„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Ich habe mich schon in meinen Posts vom 13.06.21.06. und 13.07.2010 mit der Problematik der Ideen- und Wesensschau auseinandergesetzt. Die „Wesensschau“ setzt eine bestimmte geistige Haltung, eine Selbstdisziplin voraus, die ich nur als ambivalent bewerten kann. Sie führt zu einem esoterischen Verständnis von Wissen, zu dem nicht alle gleichermaßen Zugang haben. Damit plädiere ich nicht etwa für den erkenntnistheoretischen Vorrang eines durch Intersubjektivität abgesicherten Konsenswissens, sondern es geht mir vielmehr um ein Wissen, zu dem alle Erkenntnissubjekte gleichermaßen Zugang haben (was nicht automatisch gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Intersubjektivität sein muß!), ungeachtet ihrer intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten. Es geht mir um die Möglichkeit einer eigenständigen individuellen Urteilskraft.

Dieses Anliegen finde ich auch bei Blumenberg wieder. An einer zentralen Stelle in den „Höhlenausgängen“, an der es um einen Vergleich zwischen dem „Phänomenalismus“ von Leibniz und der „Phänomenologie“ von Husserl geht, schlägt sich Blumenberg auf die Seite von Leibniz: „Eine schulneutrale Sprache kann nur deskriptiv sein. Sie muß alle Ansätze für dogmatische Behauptungen zur Differenz von Schein und Sein ausschalten. Diese Anstrengung verbindet den Phänomenalismus von Leibniz mit der Phänomenologie Husserls zwei Jahrhunderte später. Aber Leibniz läßt noch nichts erahnen von dem Instrument der Reduktion, das – von ihm her gesehen – als ausgefeilte Technik zur Vermeidung dogmatischer Festlegungen erscheinen müßte, statt Zugang zur ‚Wesensschau‘ zu sein. Vielleicht hätte Leibniz gegenüber Husserl mit dieser Akzentuierung recht behalten.“ (Blumenberg 1989, S.488)

Blumenberg gibt hier Leibniz nicht einfach nur vielleicht recht; bei dem ‚vielleicht‘ handelt es sich lediglich um eine vorsichtige historische Relativierung, denn es liegen immerhin zwei Jahrhunderte zwischen Leibniz und Husserl. Tatsächlich bringt Blumenberg hier am Vergleich zwischen Husserl und Leibniz seine eigene grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Husserlschen Verfahren der Reduktion zum Ausdruck, die faktische ‚Existenz‘ der Dinge zugunsten ihrer ‚Essenz‘, also ihrem Wesen, einzuklammern: „Sie (die phänomenologische Reduktion – DZ) hält die Existenz der physischen Welt für unerheblich genug, um sie zur Gewinnung höherer philosophischer Einsicht in das Wesenhafte beiseite zu setzen und unbeachtet zu lassen.“ (Blumenberg 1989, S.445)

Durch die Reduktion der Existenz auf das Wesen wird der Unterschied von Innen und Außen aufgehoben. Für den in die Wesensanschauung vertieften Phänomenologen sind alle Gedankenbilder gleich, also innerlich, also Schatten an der Höhlenwand: „Die phänomenologische Wesensschau ist stationär; sie findet im Gehäuse, in der Höhle statt. Vor ihrem Verfahren sind Dinge wie Bilder, Körper wie Schatten, Realitäten wie Fiktionen, Gegenwärtigkeiten wie Vergegenwärtigungen gleichermaßen Zugänge zur Evidenz.“ (Blumenberg 1989, S.708) – Kurz: Die Evidenz der Wesensschau ist immer eine Evidenz innerhalb der Höhle.

Blumenbergs Skepsis gegenüber der Wesensschau hebt also zum einen die darin fehlende Differenz zwischen einer Innenwelt und einer Außenwelt hervor. Es fehlt bei ihm aber auch nicht die subjektive Differenz zwischen denen, die einer Wesensschau teilhaftig geworden sind, und denen, die nach wie vor ausschließlich ihrer aktuellen sinnlichen Wahrnehmung unterworfen sind. Im Platonischen Höhlengleichnis findet die Ideenschau nicht in der Höhle statt, sondern draußen im hellen Sonnenlicht, und es ist nur einer, dem sie zuteil wird. Wenn er nun in die Höhle zurückkehrt, trifft er auf Höhlenbewohner, die es immer nur mit den Schatten auf der Höhlenwand zu tun gehabt haben. Der Rückkehrer steht nun vor dem Problem, den Höhlenbewohnern mit Worten etwas beschreiben zu müssen, wovon sie selbst keine Anschauung haben. An dieser Stelle versagt der sokratische Dialog: „Der Dialog mit seinem wichtigsten Mittel, den Partner in Widersprüche zu verwickeln und in Sackgassen zu treiben, bleibt angesichts der ästhetisch belebenden Qualität der Schatten hilflos. Denn es gibt gar keine ‚Widersprüche‘ in einer Folge von Erscheinungen. ... Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, daß man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist.“ (Blumenberg 1989, S.88f.)

Letztlich handelt es sich bei dem Wissen des Höhlenrückkehrers um pure Esoterik. Um dieses Wissen mit ihm teilen zu können, müßten die Höhlenbewohner denselben ‚Bildungsweg‘ – Blumenberg spricht hier immer von „Paideia“ – wie er zurückgelegt haben. Es handelt sich um ein Wissen, das nicht intersubjektiv ist. Wir haben es also in gewisser Weise mit einem individuellen Bildungswissen zu tun, das aber nicht mit der individuellen Urteilskraft, wie wir sie hier im Blog immer thematisiert haben, verwechselt werden darf. Zwar bedarf es auch zu dieser individuellen Urteilskraft einer individuellen Anstrengung und Disziplin, aber diese Disziplin ist nicht abhängig von einem speziellen Bildungsweg, sondern lediglich von einem Entschluß.

Dieser Entschluß, sich freizumachen vom Urteil anderer, ermöglicht nun wiederum einen eigenen individuellen Bildungsweg. Aber dieser führt in keine Esoterik, weil er an die eigenen Sinne zurückgebunden bleibt. – Blumenberg teilt die Skepsis gegenüber dem Wissensbesitz des Höhlenrückkehrs: „Das Ärgernis des Platonismus, jedes Platonismus, wird greifbar an der Zumutung, in die Preisgabe des Gegebenen einzuwilligen, ohne vom Gegenwert auch nur das Geringste dargereicht zu erhalten. ... Der Rückkehrer ist mit leeren Händen gekommen ...“ (Blumenberg 1989, S.162) – Auf diese Problematik werde ich in einem späteren Post zur Kinästhetik und Intersubjektivität noch einmal zurückkommen.

Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, in dem der Wesensbegriff sich mit dem Begriff des Vollzugs berührt, wie ich ihn bei Meyer-Drawe diskutiert habe. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Dabei war es um das Problem gegangen, daß wir beim Versuch, unsere Lebensvollzüge, vom Wahrnehmen, Erleben, Erinnern bis hin zum philosophischen Denken, unmittelbar zu beobachten, diese immer nur verfehlen. Sobald wir den Blick auf sie zu richten versuchen, sind sie schon vorbei. Das ist der Begriff des Vollzugs: wir haben ihn immer schon vollzogen, wenn wir ihn zu denken versuchen. Das betrifft auch die unausweichliche Spaltung des Ich in ein Subjekt, das sich als Objekt denkt und so in dieser Spaltung sich selbst verborgen bleibt.

Die platonische Ideenschau beinhaltet nun das seltsame Paradox eines blitzhaften, momentanen Blicks auf diesen Vollzug, – wie im Blitzlicht einer Kamera. Eigentlich ist diese Ideenschau unabhängig von jeder individuellen Paideia. Sie ist ein singuläres Ereignis im Leben des Esoterikers, das keinen längeren Aufenthalt erlaubt: „Zwar wäre es ein Glück, in der Anschauung der Ideen zu verweilen, aber keine Anstrengung, darin Zuwachs um Zuwachs zu erringen. Diese Erkenntnis muß zwar verteidigt, aber nicht errungen werden. Das liegt im Wesen der momentanen Evidenz als der Bestimmung des antiken Wirklichkeitsbegriffs.“ (Blumenberg 1989, S.606)

Das Prinzip dieser blitzhaften Evidenz ist letztlich dasselbe wie das Prinzip des Meyer-Draweschen Vollzugs, – nur noch etwas dramatischer im Erhaschen eines flüchtigen Blicks: in dem Moment, wo wir einen Blick darauf werfen, ist es auch schon vorbei. Wir sind zwar etwas weitergekommen als bei dem bloßen Versuch, einen Blick darauf zu werfen, wobei eben schon der Versuch selbst scheitert. Aber wir können das, was wir flüchtig zu sehen bekommen, nicht festhalten und mitnehmen zu den Höhlenbewohnern, um es mit ihnen zu teilen.

Blumenberg spielt nun mit diesem Vergangenheitsbezug, der mit jeder Wesensschau gegeben ist. So verweist er darauf, daß dem Höhlenrückkehrer nur sprachliche Mittel zur Verfügung stehen, um die Höhlenbewohner davon zu überzeugen, daß es eine Welt jenseits ihrer Welt gibt. Waren aber schon die Schatten an der Höhlenwand nur Abbilder zweiter Ordnung, nämlich von künstlich hergestellten Gegenständen, die hinter dem Rücken der Höhlenbewohner vor dem Höhlenfeuer hin und her getragen wurden und die wiederum Abbilder der Welt jenseits des Höhlenausgangs darstellten, so sind die Mittel der Sprache im Vergleich zu den Schatten noch einmal Abbilder dritter Ordnung: „In gewisser Weise waren die Mittel dieses Sprechens nochmals ‚weniger seiend‘ als die Schatten selbst, in deren Gestalt ankam oder ausblieb, was besprochen und wie es besprochen war – in jedem Fall als etwas, was nicht erst ankommend oder ausbleibend zu dem wurde, was es war. Es war dies schon gewesen.“ (Blumenberg 1989, S.490) – In diesem „Es war schon ge-wesen“ aber steckt das Prinzip der von der Existenz abstrahierenden Wesenanschauung, – daß wir die Dinge im Vollzug selbst niemals zu sehen bekommen: „Der letzte Augenblick des Daseins ist der erste des Wesens.“ (Blumenberg 1989, 681)

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