„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 15. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Wenn Blumenberg schreibt, daß die Rechtfertigung von Zwang gegen Uneinsichtige mit deren nachträglichen Einsicht eine „gefährliche Grundvorstellung“ sei (vgl. Blumenberg 1989, S.751), so braucht man nur an John Locke zu denken (vgl. meinen Post vom 15.03.2012), um zu verstehen, daß Blumenbergs Warnung sich unter anderem auch an die Pädagogen richtet, die auf diese Weise ihre Allmachtsphantasien hinsichtlich der Formbarkeit ihrer Zöglinge rechtfertigen.

Die Aufklärungspädagogen waren besonders empfänglich für eine besondere Fassung des Höhlengleichnisses, nach der ein an Kaspar Hauser erinnernder Höhlenbewohner von Geburt an in einer Höhle lebt und aufwächst, um sie dann als vierzigjähriger Mann zu verlassen und sich nun von den neugierigen Menschen draußen in der Welt über sein angeborenes Wissen befragen zu lassen. (Vgl. Blumenberg 1989, S.318ff., 325ff.) In dieser von Arnobius stammenden Fassung des Höhlengleichnisses erweist sich der Höhlenbewohner als vollkommen unwissend. Er besitzt keinerlei angeborene Urteile und Kenntnisse. So wird er zum Urbild der tabula rasa der Aufklärung.

In dem von Arnobius beschriebenen Höhlenbewohner findet der Aufklärungspädagoge seinen Anspruch bestätigt, aus dem „noch ungeprägten, unverformten, vorkulturellen und begriffsfernen Menschen“ – eben aus dem Kind – noch alles machen zu können, ohne in ihm auf Widerstände zu stoßen. (Vgl. Blumenberg 1989, S.358) Blumenberg zufolge ist der von ihm als „Paideut“ bezeichnete Pädagoge letztlich ein „verhinderter Demiurg“: „... in allen seinen geschichtlichen Nachfolgeformen wird ihm bohrend nachhängen, daß er das eine sein muß, weil er das andere nicht mehr sein kann.“ (Blumenberg 1989, S.144) – Weil der Pädagoge nicht mehr die Welt erschaffen kann, möchte er wenigstens die Erschaffung des Menschen im Kind kontrollieren und beaufsichtigen können.

Am Anfang der neuzeitlichen Pädagogik stehen also Phantasien von der „Allmacht der Erziehung“ (Blumenberg 1989, S.346). Dafür bedarf der Pädagoge des Handlungsspielraums, und diesen liefert ihm keine Anthropologie, die den Menschen schon von Natur aus mit allem ausstattet, dessen er zum Überleben bedarf: „Das durch Vollausstattung zur Welt befähigte und zur authentischen Erreichung seines erfüllten Lebens qualifizierte Wesen spottet der gütigen wie der harten pädagogischen Zurüstungen.“ (Blumenberg 1989, S.358) – Auch hieran sieht man, wie ungewöhnlich Rousseaus pädagogisches Konzept ist, der genau diese von der Natur gewährte Selbstgenügsamkeit des Menschen postuliert. Weshalb er ja auch eine ‚negative‘ Pädagogik konzipiert, eine, die weitgehend auf jede Erziehung verzichtet. Dabei war Rousseaus wichtigstes Argument für die negative Erziehung, daß die Kindheit ein zu kostbares Gut ist, um sie – als ungelebtes Leben – einer fernen, unbekannten Zukunft zu opfern.

Von hier her ist es dann auch nicht mehr verwunderlich, wenn wiederum die Aufklärungspädagogen der Künstlichkeit des Menschen gegenüber seiner Natürlichkeit den Vorzug gaben, bis hin zum Extrem der „Menschmaschine“ eines La Mettrie. (Vgl. Blumenberg 1989, S.393f.) Aufklärungspädagogen wie die Philanthropen bezeichnet Meyer-Drawe deshalb auch als Vorläufer des Behaviorismus. (Vgl. meinen Post vom 16.01.2012) Blumenberg urteilt ähnlich: „Das mechanistische Bild des Menschen – es ist schon das des ‚Mängelwesens‘ – wirkt allerdings zu jämmerlich, als daß es einen bewundernden Ausruf verdient haben könnte; doch liegt ein Potential von Erwartungen in der Aussicht auf vollkommene Durchsichtigkeit eines Mechanismus, der bei sachgemäßer Wartung und Einstellung erhaltungs- und verbesserungsfähig werden konnte. Jedes Stück Metaphysik darin oder dahinter bedeutete den Entzug solcher Ausblicke auf die ‚Techniken‘ der Menschenbildnerei.“ (Blumenberg 1989, S.389)

So weist die neuzeitliche Pädagogik auch in der Darstellung von Blumenberg eine geheime Affinität zu Konzepten der Macht, zu Behaviorismus und Kybernetik auf: „Zwischen der Erfindung des Organismus als Mechanismus und dessen letzter Ausstattung durch symbolische Unterrichtung und Besitztümer entsteht eine einzige homogene Verfahrensweise. Sie verleiht die Bezeichnung Kunstfertigkeit – oder etwas moderner: Technik. Alles ist Technik. Das Bewußtsein selbst ist ein Inbegriff technischer Verfahren.“ (Blumenberg 1989, S.394)

Und Blumenberg sieht diese geheime Affinität fortwirken bis in die Normalitätserwartungen (Bildungsstandards) von Unterricht und Bildung hinein, für die das Schul- und Bildungswesen im Dienste gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Reproduktionserwartungen bis heute steht und dafür einen Großteil der Kindheit und Jugend zum Opfer bringt, – verlorene Lebenszeit, wie Blumenberg festhält: „In keinem der Höhlengleichnisse, ihren Transformationen, Reflexen und Übertragungen, hat die Frage nach der im Untergrund verlorenen Zeit, nach dem ungelebten Stück Leben, jemals eine Rolle gespielt. Das alles lösende Ergebnis der Paideia, die Rechtfertigung des Rückwärtigen durch das Vorwärtige, der niederen durch die höhere und höchste Wirklichkeit – auch wenn diese in fassungsloser Verblüffung unbegriffen bleibt –, bildet das stabile Diagramm der gedanklichen Experimente. Durch Paideia sollte noch der unplatonische Fehlschlag einer lustlosen und stumpfen Einführung in die Welt zurechtgebracht werden. Vertrauen in die Verfahren von Belehrung und Bildung auf die übliche Lebensform hin stand dafür ein, das Resultat der Normalität zu gewährleisten.“ (Blumenberg 1989, S.404f.)

So werden Erziehung und Bildung zu Techniken einer Höhlenwelt, die – angeblich im Dienste des Höhlenausgangs – alles dafür tut, zu verhindern, daß jemand dem Sokrates zu diesem Ausgang folgt.

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