„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 27. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Ich bin schon in meinem Post vom 08.04.2012 zu „Grammophon. Film. Typewriter“ (1986) ausführlich auf Kittlers Anthropophobie eingegangen, so daß ein weiterer Post zu Kittlers Antihumanismus in „Optische Medien“ (1999/2011) als eine eher überflüssige Wiederholung erscheinen muß. Allerdings möchte ich diese Gelegenheit nutzen und einige grundsätzlichere Anmerkungen zur Verantwortung der Wissenschaft machen. Außerdem kann ich so die eine und andere amüsante Entgleisung im Kittlerschen Antihumanismus nachtragen.

Fangen wir mit dem Amüsanten an. Nicht nur ‚Menschen‘ wie ich ärgern sich über die penetrante Weigerung von ‚Leuten‘ wie Kittler, den ‚Menschen‘ in ihren Überlegungen überhaupt noch in Betracht zu ziehen. (Vgl. 1999/2011, S.34) ‚Penetrant‘ und ärgerlich ist diese Weigerung vor allem deshalb, weil sich Kittler nicht genug darin tun kann, mit billiger Rhetorik immer wieder darauf hinzuweisen und en passant dem ‚Menschen‘, den er für sich selbst doch längst verabschiedet hat, noch einen Tritt hinterher zu geben. Dazu gehört z.B. das fast schon spaßige Verwenden des Alternativwortes ‚Leute‘ (vgl. 1999/2011, S.164, 180, 227, 233f., 257), das so betont nonchalant daherkommt, daß es ganz offensichtlich ist: hier will einer das Wort ‚Mensch‘ nicht verwenden. So nehmen dann z.B. Computer nicht etwa Menschen aus Fleisch und Blut das Denken ab, sondern irgendwelchen „Leuten“ (vgl. 1999/2011, S.164).

Wie gesagt: nicht nur ‚Menschen‘ wie ich ärgern sich über solche ‚Leute‘ wie Kittler. Auch Kittler kann sich ärgern, – und das ist dann eben zur Abwechslung erheiternd. So ärgert er sich z.B. über die angebliche ‚Mode‘ in der Wissenschaft, ständig die Bedeutung des Körpers zu betonen: „Es scheint heute ganze Wissenschaftszweige zu geben, die nichts gesagt zu haben glauben, wenn sie nicht hundertmal Körper gesagt haben.“ (1999/2011, S.188) – Ja ist es denn die Möglichkeit, daß die Kollegen immer noch nicht begriffen haben, daß der menschliche Körper inzwischen durch Medien vollständig ersetzt worden ist? Ich erlaube meinem ‚Körper‘ ein Schmunzeln.

An anderer Stelle verwundert sich Kittler über die „Halsstarrigkeit“ fortschrittlicher Künstleringenieure des 19. Jhdts., die maßgeblich zur Weiterentwicklung technischer Medien beigetragen haben, sich aber trotzdem, wie z.B. der Landschaftsphotograph Muybridge, ein Leben lang weigerten, „von den schweren und unbeweglichen Glasplatten“ abzulassen, so daß er nur insgesamt 12 Aufnahmen vom „Pferdegalopp“ produzieren konnte, anstatt 270 pro Minute. (Vgl. 1999/2011, S.203f.) Muybridges sinnliche Freude an der schweren Körperlichkeit seiner Glasplatten liegt jenseits von Kittlers Horizont. So wie er auch den Erfinder des Zeichentrickfilms Reynaud nicht versteht, der nach Kittlers Darstellung aus der technischen Not heraus, noch keine Photographien auf Filmrollen übertragen zu können, ein „perforiertes und biegsames Band“ mit Handzeichnungen ausfüllte. Als dann kurz darauf Verfahren entwickelt wurden, Photoserien auf Zelluloidrollen zu produzieren, weigerte sich Reynaud aber weiterhin – Kittler ist fassungslos – mit dem Zeichnen von Trickfilmen aufzuhören! (Vgl. 1999/2011, S.197)

Wahrscheinlich ist Kittler nie Kind gewesen. Ich weiß noch sehr gut, daß ich als Kind Zeichentrickfilme jedem realistischen Photoplay vorgezogen hatte, – wenn ich nur die Wahl gehabt hätte. Der standen nicht nur das Fehlen eines Fernsehers, sondern auch die auf einmal pro Jahr (zum Weltspartag) beschränkten Kinobesuche entgegen. Auch heute noch liebe ich die klassischen Zeichentrickfilme, denen Walt Disney – wahrscheinlich sehr zum Verdruß von Kittler – gelegentlich sogar Leinwandabbildungen mit ihrer groben Textualität voranstellte (Kittler würde sagen, daß sie aus lauter Löchern bestehen (vgl. 1999/2011, S.71)) und die den geneigten Zuschauer magisch zum Träumen einluden. Aber ich bin ja auch nur ein ‚sogenannter‘ Mensch.

Das fand ich, wie gesagt, amüsant. Aber nun zur weniger amüsanten Verantwortung der Wissenschaft. Einiges zum Thema Wissenschaft habe ich schon in meinem Post vom 06.12.2010 zu Plessner geschrieben. Da war es um die Frage nach der Wissensentwicklung, dem Wissensfortschritt in der Wissenschaft gegangen. Plessner hatte in „Die verspätete Nation“ darauf hingewiesen, daß die wissenschaftlichen Theorien nicht in erster Linie am Erkenntniszuwachs orientiert sind, sondern – oft nur unbewußt, aber oft auch strategisch und bewußt – auf gesellschaftspolitische Bedürfnisse reagieren. Wenn überhaupt von einem wissenschaftlichen Fortschritt die Rede sein kann, dann vor allem im Sinne einer ‚Geste‘ bzw. ‚Pose‘: der Wissenschaftler beansprucht dann mit seiner Forschung, die Gesellschaft bzw. den ‚Menschen‘, soweit diesem überhaupt eine Relevanz zugebilligt wird, über ihre bzw. seine Vorurteile ‚aufzuklären‘. Dieser Prozeß der Aufklärung und Enthüllung geht auf die Aufdeckung immer tiefer liegender, realitätshaltigerer Mechanismen, von denen her das Verhalten von Menschen und Gesellschaften erklärt wird. Als aktuelle Beispiele solcher Enthüllungen hinsichtlich der conditio humana sei hier nur auf die Genetik, die Neurophysiologie oder – wie bei Kittler – die Informationstechnologien verwiesen.

Der Punkt, auf den ich hinauswill, ist folgender: in der Wissenschaft haben wir es heute im Grunde mit zwei grundverschiedenen Positionen zu tun, die beide nichts miteinander zu tun haben und zwischen denen es keinerlei Kommunikation gibt. Es kann diese Kommunikation auch gar nicht geben. Interdisziplinarität ist hier von vornherein ausgeschlossen! Bei diesen ‚Positionen‘ handelt es sich um Wissenschaftler, die eine Verantwortung für den Menschen empfinden und ihr gerecht zu werden versuchen. In diesem Blog besprochene, noch lebende Autoren dieser Richtung sind z.B. Welzer, Beck/Beck-Gernsheim, Meyer-Drawe, Geier, de Waal, Meyer-Schönberger und Assmann. Das sind die Autoren, die sich ausdrücklich zu ihrer Verantwortung für die conditio humana auch einer zukünftigen Menschheit bekennen. Es mag überraschen, wenn ich dieser Reihe noch Metzinger hinzufüge. Zwar nimmt Metzinger den Menschen nur als informationsverarbeitende Maschine zur Kenntnis, aber er macht sich dennoch paradoxerweise Gedanken über dessen menschliche Zukunft. Einige andere Autoren, die ich in diesem Blog besprochen, aber hier nicht genannt habe, müssen deshalb nicht eine antihumane Position einnehmen. Ich habe lediglich keine Kenntnis von expliziten Äußerungen in die eine oder in die andere Richtung.

Und dann gibt es eben die expliziten Menschenverächter, die sich wie Kittler nicht genug darin tun können, ihre Menschenverachtung und Maschinenverliebtheit zum Ausdruck zu bringen, – und das angesichts eines globalen Desasters, das sie entweder völlig ignorieren oder mit neuen Ingenieursleistungen als problemlos regulierbar vorgeben. Kittler ist sich nicht zu schade für eine „Garantie auf Erfindbarkeit im allgemeinen“ (1999/2012, S.165). Solche Garantien abzugeben kostete Kittler letztlich nichts, denn den kürzlich Verstorbenen wird wohl niemand je haftbar machen können.

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