen „Ruhe des Gehirns“ wird der kleine Pirat „bereitwillig“ in Empfang genommen: „Das Selbst bzw. Ich kapert die Ruhe des Gehirns, die sich scheinbar bereitwillig vereinnahmen lässt.“ (Ebenda) Letztlich handelt es sich nämlich wohl doch nicht um einen draufgängerischen Piraten, sondern eher um einen friedlichen ‚Hausbesitzer‘ mit Zugangsberechtigung: „Das Selbst hat offenbar einen speziellen Schlüssel zum Ruhezustand des Gehirns.“ (Ebenda) – Hier sind wir nun in der Bilderfolge vom Piraten zum Hausbesitzer mit Schlüssel und Schloß endgültig beim Code angelangt, den es zu ‚knacken‘ gilt; beim Codeschlüssel, den wir brauchen, damit der Ruhezustand des Gehirns phänomenale Zustände zu produzieren beginnt.

Nehmen wir einmal an, es ‚gibt‘ tatsächlich so einen Code. Welchen Inhalt müßte er haben bzw. welche Anweisungen müßte er beinhalten, um in der Vielheit unserer Wahrnehmungen eine Einheit hervorzurufen? Dieser Code müßte irgendwie die Differenz zwischen empirisch und phänomenal markieren. Kant würde hierzu schlicht und einfach sagen: der Code müßte den empirischen Prozessen ein ‚Ich denke‘ hinzufügen. Das ist so einleuchtend wie wenig informativ. Wir drehen uns im Kreis. Können wir nicht vielleicht noch mehr zu den möglichen Inhalten dieses Codes sagen?

Mit Plessner könnten wir hier weiter kommen. Plessner würde das Bewußtsein an der Innen/Außen-Differenz und dem aus dieser Differenz entspringenden Bedürfnis nach Expression, nach Ausdruck festmachen. Die ganze Spaltung des ‚Ich denke‘ in ein seine ‚Gegenstände‘ denkendes Ich und in ein sich selbst denkendes ‚Ich‘ ist letztendlich dem Bedürfnis geschuldet, sich vor sich selbst und anderen wie mich selbst verständlich zu werden. Sie ist ein Effekt unserer mit dem Körperleib verbundenen exzentrischen Positionalität. Nicht nur ein einfaches ‚Ich denke‘ markiert also die Übergangsgrenze zwischen empirischen und phänomenalen Prozessen, sondern noch fundamentaler Expressivität.

Letztlich ist es nämlich gar nicht so sicher, ob nicht auch Tiere apperzipieren, also ihren Wahrnehmungen ein ‚Ich denke‘ hinzufügen. Es gibt empirische Befunde wie die Spiegeltests, daß zumindestens einige Arten ebenfalls dazu in der Lage sind. Expressivität aber ist ein typisch menschliches Bedürfnis und macht ihn überhaupt erst zur Person. Der Code müßte also nicht nur das ‚Ich denke‘, sondern auch ‚Menschlichkeit‘ kodieren; und Menschlichkeit besteht bei Plessner in der Expressivität. Kurz: der Code müßte im menschlichen Sinne ‚subjektiv‘ sein. Der Code wäre letztlich alles das, was er eigentlich erklären soll!

Vielleicht habe ich an dieser Stelle etwas übertrieben und dem Gehirncode zu viel aufgebürdet. Aber es geht um die Transformation empirischer Prozesse in phänomenale Zustände. Wir bewegen uns also an der Grenze zwischen Außen und Innen. Diese Grenze bekommen wir nicht in den Blick, wenn wir uns auf bestimmte Gehirnfunktionen fokussieren, sondern eben nur, wenn wir den ganzen Menschen thematisieren, also – mit Plessner – beim Körperleib ansetzen. Wenn wir das tun, philosophieren wir. Der Blick aufs Gehirn ist immer nur die unphilosophische, empirisch bleibende Spekulation auf den Homunculus darin.

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