„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 14. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Die Seele und das Unbewußte decken ein weitgehend ähnliches Bedeutungsfeld ab. Während aber das Unbewußte vor allem beinhaltet, daß wir in seinem Bereich nicht wissen können, vermittelt uns die Seele Gewißheiten, die über bloßes ‚Wissen‘ hinausgehen. Das Unbewußte besteht aus lauter Ungewißheiten, die unser Wissen bedrohen. In der Seele glaubt sich der Mensch einzigartig und fühlt sich als Individuum. Im Geist weiß er sich allen anderen Menschen als gleich und unterwirft sich keiner anderen Autorität als der der Vernunft und des besseren Arguments. Vom Unbewußten fühlt sich der Mensch in seiner Individualität und in seinem Verstand bedroht. Das Unbewußte ist das Gebiet der Psychoanalyse, die Seele ist das Gebiet der Psychologie und der Pädagogik, und der Geist ist das Gebiet der Philosophie und der Geisteswissenschaften.

Nach Kittler ist das Unbewußte das Reich des „Unsinns“ (1986, S.134) und zugleich des Realen. Es in Form von Worten und Sätzen zu protokollieren, wie es der geschulte Psychoanalytiker tut, während sein Klient „Wortsalat“ (1986, S.134) produziert, überführt dieses Unbewußte nur wieder in Sinn und unterwirft es seiner Zensur. Das eigentliche Medium des Unbewußten ist deshalb nicht die Schrift, sondern das Rauschen: „Als sollte der ‚psychische Apparat‘ Freuds schöne Wortschöpfung oder Ersatzbildung für die altmodische Seele, eine Buchstäblichkeit werden, fällt das Unbewußte mit elektrischen Schwingungen zusammen. Nur ein Apparat wie das Telephon kann seine Frequenzen übertragen, weil jede Encodierung im Beamtenmedium Schrift mit einem Bewußtsein allemal auch Filter oder Zensuren dazwischenschalten würde.“ (1986, S.138)

Nur technische Apparate, die in der Lage sind, das Rauschen selbst zu speichern, und die wie das Gedächtnis der Natur alles aufzeichnen (vgl. 1986, S.121), was in ihr geschieht, ohne einen Unterschied zu machen, sind dem Unsinn des Unbewußten gewachsen: „Die absolute Treue des Phonographen ... sucht psychoanalytische Vertextungen wie ihr Grenzwert heim. Damit weist sie Freuds Methode, mündliche Redeflüsse auf unbewußte Signifikanten hin abzuhören und diese Signifikanten sodann als Buchstaben eines großen Rebus oder Silbenrätsels zu deuten,() als den letzten Versuch aus, noch unter Medienbedingungen eine Schrift zu statuieren.“ (1986, S.139) – Und: „Die Psychoanalytikerliebe zu Unsinnsreden hat eben kein schriftliches oder kryptographisches Pendant. Nur gedruckte Dichterwerke und keine unleserlichen Alltagshandschriften verlocken bekanntlich zur Deutung.“ (1986, S.142)

Deshalb schließen sich nach Kittler nicht nur Bewußtsein und Unbewußtsein, sondern auch „Bewußtsein und Gedächtnis“ gegenseitig aus: „In der Tiefe seiner Hirn-Engramme gehorcht der Apostel von Willensfreiheit unbewußten Diktaten.“ (1986, S.235; vgl. auch S.139)

So vergleicht Kittler das Unbewußte nicht mit der Seele, mit der er sich nicht mehr befassen will, und er stellt es auch nicht dem Bewußtsein gegenüber, sondern er setzt es mit dem umfassenden, ungefilterten, unpersönlichen „Maschinengedächtnis“ gleich. (Vgl. 1986, S.305) In dieses mündet die Evolution des „vergeßlichen Tieres“ namens ‚Mensch‘, in seltsamem Kurzschluß das Reale seines Körpers zerstückelnd und zerhackend und – ohne Umweg über das Bewußtsein – zugleich „im Schmerz“ zum allumfassenden Gedächtnis fügend.

Für dieses Unbewußte gibt es einen Spruch, der hier gerade wegen seiner Banalität paßt: „Wer alles sehen will, sieht nichts!“ – Unbewußt ist es also, weil sein Rauschen alles enthält und genau deshalb nichts? Unsinn ist es also, weil ungefilterter, alles umfassender Sinn in Unsinn umkippen muß? – Kittlers Ausführungen zum Unbewußten führen sich selbst ad absurdum.

Zwischen allen seinen ihre Subjekte und Prädikate leugnenden Sätzen klingt aber ein Echo mit, das nicht nur rauscht. Wenn Kittler von Protokollen spricht, in denen nicht das Gesagte, sondern das ungesagt Bleibende, nur versteckt in Form von Versprechern und verklausulierten Formulierungen Durchschimmernde das wirkliche Interessante und Wesentliche ist (vgl. 1986, S.133f.), so haben wir es hier mit einem Unbewußten zu tun, das ich gleichermaßen als ‚Seele‘ wie als ‚Lebenswelt‘ kennzeichnen möchte. Denn so wenig wir unsere Anwesenheit in der Realität restlos und spurenlos kontrollieren können, so wenig haben wir alle unsere Äußerungen im Griff. Nicht umsonst gibt es Lachen und Weinen und Scham.

In jeder individuellen Lebensäußerung, mit der wir uns anderen gegenüber aussetzen, schwingen deshalb Echos mit, die uns gegen unseren Willen kenntlich machen. Es sind Echos der Lebenswelt und zugleich unserer Seele. Die Lebenswelt ist deren Wurzel, ein unpersönliches, fremd bleibendes Fundament unserer Person. Echos im Hintergrund unseres persönlichen Denkens und Handelns klingen von drei solchen fremden Fundamenten herauf: von der biologischen und der kulturellen Phylogenese und von der individuellen Ontogenese. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010) Sie tönen in unserem Bewußtsein wider. Gäbe es diesen Resonanzraum nicht, wäre tatsächlich alles nur Rauschen.

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