„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 29. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Im krassen Gegensatz zu Lambert Wiesings „Das Mich der Wahrnehmung“, in dem Modellbildungen im Bereich der Sinneswahrnehmung prinzipiell abgelehnt und ausschließlich unmittelbare Wahrnehmungserlebnisse thematisiert werden (vgl. meinen Post vom 04.06.2010), hält Kittler fest: „Die nackte These, um sie gleich voranzustellen, würde lauten: Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.“ (1999/2011, S.32) – Ein solches Modell bildet z.B. die Leinwand, die Kittler ja schon in „Grammophon. Film. Typewriter“ mit Edgar Morin als „nach außen gestülpte Netzhaut“ beschreibt. (Vgl. 1986, S.186)

Da es Kittler zufolge in den Medien vor allem darum geht, die Sinnesorgane des (sogenannten) Menschen zu täuschen (vgl. 1999/2011, S.37), und sie deshalb in erster Linie „zur strategischen Überrollung seiner Sinne entwickelt worden sind“ (vgl. 1999/2011, S.35), orientiert sich die Medientechnologie natürlich auch an der Physiologie der „einzelnen Sinnesbereiche“ (vgl. 1999/2011, S.209). Dabei handelt es sich vor allem um zwei Sinnesbereiche, um Akustik und Optik, während die anderen Sinnesbereiche ignoriert werden. Ton- und Bildmedien wurden im 19.Jhdt. (mit ihrer entsprechenden Vorgeschichte vor allem im Bildbereich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit) zunächst getrennt voneinander entwickelt, um dann gegen Ende des 19.Jhdts. und im Verlauf des 20. Jhdts. unter tatkräftiger Mithilfe zweier Weltkriege zu einem „Medienverbund“ zusammengefügt zu werden. (Vgl. 1999/2011, S.76f., 159, 161, 168, 202, 209f., 222, 257f.)

Kittlers Erörterungen zu den Printmedien, also dem Buch und der Zeitung, zeigen vor allem eins: das mühsame Entziffern von Buchstaben stört diese Entwicklung zum Medienverbund eher, als daß es sie unterstützt. Dennoch sollte das Lesen Ende des 18., Anfang des 19. Jhdts. paradoxerweise zu einer ersten Einübung in imaginäre Bewußtseinstechniken werden, wie sie dem Medienverbund des späteren Tonfilms entsprechen. Kittlers Darstellungen zufolge begann das mit den Jesuiten und ihren Exerzitien. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola hatte mit diesen Exerzitien nach einer ausgiebigen Lektüre christlicher Erbauungsschriften über die Hölle begonnen. Mit seiner lebhaften und durch Krankheit zusätzlich empfindsam gewordenen Phantasie malte er sich die Höllenqualen farbig aus und ging dabei alle damals üblichen ‚fünf‘ Sinne systematisch durch (vgl. 1999/2011, S.93), – dabei immerhin eine größere Gründlichkeit an den Tag legend als Kittlers Medienverbund, der ja nur zwei Sinne berücksichtigt: „Folgerichtig ging es dem Jesuitenorden darum, alles früher einmal Gelesene nun so lange und so intensiv zu vergegenwärtigen, bis es aufhörte, Buchstabe oder Text zu sein, und stattdessen anfing, die fünf Sinne selber zu überwältigen.“ (1999/2011, S.92)

Loyola wurde so zum Vorläufer der romantischen Literatur, die – in Konkurrenz zur katholischen Gegenaufklärung wie aber auch in mehr oder weniger heimlicher Komplizenschaft mit ihr – diese Exerzitien zum literarischen Programm erhob. Der Autor sollte seine Leser die Buchstaben im Text vergessen machen und ihn stattdessen unmittelbar, also im Imaginären, von der Erzählung gefangennehmen lassen: „Lessings Abhandlung über Laokoon verglich die Dichtung systematisch mit der Malerei und kam zu dem wirkungspoetischen Imperativ, der Dichter solle uns ‚seinen Gegenstand so sinnlich mach(en), daß wir (nämlich die Leser) uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte‘ ...“ (1999/2011, S.113) – Dazu mußten sich die Leiser eine neue Technik aneignen, das „leise Lesen“, das nun an die Stelle des lauten gemeinsamen Lesens trat, z.B. in Form des väterlichen Bibelvortrags am mittäglichen oder abendlichen Familientisch: „Erst der leise und einsame Leser betrieb seine Lektüre wie eine Perspektive auf die im Text genannten optischen Daten ... Deshalb und nur deshalb konnte er seine Perspektive, die ja von keinem Mittheaterbesucher und dessen anderer Position im Zuschauerraum bestreitbar gemacht wurde, mit allem Glauben und das heißt mit aller Illusion ausstatten.“ (1999/2011, S.141)

Ähnlichkeiten mit dem Kino – also im dunklen Raum, statt wie im Theater im erleuchteten Saal – hatte das leise Lesen auch als klammheimlicher Prozeß unter der Bettdecke, wo man als Kind dem elterlichen Verbot zum Trotz mit der Taschenlampe weiterlas.

Kittlers These ist es jedenfalls, daß die romantische Literatur den europäischen Menschen auf den späteren Medienverbund des Kinos vorbereitet hatte. Die Leser waren schon auf imaginäre Illusionstechniken eingeübt, als ihnen Ende des 19.Jhdts. die ersten bewegten Bilder präsentiert wurden. Andere außereuropäische Kulturen hatten dabei größere Schwierigkeiten zu überwinden: „Andere Kulturen dagegen, bevor unsere Medienkonzerne nach dem Zweiten Weltkrieg zur weltweiten Kolonialisierung aller Wahrnehmung antraten, sollen Schwierigkeiten gehabt haben, eine Syntax aus lebenden Bildern überhaupt zu verfolgen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß das Vermögen, Bildsequenzen zu sehen, seinerseits aus dem historisch erworbenen Vermögen folgte, Buchstabensequenzen nicht als solchen, sondern als imaginären Bildersequenzen zu folgen.“ (1999/2011, S.135)

Es waren nun wie gesagt nicht etwa alle ‚fünf‘ Sinne bei der Entwicklung des Medienverbundsystems von Tonfilm und Fernsehen beteiligt, sondern eben nur Akustik und Optik. Wenn es also um die physiologische Vermessung der „einzelnen Sinnesbereiche“ und ihre anschließende Verbindung zum Medienverbundsystem geht (vgl.1999/2011, S.209), haben wir es nicht wirklich mit der „Einheit der Sinne“ zu tun, wie sie Plessner beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 13.07.2010 bis zum 15.07.10) Es fehlen die Zustandssinne, und es fehlt vor allem der wiederum systematische Bezug aller Sinne auf den ‚Geist‘ bzw. das Bewußtsein. Das Medienverbundsystem kommt völlig ohne diesen Bezug aus.

Interessanterweise ist dieses Manko schon früh Gegenstand der Kritik am Buch und dem damit verbundenen Leseprozeß gewesen. Rousseau hat schon das Bücherlesen, im Sinne von Kittlers „leisem Lesen“, verdächtigt, das selbständige Denken des lesenden Menschen zu behindern. Wenn man Kittlers medientechnologische Genealogie, die ja mit den gegenaufklärerischen Exerzitien des Jesuitenordens beginnt, berücksichtigt, kann man nicht umhin, Rousseau mit seinem Verdacht zumindestens teilweise rechtzugeben, – auch wenn er mit seiner Kritik an Büchern zum Vorbild von in regelmäßigen Abständen immer wieder neu aufgelegten, gleichermaßen kulturpessimistischen wie pädagogischen Reflexen auf die jeweiligen neuen Medien wurde. In schöner Regelmäßigkeit wurde mal dem Kino, dann dem Fernsehen und schließlich dem Computer vorgeworfen, für die Entwicklung des Kindes schädlich zu sein. Heutzutage erleben wir aber eher das Gegenteil. Keine bildungspolitische Stellungnahme ohne den Hinweis auf die Notwendigkeit möglichst frühzeitiger medienpädagogischer Maßnahmen in Schulen und ihrer Ausstattung mit modernen Computersystemen. – Aber diese überraschend positive, pädagogische Beurteilung von Medien sollte einem nicht weniger zu denken geben, als deren pauschale Verurteilung.

Der Punkt ist wohl doch der, daß kein Medium – weder Bücher noch Computer – dazu geschaffen wurde, uns das Denken abzunehmen. Abgesehen davon, daß kein Medium das überhaupt könnte! Der einzige Effekt, den die Medien in Bezug auf das Denken haben können – und das war eben Rousseaus Sorge, die sich bei Kittler ja letztlich auch bestätigt –, ist, das Denken abzuschaffen. Kein Computer wird jemals an unserer Stelle denken; wir aber können – und das ist eine durchaus reale Gefahr – mit dem Denken aufhören.

Letztlich gibt es bis heute auch kein Medienverbundsystem, das wirklich an die Stelle der Einheit der Sinne getreten ist, wie es Kittler suggeriert. Lediglich Auge und Ohr wurden technologisch miteinander verknüpft, – den Rest schafft die Imagination des Publikums, wie ja auch Kittler nicht müde wird zu betonen. So muß man also konstatieren – zu Kittlers Mißvergnügen –, es gibt den Körper noch immer. Und es gibt keinen menschlichen Körper ohne zumindestens die Option auf einen denkenden Verstand.

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